Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft

4 Handlungsoptionen in Politik und Gesellschaft

4.1  Die Verantwortung der Politik

(73) Wesentliche Kompetenzen in der Agrarpolitik liegen bei der Europäischen Union. Auch im Verbraucherschutz entwickelt sich die EU über den Grundsatz des fairen Warenverkehrs immer mehr zur zentralen Entscheidungsinstanz. Probleme bereiten dabei die ungleichen Auflagen im Bereich des Umwelt- und Tierschutzes sowie die wettbewerbsbedingte Orientierung auf Ertrags- und Leistungssteigerungen. Die EU muss dafür Sorge tragen, dass die Leistungs- und Wettbewerbsorientierung im gemeinsamen Markt unter Rahmenbedingungen stattfindet, die einheitliche Mindeststandards im Bereich des Verbraucher-, Umwelt- und Tierschutzes definieren und in festgelegten Ausnahmebereichen Subventionen zulassen. Künftig sollten stärker Qualitätswünsche der Verbraucher sowie die Erschließung umweltschonender Produktbereiche und Produktionsverfahren im Vordergrund stehen.

(74) Der Grundgedanke der Reformen der europäischen Agrarpolitik von 1992 (MacSharry Reform) und 1999 (Agenda 2000), die Subventionierung über Garantiepreise abzubauen und durch Direktzahlungen an die Landwirte zu kompensieren, ist auch aus kirchlicher Sicht unterstützenswert. Heute sind 65 % der EU-Agrarsubventionen Direktzahlungen an die Landwirte. Langfristig sind diese nur zu rechtfertigen, wenn noch deutlicher Umweltschutzleistungen und soziale Gesichtspunkte damit verknüpft werden. Eine Umorientierung der Landwirtschaftspolitik – von Garantiepreisen zu Direktzahlungen – wurde zwar eingeleitet, steht aber noch in den Anfängen. Sie sollte noch weit stärker der Multifunktionalität der Landwirtschaft und der ländlichen Räume Rechnung tragen. In der Weiterentwicklung der Agenda 2000 ist eine Umschichtung der EU-Mittel aus dem Bereich der produktionsbezogenen Stützung in ländliche Entwicklung und Umwelt sowie eine Verknüpfung von Ausgleichszahlungen mit ökologischen und sozialen Auflagen vorrangig.

(75) Gemäß dem bewährten Prinzip der Subsidiarität sollte sich auch die Landwirtschaftspolitik möglichst strikt auf Rahmengesetzgebung beschränken und Marktinterventionen weitgehend vermeiden. Demgegenüber sollte der Aktivierung und Qualifizierung der Regionen viel stärkeres Gewicht als bisher eingeräumt werden. Den Regionen und ihrer ökonomisch tragfähigen, sozial ausgewogenen und ökologisch verträglichen Entwicklung kommt bei der Realisierung der Agrarpolitik eine steigende Bedeutung zu. Regionale Erzeuger- und Verbrauchergemeinschaften erhöhen die Transparenz im Nahrungsmittelbereich, bieten zusätzliche Erwerbschancen und tragen so zur Wertschöpfung im ländlichen Raum bei. Die Öffnung der Landwirtschaft für Einkommenskombinationen und für das Erbringen von Dienstleistungen eröffnet ihr neue Chancen für die Schaffung moderner, ökologisch günstiger Strukturen im ländlichen Raum.

(76) Wettbewerb und Markt sind in freiheitlichen Systemen ohne Alternative. Sie bedürfen aber einer politischen Rahmenordnung, deren Leitziel es ist, dass möglichst alle Kosten in den Preisen enthalten sind, auch und vor allem die des nachhaltigen Ressourcenschutzes. Die Qualität der natürlichen Ressourcen ist ein knapper werdendes Gut, das durch entsprechende Preise und Steuern in der Systemlogik der Marktwirtschaft zur Geltung gebracht werden muss. Deshalb entspricht dem Leitbild der Nachhaltigkeit auf der ordnungspolitischen Ebene eine an ökologischen und sozialen Kriterien orientierte Marktwirtschaft. Diese verbindet die Dynamik des Marktes mit sozialer Fairness und wirksamen Mitteln zum Schutz der Umwelt. Bisher wird die Umwelt weitgehend als freies Gut definiert. Deshalb fehlt es an finanziellen Anreizen für ihren Schutz; dies leistet der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Vorschub. Ein marktwirtschaftliches System ohne ökologische Komponente führt zur Zerstörung der Lebensgrundlagen. Die Halbzeitbilanz der Agenda 2000 enthält Vorschläge zur Förderung von Umweltqualitätssicherungsprogrammen, Biolandbau und Zertifizierungssystemen.

(77) Zum System einer an ökologischen und sozialen Kriterien orientierten Marktwirtschaft gehören verlässliche Rahmenbedingungen, die dem einzelnen Landwirt bei wesentlichen Entscheidungen, etwa einer Hofübernahme, der Investition in Stallbauten, Maschinen usw. langfristig berechenbare Grundlagen geben. Da Landwirte Unternehmer sind, kann die Politik ihnen nicht alle Risiken abnehmen. Um Anpassungsprozesse zu ermöglichen, sollten die notwendigen Änderungen der Agrarpolitik jedoch rechtzeitig angekündigt und schrittweise umgesetzt werden. Im Rahmen einer an ökologischen und sozialen Kriterien orientierten Marktwirtschaft hat die Agrarpolitik den Zielen des Umwelt- und Naturschutzes, der Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen Lebensmitteln, dem Erhalt einer hinreichenden Besiedlungsdichte in ländlichen Räumen und der sozialen Abfederung des weitergehenden Strukturwandels in der Landwirtschaft zu dienen. Dazu sind weltweit im europäischen und nationalen Rahmen folgende Zielsetzungen wichtig:

