Seelsorge und Interkulturalität

Zum Selbstverständnis der Konferenz der Aussiedlerseelsorge in der EKD (KASS)

Die Konferenz der Aussiedlerseelsorge in der EKD (KASS) ist für die koordinierte Zusammenarbeit der Gliedkirchen im Arbeitsfeld der Aussiedlerseelsorge sowie -arbeit zuständig. Sie informiert, konzipiert und vernetzt kirchliche Beauftragungen und Fachakteure. Außerdem hat sie einen Sitz im Beirat für Spätaussiedlerfragen und nationale Minderheiten der Bundesregierung und hält Kontakte zu Bundes- und Verwaltungsämtern wie etwa dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Landschaft in Russland mit Vollmond

Aussiedlerseelsorge und Aussiedlerarbeit

Die Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion bilden die größte Zuwanderergruppe in der EKD und diese Gruppe wird durch Familiengründung weiterwachsen. Deswegen ist der Kontext von Glaubensbildung sowie Kirchen- und Gemeindebindung ein wichtiger Beweggrund der Arbeit in der KASS.

Größte Gruppe der Eingewanderten

Fast 2,5 Millionen Gemeindemitglieder der EKD haben laut Zensus 2011 einen Migrationshintergrund. 70 Prozent von ihnen – also 1,7 Millionen – sind Spätaussiedler und Spätaussiedlerinnen (sogenannte Russlanddeutsche). Davon sind 666.000 Deutsche aus Kasachstan und 536.000 aus Russland. Gezählt wurden dabei nur diejenigen, die faktisch und persönlich übergesiedelt sind. Mit Kindern und Enkeln, die aus diesen Familien inzwischen hervorgegangen sind, zählt die Gruppe der Russlanddeutschen etwa 4,5 Millionen. 40 Prozent von ihnen gehörten 2011 einer evangelischen Landeskirche an. Die Gruppe der russlanddeutschen Aussiedler und Aussiedlerinnen ist damit auch die größte Gruppe von Eingewanderten in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg und z.B. größer als die türkischstämmige Bevölkerungsgruppe.

Kirchlich ergibt sich damit die Aufgabe, diese Gruppe nachhaltig interkulturell und nach ihren seelsorglichen und mentalitätsgeschichtlichen Eigenarten hin zu binden und sie auch in der nächsten Generation nicht zu verlieren. Mit den Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion sind zudem althergebrachte Frömmigkeitsstile nach Deutschland zurückgekehrt, aber auch Erfahrungen mit – auch religiöser – Unterdrückung und einem aggressiven Staatsatheismus. Ein besonderer Blick gehört dabei auch in den Bereich der Angst- und Stresssymptome bzw. Traumatisierungen aufgrund der Lebensgeschichten. Alle diese Erfahrungen gehören zum Erbe der reformatorischen Kirchen in den ehemaligen Ländern der Sowjetunion.

Potentiale erkennen

Dazu gehören auch Abbrüche und Neuanfänge. So haben nur wenige derjenigen, die kirchliche Ämter hatten, in der Bundesrepublik entsprechende Betätigungen gefunden. In geringer Zahl sind Brüder am Wort Prädikanten mit begrenztem Zuständigkeitsbereich geworden. Andere fanden als Küster*innen, Hausmeister*innen und Organist*innen in der Kirchenmusik oder im Bereich der Pflege in der Diakonie Arbeit, andere als Erzieher*innen in evangelischen Kindergärten. Auch wenn darüber hinaus viele Russlanddeutsche ins Ehrenamt und die meisten eine volkskirchliche Mitgliedschaft gefunden haben, so ist doch bisher vieles von den mitgebrachten, eigenständigen und innovativen Potentialen der Zugewanderten noch nicht erkannt oder in die kirchliche Gemeinschaft einbezogen worden. Dies zu verbessern und in der kirchlichen Wahrnehmung nachhaltig zu werden, daran arbeitet die KASS.

Symbolbild: Russische Landschaft im Regen

Vieles ist geglückt

Kirchliches Leben muss von den Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen gefunden werden. Grundsätzlich haben allen voran die gut 40 Prozent EKD-Mitglieder unter den Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen eine positive, wenn auch eher passive Beziehung zur Kirche und Gesellschaft erworben. Dabei zeigt sich, dass vieles beim kirchlichen Einleben geglückt ist, jedoch nicht für alle Generationen und Milieus gleichermaßen. Besondere Prägungen der Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen sind immer noch häufig unbekannt, weshalb auf viele Erwartungen oder theologische Positionen (beispielsweise Kreuzsegnungswünsche, Taufverständnis, Geselligkeitsformen, Bestattungskulturen) nicht selten missverständlich reagiert wird. Entstandene Fremdheit bedarf daher der Korrektur.