  1. Abbau der Marktordnungskosten,

  2. Abbau der Produktionsüberschüsse,

  3. Harmonisierung und Kontrolle ökologischer und sozialer Mindeststandards,

  4. Befreiung der Marktordnung von Fehlanreizen,

  5. Verbraucherschutz durch Markttransparenz,

  6. Tierschutz und

  7. Integration von Landwirtschaft und Naturschutz.

Im Einzelnen bedeutet dies:

(78) 1. Zum Abbau der Marktordnungskosten: In der laufenden WTO-Verhandlungsrunde sollen interne Unterstützungsniveaus und Agrarexportsubventionen abgebaut und die Beschränkung des Marktzugangs ausländischer Anbieter aufgehoben werden. Daraus folgt: Subventionen bleiben nur dann unangefochten, wenn sie entweder von der Produktion abgekoppelte Zahlungen mit Verpflichtung zur Produktionsbegrenzung sind (sog. „Blaue Box“) oder nachweislich allgemeine Leistungen an den gesamten Agrarsektor darstellen, wie z. B. Forschung, Ausbildung, Beratung, Agrarumwelt, Nothilfemaßnahmen, Agrarstrukturverbesserungen oder Krankheitsbekämpfung (sog. „Grüne Box“). Alle anderen Formen der Unterstützung für die Landwirtschaft müssen abgebaut werden. In der jetzigen Verhandlungsrunde bei der WTO, die im Jahre 2005 mit einem umfassenden Vertrag über viele Bereiche enden soll, muss mit einer weiteren Reduktionsverpflichtung mindestens in der Größenordnung der vorherigen Runde (20 – 30 %) gerechnet werden. Außerdem könnte es zu einer Subventionsobergrenze kommen, die als Quote der landwirtschaftlichen Wertschöpfung eines Landes bestimmt würde. Und weil die „Blaue Box“ der WTO-Logik eigentlich massiv widerspricht, ist sie besonders umstritten und in den jetzigen Verhandlungen wahrscheinlich nicht zu retten.

(79) Die EU ist das einzige Gebiet auf der Welt, das noch Blaue-Box-Programme aufgelegt hat. Aufgrund der voraussichtlichen WTO-Verhandlungsergebnisse geht es also darum, diese Mittel auf die Maßnahmen der „Grünen Box“ umzustrukturieren, d. h. weg von den Prämienzahlungen auf Hektar und Tiere und hin zu den Programmen, die die Agenda 2000 der EU-Agrarpolitik als „Zweite Säule“ beschreibt. Einen möglichen Ausweg bietet für die EU auch eine dezidiert sozialverträgliche oder ökologische Ausgestaltung der Subventionen. Sozialverträglichkeit ließe sich etwa dadurch herstellen, dass die Höhe der Subventionen mit zunehmender Betriebsgröße sinken oder dass sie an eine bestimmte Mindestzahl von Beschäftigten gebunden werden. Ihre Umstellung auf ökologisch sinnvolle Leistungen sowie auf die Erschließung neuer marktfähiger Produkte, Produktionsverfahren und Dienstleistungen für den Binnen- bzw. Regionalabsatz wäre ein weiterer Weg aus den WTO-Zwängen.

(80) Angesichts der Asymmetrie zwischen dem riesigen Ausmaß, in dem die Industrieländer ihre Landwirtschaft auf die eine oder andere Art subventionieren und schützen, und der fehlenden Unterstützung in Entwicklungsländern, sind jedoch auch diese Umwidmungsmaßnahmen entwicklungspolitisch fragwürdig. Während vielleicht jede einzelne Maßnahme der „Grünen Box“, für sich allein betrachtet, noch handelsneutral sein mag, ist es die Gesamtwirkung der Unterstützung der Landwirtschaft in den Industrieländern durch die „Grüne Box“ nicht mehr: Die Preise, zu denen die Entwicklungsländer ihre Produkte anbieten können, werden so strukturell unterboten. Eine weitere Umschichtung ist nur dann mit internationaler Gerechtigkeit zu vereinbaren, wenn es eine Obergrenze für die Gesamtausgaben aus den Mitteln der neuen „Blauen Box“ und der „Grünen Box“ gäbe und wenn deren Auswirkungen auf das Preisgefüge im internationalen Handel durch andere Maßnahmen neutralisiert würden.

(81) 2. Zum Abbau der Produktionsüberschüsse: Im Sinne internationaler Gerechtigkeit ist es ethisch nicht länger vertretbar, Produktionsüberschüsse in der EU zu subventionieren. Deshalb sind Exporterstattungen abzuschaffen und produktbezogene Ausgleichszahlungen zugunsten handelsneutraler Strukturhilfen für die Landwirtschaft abzubauen. Darüber hinaus sind weitere Einschränkungen in der Produktionsmenge erforderlich, um den Entwicklungsländern und den EU-Beitrittskandidaten Marktchancen zu geben. Wichtigster Beitrag zum Abbau der Überschüsse sind die Reform der produktgebundenen Tier- und Flächenprämien und die Einführung ökologischer Standards.

(82) 3. Zur Harmonisierung und Kontrolle ökologischer und sozialer Mindeststandards: Die Standards für Artgerechtigkeit, Umweltschutz, Gesundheitsverträglichkeit und Transparenz über die sozialen Produktionsverhältnisse müssen bei uns und im internationalen Handel in einer nichtdiskriminierenden Weise weiterentwickelt werden. Dabei sollten die verschiedenen Instrumente gut miteinander abgewogen werden: ordnungspolitischer Mindestrahmen, Schutz privater Siegel, Kennzeichnungsregeln für Verbrauchertransparenz und staatliche Anreize für freiwillige weitergehende Verpflichtungen.

(83) In Deutschland sind vorrangig Positivlisten für erlaubte Futtermittel, ein Verbot von Antibiotika als Leistungsförderer sowie eine Verschärfung der Sanktionen bei Verstößen gegen diese gesetzlichen Regelungen einzuführen. Höhere Produktions- und Produktstandards dürfen nicht zu technischen Handelshemmnissen werden, sondern sind so auszugestalten, dass sie sowohl den Marktzugang von Produkten aus Entwicklungsländern ermöglichen als auch einen Beitrag dazu liefern, die Schutzanliegen in Industriestaaten auch in Entwicklungsländern zu verwirklichen. Sie sollten

  • multilateral verhandelt werden,

  • Prinzipien, nicht Techniken regeln,

  • gegenseitige Anerkennung von äquivalenten Standards zulassen,

  • mit technischer und finanzieller Hilfe für arme Länder einhergehen,

  • mit Anreizen (im internationalen Handel) ausgestaltet werden und

  • die unterschiedlichen natürlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse berücksichtigen.


(84) 4. Zur Befreiung der Marktordnungen von Fehlanreizen: Eine degressive Staffelung der Flächenprämien und teilweise Bindung an Arbeitskräfte könnte die überproportionale Bevorzugung von flächen- und kapitalintensiven Marktfruchtbetrieben in der bisherigen Subventionspolitik eingrenzen. Statt der hohen Silomais- Prämien sollten differenzierte Flächenprämien eine Chancengleichheit für Grünland, Kleegras, Eiweiß- und Ölpflanzen fördern. Flächengebundene und kulturbezogene Subventionen, besonders die relative Bevorzugung des Getreidesektors bei den EU-Agrarsubventionen (36 % des Agrarhaushalts), müssten einer gründlichen Prüfung unterzogen werden. Die Umschichtung der Mittel zugunsten einer stärkeren Förderung der ländlichen Entwicklung hätte unter anderem den Vorteil, dass dort mehr Arbeitsplätze erhalten bzw. geschaffen würden. Regelungen, die die qualifizierte und informierte unternehmerische Eigenständigkeit der Landwirte behindern und einen hohen oder schwer durchschaubaren Verwaltungsaufwand erfordern, sind zu vermeiden.

(85) 5. Zum Verbraucherschutz durch Markttransparenz: Eine klare Deklarationspflicht hinsichtlich der Inhalts-, Zusatz- und Konservierungsstoffe sowie der Produktionshilfsmittel ist auf nationaler, europäischer und globaler Ebene zu etablieren. Dies umfasst z. B. genetische Veränderungen oder Lebensmittelzusätze zur Konservierung. Zur Orientierung der Verbraucherinnen und Verbraucher sind hierzu einheitliche, klar erkennbare Kennzeichen, für die eindeutig definierte Kriterien stehen, notwendig. Das System der Kennzeichnung muss mit dem Ausbau der Rückverfolgbarkeit und Gewährleistung einhergehen. Durch die Gründung des Bundesamtes für Verbraucherschutz und der europäischen Behörde für Verbraucherschutz sind hier wichtige institutionelle Voraussetzungen geschaffen, um die notwendigen Reformen voranzutreiben.

(86) 6. Zum Tierschutz: Zu den dringlichsten Maßnahmen gehören die Förderung einer artgerechten und flächengebundenen Tierhaltung sowie die Verschärfung der Tiertransportbedingungen. Es kommt darauf an, durch gezielte Förderung und Beratung, aber auch durch entsprechende gesetzliche Regelungen die EU-Tierhaltungsrichtlinien zeitnah umzusetzen, um so den Anforderungen einer artgerechten Tierhaltung gerecht zu werden. Vorbildliches haben hier z. B. Schweden und die Schweiz geleistet. Ähnliches wäre auch für Deutschland angemessen. Der notwendige Hinweis auf EG-einheitliche Regelungen darf nicht dazu führen, in einzelnen Ländern energische Schritte auf dieses Ziel zu unterlassen.

(87) 7. Zur Integration von Landwirtschaft und Naturschutz: Die in der Landwirtschaft Tätigen produzieren nicht nur Nahrungsmittel, sondern sie erbringen auch grundlegende Leistungen in der Landschaftspflege sowie des aktiven und passiven Schutzes der Trinkwasserqualität, der Bodenfruchtbarkeit, der Luftreinheit und der Lebensräume für Flora und Fauna. Dies sollte entsprechend ideell, strukturell und finanziell gefördert werden. Insgesamt sollten Betriebe, deren Flächen Nutzungsbeschränkungen unterliegen, beispielsweise in Wasserschutzgebieten, mehr Ausgleichszahlungen erhalten. Direkte staatliche Einkommensübertragungen sind ein angemessenes Entgelt für die freiwillige Reduktion der Produktion durch Extensivierung, für die Pflege der Landschaft und für Leistungen im Bereich des Umweltschutzes. Zur Finanzierung der Flächenumwidmungen für Naturschutzzwecke sind die unteren Entscheidungsebenen im Rahmen eines Finanzausgleichssystems mit Schüsselzuweisungen unter Eigenbeteiligung auszustatten, über deren Verwendung sie in eigener Verantwortung entscheiden können.

(88) Es gibt inzwischen verschiedene Programme von Bundesländern, die auf eine Integration von landwirtschaftlicher Nutzung und Naturschutz zielen (Ackerrandstreifen-, Gewässerrandstreifen-, Feuchtwiesen-, Ackerwildkräuter- und Wiesenbrüterprogramme). Wichtige Kriterien hierbei sind u. a. umweltschonende Ausbringung oder Verzicht auf Dünge- und Pflanzenschutzmittel und Mahd der Wiesen erst nach der Brutzeit der Vögel.