Die ausgesiedelten Schwestern und Brüder wollen sich einbringen. Doch die größte Gruppe, die seit 1945 in die Kirche eingewandert ist, wird in ihrem WIR-Gefühl noch immer zu wenig wahrgenommen; ein nachhaltiges Kennenlernen steht in Manchem noch aus. Dabei können aufgrund ihrer Erfahrungen gerade Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen gute Brückenbauer*innen in und auch für unsere Gesellschaft sein. Sie haben hier eine hohe Kompetenz sowohl geschichtlich mitbekommen als auch durch ihre eigenen Biographien der Einwanderung erworben und erfolgreich umgesetzt.

Interkulturalität ist gefragt

Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen sind zugewanderte Deutsche samt ihrer Angehörigen, doch teilen sie ihre Zuwanderungserfahrungen und vormaligen Erlebniskontexte in vielerlei Hinsicht mit anderen Migrant*innen. Deswegen müssen sich die Kirchen der EKD den eigenen Erfahrungswelten ihrer Glieder interkulturell öffnen und danach fragen, wie sie bei deren Findung kultureller Identität in einer neuen kirchlichen Umwelt behilflich sein können. Will diese Arbeit nachhaltig sein, muss sie sich planvoll aufstellen und sich über einen Zeitraum von mehreren Generationen erstrecken – so die Einsicht aus der Migrationswissenschaft.  

Zeitgenössische Mischkultur

Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen machen die EKD modern. Vor allem die russlanddeutsche Community ist ein Paradebeispiel zeitgenössischer Mischkultur, die tiefe Wurzeln in der Geschichte hat, sich aber jetzt neu aufstellt. Dabei lohnt es sich, von deren Selbstbildern her zu denken. Die Kirchen der EKD können lernen, wie Russlanddeutsche ihre zugleich sowjetisch-russische und deutsche Prägung verschieden beurteilen. Manche erleben ihre doppelte Verwurzelung selbstbewusst als Bereicherung, andere als Makel. Wieder andere verfallen in einen Ethnokonfessionalismus und übertragen den religiösen Erweckungsgedanken auf das ethnische Selbstbild. Ein weiteres Muster der eigenen Verortung findet sich schließlich vor allem in ethnisch gemischten Familien wieder: Man trägt das Selbstbild des Sowjetmenschen in sich und versucht über Konzepte wie Völkerfreundschaft den multikulturellen Anschluss zu finden.

Symbolbild: Landschaft im Nebel

Schätze des Lebens und des Glaubens

Wer kirchlich mit Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen arbeitet, wird sich wundern, was für Unterschiede zur sogenannten Mehrheitskultur in den Kirchen herrschen. Auch den Erfahrungs- und Lebensschatz, der für die Begleitung aktueller Einwanderung nach Deutschland von hohem Nutzen ist, muss man hervorheben. Die EKD verfügt mit ihrer Aussiedlerarbeit über ein detailliertes Wissen darüber, wie eine verlässliche und sensible, katechetische und seelsorgerliche Arbeit in diesem Handlungsfeld zu Kirchenverbundenheit und Glaubensbindung führt.

Die EKD als Migrationskirche

Die Evangelische Kirche ist nach ihrem Selbstverständnis Kirche für alle. Ihre Glieder bedürfen auch durch Querschnittsarbeit einer pastoralen und milieu- sowie generationsübergreifender Unterstützung und Bestärkung, damit sie ihre eigene religiös-kulturelle Identität finden. Auch Zugewanderte sollten sich angemessen innerhalb der einen christlichen Kirche profilieren und damit den ganzen Leib Christi bereichern dürfen. Die EKD nimmt mit der Aussiedlerseelsorge die Aufgabe wahr, gegen eine Vernachlässigung der nachhaltigen Bedürfnisse ihrer zugewanderten Glieder zu arbeiten.

Die Seelsorge für Aussiedler*innen und Spätaussiedler*innen in der EKD bildet eine Basis integrativer, gesellschaftsfördernder und kirchlicher Arbeit nach modernen migrationswissenschaftlichen und seelsorglichen Maßstäben. Empfundener Bindungslosigkeit, Verunsicherungen, Ängsten, Traumata begegnet sie konzeptionell. Sie bündelt multiplikatorische Kräfte, bezieht diejenigen, denen die Arbeit gilt, mit ein und fördert deren Selbständigkeit in kirchlichen Belangen.

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