(89) Die Extensivierung in Verbindung mit einer bodengebundenen Tierhaltung und differenzierten Agrarstruktur ist für die langfristige Erhaltung der Gesundheit unserer Böden, zur Sicherung unserer Wasservorkommen sowie insbesondere zur Vermeidung der Überschussproduktion von großer Bedeutung. Das Maß der Düngung sollte angepasst werden an den Bedarf der Pflanzen, damit Bodeneinträge vermieden werden. Der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln sollte europaweit so reduziert werden, dass irreversible Umweltschäden ausgeschlossen sind. Die Einführung ökologischer Kriterien bei Prämien und Subventionen, die gezielte Förderung extensiver Bewirtschaftung, die Stärkung regionaler Verbraucherzentralen und Selbstvermarktungsinitiativen sowie möglichst einheitliche steuerliche Regelungen, die den Verbrauch von fossilen Energien verteuern und den Gebrauch regenerierbarer Rohstoffe fördern, sind unverzichtbare Elemente einer Integration von Landwirtschaft und Naturschutz.

4.2 Perspektiven für eine multifunktionale Landwirtschaft und eine nachhaltige Entwicklung der ländlichen Räume

(90) Die Überwindung der Landwirtschaftskrise braucht neue Visionen für die ländliche Entwicklung und die Rolle der in der Landwirtschaft Tätigen. Denn zu einer allgemeinen Entlastung des angespannten Agrarmarktes kann es erst kommen, wenn es der Landwirtschaft gelingt, in größerem Maßstab als wettbewerbsfähiger Anbieter für neue Produkte und Dienstleistungen tätig zu werden. Die Aufgabe besteht darin, die Vielfalt der Funktionen des ländlichen Raums stärker wirtschaftlich nutzbar zu machen. Gefragt ist ein neues Selbstverständnis des landwirtschaftlichen Berufes.

(91) Es gibt viele ermutigende Beispiele für neue Möglichkeiten einer Landwirtschaft, die ökologisch verträglich ist, ihre sozialen Aufgaben erfüllt und sich wirtschaftlich rechnet. Neue Perspektiven ergeben sich dabei in der Verbindung von Landwirtschaft und Naturschutz vor allem in folgenden Bereichen: umweltgerechte landwirtschaftliche Produktionsverfahren, insbesondere im Blick auf Gewässerschutz und biologische Schädlingsbekämpfung sowie integrierte Flächennutzung, die landwirtschaftlichen Anbau, Wasserwirtschaft und Biotop- und Landschaftspflege zusammenführt. Nur wenn eine Synergie zwischen den verschiedenen Neuansätzen im Rahmen eines integrierten Gesamtkonzeptes gelingt, können diese über die Bedeutung von Nischen hinausgelangen.

(92) Einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der ländlichen Regionen als Wirtschafts- und Kulturraum kann der Ausbau des ökologischen Landbaus liefern. Er hat eine Schrittmacherfunktion bei der Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft. Einige Wasserversorgungsunternehmen fördern den ökologischen Landbau in ihren Wassereinzugsgebieten. Das Nachfragepotential für ökologischen Landbau wird unterschiedlich eingeschätzt, erscheint aber bei einer entsprechenden Bündelung der Kräfte deutlich ausbaufähig. Was den konventionellen Landbau betrifft, so ist anzustreben, dass er nach und nach die Kriterien des EU- Biosiegels erfüllt. Allerdings ist darauf zu achten, dass ein Verdrängungswettbewerb zwischen der nach EU-Kriterien biologisch arbeitenden Landwirtschaft und der „vollen“ verbandsgebundenen ökologischen Landwirtschaft vermieden wird.

(93) Der eingeschlagene Weg von der reinen Nahrungsmittelproduktion zur Vermarktung von Gütern und Dienstleistungen mit höherer Wertschöpfung sollte fortgesetzt werden. Schon bald könnten beispielsweise der Anbau und die Verarbeitung nachwachsender Rohstoffe und Biomasse für die Energiegewinnung (z. B. Raps, schnellwachsende „Energiewälder“, Bereitstellung von Stroh für die Verbrennung, Biogasanlagen) zu einer neuen zusätzlichen Verdienstquelle werden und den in der Landwirtschaft Tätigen als „Energiewirte“ zusätzliche berufliche Perspektiven erschließen. Dies setzt jedoch entsprechende politische Entscheidungen voraus, wie beispielsweise im Jahr 2000 das „Erneuerbare Energien Gesetz“ (EEG).
 
(94) Auch die Erschließung von Marktnischen wie Fischzucht, Damwildhaltung, Produktion von Arznei- und Gewürzpflanzen kann einzelnen hier und da eine neue Existenzbasis geben. Die Innovationspotentiale dieser Bereiche sollten nicht unterschätzt werden. Ihre Attraktivität könnte durch eine Professionalisierung der Direktvermarktung landwirtschaftlicher Produkte auf regionaler Ebene wesentlich gesteigert werden.

(95) Die ökologische Bewertung und Verarbeitung von Bioabfällen steht erst am Anfang. Hier schlummern noch große Möglichkeiten. Derzeit werden lediglich 20 % der in Deutschland anfallenden Komposte in Gartenbau oder Landwirtschaft verwendet. Oft kann der Abfall zum wertvollen Rohstoff werden. Voraussetzung dafür sind strenge Maßstäbe hinsichtlich der Schadstoffbelastung für die unterschiedlichen Verwertungen. In den letzten Jahren gewinnt die Vergärung, bei der die Bioabfallverwertung mit einer Energieerzeugung gekoppelt wird, zunehmende Bedeutung. Besonders die Mitvergärung von Abfällen in Güllefermenten der Landwirtschaft spielt eine wichtige Rolle. Für die Verwendung von Grünguthäcksel auf erosionsgefährdeten Böden sowie für die Sanierung von degradierten Niedermooren durch Anbau von Schilf gibt es gelungene Beispiele.

(96) Neben den genannten Perspektiven für eine multifunktionale Landwirtschaft durch neue Wege in den umweltschonenden und artgerechten Produktionsformen gesunder Lebensmittel, in der Landschaftspflege und in der Energieerzeugung bieten sich viele attraktive Dienstleistungen als zusätzliche Verdienstquelle für die Landwirtschaft an. So wird beispielsweise der sanfte Tourismus und der Ausbau von Angeboten der Naherholung auf breiter Basis gut angenommen. Die deutschlandweiten Angebote „Ferien auf dem Bauernhof“ sind für einige eine wichtige Möglichkeit des Zuverdienstes. Auch therapeutische und pädagogische Konzepte zur Mitarbeit in der Landwirtschaft und des Umgangs mit Tieren im Rahmen von Rehabilitationsmaßnahmen bieten zukunftsfähige Perspektiven und sollten entsprechend fachlich und finanziell unterstützt werden.

(97) Gemäß den unterschiedlichen wirtschaftlichen, sozialen, topographischen, geschichtlichen, klimatischen und kulturellen Voraussetzungen ist das agrarkulturelle Leitbild der Zukunft eine bunte Vielfalt kleinerer und größerer Betriebseinheiten in verschiedenen Vollzeit- und Teilzeitformen, regional spezifischen Wertschöpfungsanteilen am Endprodukt sowie vor- und nachgelagerten Dienstleistungen in vielschichtigen Einkommenskombinationen.

(98) In der Landwirtschaft tätig zu sein beinhaltet auch die Pflege der Schöpfung als Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen, eine Lebensweise im Rhythmus der Natur, eine Kultur von naturnahen Traditionen und Werten. Die Landwirte sind wichtige Kulturträger, sie erschließen die ländlichen Regionen als Heimat, schaffen Zugang zu einem Leben mit der Natur im Rhythmus der Jahreszeiten und sind grundlegend für die Pflege des dörflichen Lebens. Diese Leistungen können auf Dauer jedoch nur dann sichergestellt werden, wenn sie im Rahmen einer Gesamtkonzeption für die Entwicklung der ländlichen Räume eine angemessene Förderung erhalten.

(99) Entscheidend für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der ländlichen Räume ist die Erhaltung und Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten. Das betrifft über Land- und Forstwirtschaft hinaus und zusammen mit ihnen vor allem Gastronomie, Tourismus, Lebensmittelverarbeitung und ﷓verteilung, Handwerk, Dienstleitungen (Transport, Post, Bank, Apotheke etc.), Einrichtungen der Bildung und Weiterbildung, der Altenpflege und der Kindererziehung. Für alle wäre der Niedergang der dörflichen Gemeinschaften und ihrer Kultur ein schwerer Verlust. Um dies zu vermeiden, sollten eine eigene Infrastruktur in Verwaltung und Verkehr, Einkaufsmöglichkeiten, Arbeitsplätze und kulturelle Angebote und nicht zuletzt kleinere Schulen und Kindergärten auf dem Land erhalten bleiben.

(100) Ein breit angelegtes staatliches Bildungs- und Ausbildungsangebot in den ländlichen, in der Regel strukturschwachen Regionen ist ein wichtiger Faktor der staatlichen Förderung. Eine zukunftsfähige Strukturpolitik im ländlichen Raum umfasst die Förderung dort angesiedelter Arbeitsplätze, schulische Versorgung bis hin zu Fachhochschulen auf dem Land und einen Ausbau der Weiterbildungsmöglichkeiten und Angebote der Umschulung, attraktive kulturelle Angebote, Verkehrserschließung auch in die Fläche und nicht nur auf den Hauptverkehrswegen in Deutschland. Notwendig ist eine neue politische Gesamtkonzeption zur Verbesserung des Arbeitsplatzangebotes in ländlichen Räumen. Dafür müssten insbesondere die steuerlichen Nachteile für kleine und mittlere Unternehmen abgebaut werden. Moderne Kommunikationsmittel ermöglichen Dezentralisierung und sind damit eine Chance für die ländlichen Räume.

(101) In den letzten Jahren sind ermutigende Beispiele kommunalen Engagements zur Erhaltung und Sicherung einer heimischen naturverträglichen Landwirtschaft entstanden, z. B. Umsetzung von Landschaftsplänen, intensive Beratung zur Erzeugung und Vermarktung regionaler Spezialitäten, Aufbau von Bauernmärkten, regionaler Bezug von Lebensmitteln für kommunale Einrichtungen, Ausstattung der Höfe mit pflanzenölgetriebenen Fahrzeugen, Vergabe von Landschaftspflegearbeiten, Übertragung der Entsorgung organischer Abfälle, Prämien für ökologischen Landbau bzw. flächendeckenden Gewässerschutz. Wir ermuntern evangelische und katholische Gemeinden und andere kirchliche Einrichtungen, solche und ähnliche Initiativen vor Ort nach Kräften zu unterstützen.

4.3  Verbraucherverantwortung und Lebensstilwandel

(102) Der Anteil von Nahrungsmitteln am Budget eines privaten Haushalts ist in Deutschland während der letzten Jahrzehnte kontinuierlich zurückgegangen. Er beträgt heute etwa durchschnittlich 12,8 %. So erfreulich die damit verbundene finanzielle Entlastung ist, so geht doch der Wettbewerbsdruck, der für die Landwirtschaft mit der Preissenkung verbunden ist, häufig auf Kosten der Qualität und der Handlungsspielräume für eine ökologisch tragfähige Erzeugung. Gute hochwertige Lebensmittel sind nicht zu Ramschpreisen zu haben. Eine Neuorientierung der Landwirtschaft wird erst gelingen, wenn sich der Wettbewerb nicht mehr vorrangig auf die Frage konzentriert, wer die billigste Ware hat, sondern wer den Verbraucherinnen und Verbrauchern eine optimale Verbindung von hoher Produktqualität, großer Auswahl, günstigen Preisen und guter Erreichbarkeit vor Ort anbietet. Dieses Ziel sollte durch Zertifizierung von Produkten wesentlich befördert werden.

(103) Eine zentrale Voraussetzung für mehr Produktverantwortung der Verbraucher ist die Information. Dafür ist die Durchsetzung einer klaren und einheitlichen Kennzeichnung im Blick auf die Qualität und Herkunft von Nahrungsmitteln von vorrangiger Bedeutung, um im Alltag eine echte Wahl zu ermöglichen. Das neue einheitliche EU-Ökosiegel für Lebensmittel bietet dafür eine gute Basis, um vielen Verbrauchern beim täglichen Einkauf auch in den großen Handelsketten deutlich zu machen, dass sie es letztlich sind, die entscheiden, wie die Lebensmittel in Deutschland und anderswo produziert werden. Das EU-Ökosiegel hilft dem Verbraucher, die damit gekennzeichneten Produkte von den konventionell erzeugten abzugrenzen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass im Verhältnis zu den bereits eingeführten Bio-Siegeln Abgrenzungsschwierigkeiten und damit Verwirrung bei den Verbrauchern auftreten. Deshalb ist noch zu prüfen, welche Auswirkungen die Einführung des EU-Gütesiegels auf den nach strengeren Kriterien wirtschaftenden verbandgebundenen ökologischen Landbau hat.

(104) Landwirtschaft und Handel sollten verstärkt aus der Sicht von Kunden denken und in enger Kooperation direkte Verbindung mit ihnen aufnehmen. Aber auch die Verbraucher müssen wissen, dass sie nur im näheren Kontakt mit den in der Landwirtschaft Tätigen die Qualität ihrer Lebensmittel bereits beim Einkaufen besser wahrnehmen und mehr Einfluss auf die Qualität ausüben können. Letztlich entscheiden die Verbraucher selbst über die Qualität ihrer Lebensmittel. Sie müssen bereit sein, ihr Konsumverhalten zu verändern.

(105) Immer größere Verarbeitungs- und Verteilungsstrukturen für Lebensmittel haben zu einer Kluft zwischen den in der Landwirtschaft Tätigen und Verbrauchern geführt. Viele junge Menschen haben nur noch sehr ungenaue Vorstellungen davon, wo Milch, Brot, Fleisch, Eier, Honig, Gemüse und Obst herkommen und wie diese Lebensmittel erzeugt werden. Um diese Entfremdung zu überwinden und die Verbindung der in der Landwirtschaft Tätigen zu ihren Kunden und damit auch deren Kenntnis von der Herkunft ihrer Lebensmittel zu verbessern, hat es in den letzten Jahren viele Initiativen gegeben: Direktvermarktung auf dem Bauernhof, Bauernmärkte, Regionalkonzepte für die Versorgung von Großverbrauchern wie Behördenkantinen, Krankenhäusern, Altersheimen, die Initiative „offene Stalltür“ und anderes mehr.

(106) Aufgrund der Produktdifferenzierung und ähnlicher Zielgruppen lässt sich die Vermarktung regionaler Produkte oft gut mit dem Angebot fair gehandelter Waren verbinden. Entscheidend ist jedoch, in beiden Bereichen von den Nischen in die Supermärkte vorzudringen, in denen 80 % der Lebensmittel gekauft werden. Dafür gibt es mit Hilfe von Gütesiegeln gute Chancen.

(107) Wer ein Stück Fleisch vakuumverpackt erwirbt, den gesamten Herstellungs- und mehrstufigen Verteilungsprozess nicht überschauen kann und in der Einschätzung handelt, dass der Anteil der Verkaufserlöse der landwirtschaftlichen Erzeugung an dem gesamten Verkaufspreis einen minimalen Prozentsatz ausmacht, der wird immer bestrebt sein, möglichst viel zu möglichst geringen Preisen zu erhalten. Wer jedoch den Produktions- und Verkaufsprozess mit wenigen Stufen überschauen und die Qualität selbst beurteilen kann und nicht allein auf die Versprechungen der Verpackung angewiesen ist, der wird eher bereit sein, einen guten Preis zu entrichten. Die Wiederherstellung eines Höchstmaßes an Überschaubarkeit und unmittelbarer Wahrnehmung der Lebensmittel und ihrer Herkunft für den Endverbraucher wird bei ihm die Einsicht wecken, dass gute Qualität einen angemessenen Preis verlangt. Zu einer solchen Verbesserung der Informationen kann der Handel wesentlich beitragen.

(108) Ohne eine Lebensstiländerung, die Genügsamkeit, Maßhalten und die Weisheit des „weniger ist mehr“ entdeckt, wird eine dauerhafte Überwindung der Landwirtschaftskrise nicht gelingen. Nötig ist nicht nur Verbraucherschutz, sondern auch Verbraucherverantwortung, also eine aktive Mitgestaltung der landwirtschaftlichen Zukunft, indem der Einkaufskorb als „Stimmzettel“ genutzt und ökologisch tragfähige Produkte, Vermarktungsmethoden und Zubereitungen für Lebensmittel unterstützt werden. Verbraucherverhalten ist millionenfache Abstimmung mit der Einkaufstasche.
 
4.4 Der Beitrag der Kirchen

(109) Neben grundsätzlichen politischen Stellungnahmen der Kirchen sowie der persönlichen Bereitschaft vieler Christinnen und Christen zum Wandel ihrer Konsummuster im Umgang mit Lebensmitteln ist auch das konkrete institutionelle Engagement der Kirchen für eine nachhaltige Landwirtschaft ein wichtiges Zeugnis für den Schöpfungsglauben. Dabei sind folgende Handlungsfelder von vorrangiger Bedeutung: die Kirchen als Foren des Dialogs, Bildung und Beratung, Interessenvertretung, Hilfsdienste, eigene Praxis, Ermutigung in Seelsorge und Liturgie.

(110) Zur Bewältigung der tiefen Orientierungskrise der Landwirtschaft bedarf es vor allem verstärkter Angebote der Information und Diskussion. In vielen Gesprächsforen suchen die Kirchen ihren Teil der Mitverantwortung zu tragen. Insbesondere die kirchlichen Landvolkverbände und die kirchlichen Dienste auf dem Lande, die Landjugendbewegung sowie die kirchlichen Landvolkshochschulen sind Orte, an denen die Möglichkeiten und Probleme eines neuen Berufsbildes der in der Landwirtschaft Tätigen als Dienstleister für den ländlichen Raum sowie die politischen und gesellschaftlichen Initiativen für eine nachhaltige Landwirtschaft diskutiert werden.

(111) Durch den relativ guten Rückhalt in der bäuerlichen Bevölkerung können die Kirchen wesentlich zur Förderung der notwendigen Dialogstrukturen zwischen den in der Landwirtschaft sowie im Tierschutz und Naturschutz Tätigen und den Verbrauchern, Entwicklungsorganisationen, Politik und Wissenschaft beitragen. Gerade in der Diskussion um den ökologischen Landbau ist es entscheidend, dass die ideologische Konfrontation zwischen konventionellem und ökologischem Landbau sowie zwischen den unterschiedlichen Gruppen im ökologischen Landbau vermieden wird. Hier haben die Kirchen, die unter ihrem Dach Menschen aus den unterschiedlichen Handlungsfeldern, aber mit unterschiedlichen Anschauungen und Praxiserfahrungen vereinen, eine besondere Aufgabe, zum Dialog beizutragen.

(112) Notwendig sind jedoch nicht nur Diskussionen und Bildungsangebote, sondern auch konkrete beispielgebende Initiativen für eine nachhaltige Landwirtschaft. So wurden zahlreiche Aktionen für eine regionale Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte durch kirchliche Gruppen mit angestoßen (z. B. die Solidargemeinschaften für Regionalvermarktung in der Diözese München und Freising oder der Einkauf überwiegend in der Region erzeugter Lebensmittel durch die Evangelische Akademie Bad Boll). Mit unterschiedlichen Stellungnahmen und Initiativen zu aktuellen Themen leisten kirchliche Verbände und Gruppen auf dem Land eine intensive Arbeit der Interessenvertretung, Informationsvermittlung und Unterstützung für in der Landwirtschaft Tätige und die ländliche Bevölkerung.

(113) Angesichts der starken Strukturveränderungen in der Landwirtschaft, die viele Familien in Notsituationen führt, konkretisiert sich die kirchliche Solidarität wesentlich in konkreten Hilfsdiensten und in der Seelsorge. Initiativen wie Dorfhelferinnen, bäuerliche Familienberatung und Betriebshilfe werden gut angenommen und sollten weiter ausgebaut werden. In einigen deutschen Diözesen und Landeskirchen integriert die landwirtschaftliche Familienberatung agrarwirtschaftliche, psychologische und seelsorgerlich-diakonische Aspekte. Sorgentelefone bilden einen Schwerpunkt dieser Arbeit. Vorrangige Themen sind dabei: 1. Hofnachfolge, 2. familiäre Beziehungskonflikte, 3. Schulden, 4. Gesundheit, 5. Vorsorge und Begleitung.

(114) Da die Situation für viele Höfe finanziell und personell sehr schwierig ist, gilt es in der Seelsorge auch, deutlich zu machen, dass die Bewirtschaftung des Hofes nicht um jeden Preis aufrecht erhalten werden soll. Das Leben der Familie ist wichtiger als der Bestand des Hofes. Die Aufgabe des Hofes bedeutet nicht das Scheitern des Lebens. Die Kraft des Glaubens und der Rückhalt in der kirchlichen Gemeinde können gerade in schweren Zeiten ermutigen, immer wieder Neues zu wagen. Das braucht jedoch auch intensive Angebote der Weiterbildung und Umschulung sowie eine unternehmerische Beratung beim Verkauf des Betriebs.

(115) In Deutschland sind die Kirchen Besitzer von beachtlichen landwirtschaftlich genutzten Flächen. Aber bislang engagieren sich noch zu wenige kirchliche Einrichtungen in ihrer Praxis für den ökologischen Landbau (z. B. Benediktinerkloster Plankstetten, Evangelische Akademie Altenkirchen). Nur auf der Grundlage eigener Praxis gewinnt die Bildungsarbeit an Glaubwürdigkeit und Anschaulichkeit. Einige Diözesen und Klöster in Deutschland berücksichtigen die Kriterien einer naturschonenden Bewirtschaftung als Auflagen für die Verpachtung landwirtschaftlicher Flächen. Einige evangelische Landeskirchen haben die Verwendung von gentechnisch verändertem Saatgut auf landwirtschaftlich genutzten Flächen in ihrem Besitz durch entsprechende Pachtverträge verboten.

(116) Die Kirchen engagieren sich weltweit durch ihre Hilfswerke für die Ernährungssicherheit der Ärmsten durch Projekte und Lobbyarbeit. Gezielte armutsorientierte ländliche Entwicklungsprojekte ihrer Partner in Afrika, Asien oder Lateinamerika versuchen, das Recht auf Nahrung in der Hoffnung umzusetzen, dass solche Ansätze als Signale wahrgenommen und von der nationalen Regierungspolitik in den jeweiligen Ländern auf breiter Basis fortgesetzt werden. Armutsorientierung geht mit bodenständigen Methoden der ökologischen Produktivitätsverbesserung und mit stark partizipatorischen Elementen einher. Von diesem gemeinwesenorientierten Sozialarbeiteransatz auf dem Lande können auch wir viel lernen. Über das Engagement vor Ort hinaus verfolgen die kirchlichen Entwicklungsdienste auch kritisch die globale Strukturpolitik unserer Regierung und der internationalen Organisationen und versuchen sie mitzugestalten. Die kirchlichen Entwicklungsdienste setzen sich für eine Konversion des Agrarprotektionismus und für eine Verankerung und Umsetzung des „Rechts auf Nahrung“ ein. Dieses Recht wurde dank der Führungsbereitschaft der Bundesregierung in dem Welternährungsgipfel von 1996 aufgenommen. Zusammen mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung setzen sich kirchliche Akteure wie Misereor, Brot für die Welt, Justitia et Pax und der Evangelische Entwicklungsdienst (EED) für das Zustandekommen eines internationalen Verhaltenskodex zum Recht auf Nahrung ein. Das Welternährungsengagement der Kirchen und ihr nationales Engagement für Landwirtschaft und Ernährung in Deutschland müssen enger zusammen wachsen.

(117) Grundlegende Voraussetzung für eine nachhaltige Landwirtschaft ist ein breiter gesellschaftlicher Bewusstseinswandel im Umgang mit Lebensmitteln. Hierzu kann der christliche Glaube vielfältige Impulse geben. So spielen Lob und Dank für die Gaben der Schöpfung in der Bibel und in der christlichen Tradition eine wichtige Rolle. Wein und Brot stehen als Gaben der Schöpfung, in denen sich Gott selbst uns schenkt, im Mittelpunkt jeder Eucharistie- bzw. Abendmahlsfeier. Jeder Gottesdienst und eine Vielzahl christlicher Feste, insbesondere das Entedankfest, zielen darauf, die Haltung der Achtung und der Dankbarkeit im Umgang mit den Mitmenschen und mit der Schöpfung einzuüben. „Der Erntedank hat als Fest des Dankes, des Teilens und der Besinnung eine lange Tradition. Er stammt aus einer Zeit, in der das Überleben des Menschen mehr als heute von der jährlichen Ernte abhing. Die Sorge um das tägliche Brot wird heute immer stärker im Zusammenhang mit Fragen der Qualität und der gesundheitlichen Unbedenklichkeit unserer Nahrung gesehen. Zugleich wächst überall das Bewusstsein, dass nicht nur die Bäuerinnen und Bauern, sondern jeder von uns für den pflegerischen Umgang mit der Natur für die vielen heute noch hungernden Menschen verantwortlich ist. Gerade in dieser gemeinsamen Sorge erfährt das Erntedankfest einen neuen Sinn“(19). Erntedank ist gerade heute ein Chance, die gemeinsame Verantwortung von in der Landwirtschaft Tätigen und Verbrauchern zu erkennen und zu vermitteln.(20)

(118) Nicht wenige kirchliche Traditionen und Elemente der Liturgie sind in besonderer Weise auf die bäuerliche Kultur bezogen, z. B. der Wettersegen mit der Bitte um das Gedeihen der Feldfrüchte oder das Fest des heiligen Franziskus am 4. Oktober, der zugleich Welttierschutztag ist. So bieten Liturgie, Verkündigung und praktische Diakonie für jede evangelische und katholische Gemeinde im Laufe des Jahres vielfältige Gelegenheiten, die Arbeit der Bauernfamilien zu würdigen und den pfleglichen Umgang mit Natur und Schöpfung als Herausforderung von uns allen zu sehen.

(119) Der achtsame Umgang mit den Früchten der Felder und der menschlichen Arbeit sowie mit allen Gütern und Lebewesen der Schöpfung ist ein wesentliches Element von Lebensqualität. Gerade weil die Nahrungsmittel für viele heute im Überfluss vorhanden sind, bedarf es der bewussten Einübung einer solchen Haltung der Achtsamkeit und Dankbarkeit. Denn erst dadurch erschließt sich auch ihr immaterieller Wert sowie die Fähigkeit, verantwortungsvoll damit umzugehen. Wir müssen immer wieder neu lernen, dass unsere Gesundheit und unser Glück nicht primär durch die Vermehrung der materiellen Güter sichergestellt werden kann, sondern wesentlich durch eine gute Beziehung zu unseren Mitmenschen, unseren Mitgeschöpfen und zu Gott.

(120) Das gilt auch für den Aufbau einer nachhaltigen Landwirtschaft, die nicht darauf ausgerichtet ist, möglichst viel zu produzieren, sondern darauf, eine gesunde Ernährung zu ermöglichen und zugleich vielfältige Lebensräume für Menschen, Tiere und Pflanzen zu erhalten. Sie ist ein Grundelement der menschlichen Kultur und Ausdruck einer zeitgemäßen Verantwortung für die Schöpfung. In allen unterschiedlichen Konfliktlagen stellen die Kirchen dabei die Grundfrage nach der Gerechtigkeit in einer Welt, in der die Lebens- und Überlebenschancen ungleich verteilt sind und die wechselseitigen Abhängigkeiten wachsen. Eine nachhaltige Landwirtschaft ist eine unverzichtbare Basis für die langfristige Sicherung weltweiter Ernährung. Das christliche Engagement hierfür ist ein Zeugnis für den Schöpfungsglauben.

Fussnoten:

(19) Deutscher Bauernverband / Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung: Erklärung zum Erntedank, Bonn 1986.

(20) Vgl. Ausschuss für den Dienst auf dem Lande in der EKD (ADL), Katholische Landvolkbewegung Deutschlands (KLB), Deutscher Landfrauenverband (DLV), Deutscher Bauernverband (DBV), Gemeinsame Erklärung zum Erntedank 2000.

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