Positive Würdigung und kritische Anfragen

Ratsvorsitzender zur Stellungnahme des Nationalen Ethikrates

Der Stellungnahme des Nationalen Ethikrates „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ gebühre positive Würdigung, aber aus Sicht der Kirche seien auch kritische Anfragen angezeigt. Damit reagierte der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, auf die Veröffentlichung der Stellungnahme am heutigen Donnerstag, 13. Juli. Wolfgang Huber begrüßt, dass die Stellungnahme des Nationalen Ethikrates wichtige Informationen enthalte und Vorschläge zur Begrifflichkeit mache: Der Nationale Ethikrat „legt die Probleme der gängigen Redeweise von ‚aktiver’, ‚passiver’ und ‚indirekter Sterbehilfe’ dar und schlägt vor, stattdessen Sterbebegleitung, Therapie am Lebensende, Sterbenlassen, Beihilfe zur Selbsttötung und Tötung auf Verlangen voneinander zu unterscheiden. In der gesellschaftlichen Debatte zur Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende sei es entscheidend, dass der Nationale Ethikrat „zumindest teilweise deutliche Voten“ zu erkennen gebe, betont Wolfgang Huber.

An den unterschiedlichen Voten setzt auch die Kritik des Ratsvorsitzenden an der Stellungnahme ein. Er bezeichnet es als „verhängnisvoll“, dass der Nationale Ethikrat im Blick auf die Beihilfe zum Suizid und die Tötung auf Verlangen nicht zu klareren und eindeutigeren Ergebnissen komme. Die evangelische Kirche will die Ärzte weiterhin darin unterstützen, ihre bisherige Haltung beizubehalten, am ärztlichen Ethos der Fürsorge für das Leben festzuhalten. Erschrocken zeigt sich Wolfgang Huber über die schmale argumentative Basis, auf welcher der erzielte Konsens über die Beibehaltung des strafrechtlichen Verbots der Tötung auf Verlangen stehe. Huber wünscht sich eine deutlichere Balance zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und der Fürsorge am Ende des Lebens. Wolfgang Huber, der selbst bis zu seiner Wahl zum Ratsvorsitzenden im Jahr 2003 Mitglied des Nationalen Ethikrates war, fordert die Mitglieder dieses Rates auf, einen gehaltvollen Konsens anzustreben und nicht nur unterschiedliche Argumentationen nebeneinander zu stellen: „Dem Missverständnis, es allen Positionen recht machen zu wollen, sollte sich der Nationale Ethikrat nicht aussetzen.“


Die Erklärung des Vorsitzenden des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, zur Stellungnahme „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ des Nationalen Ethikrates im Wortlaut:

Der Nationale Ethikrat hat am heutigen Donnerstag, 13. Juli, eine Stellungnahme vorgelegt, die sich mit schwierigen Grenzsituationen am Ende des menschlichen Lebens beschäftigt. Der Text verdient hohe Aufmerksamkeit, nötigt aber auch zu kritischen Anfragen.

Aus meiner Sicht sind vor allem drei Aspekte positiv zu würdigen:

1. Die Stellungnahme des Nationalen Ethikrats enthält wichtige Informationen. So macht sie beispielsweise auf die Defizite aufmerksam, die im Blick auf eine ausreichende palliativmedizinische Versorgung oder die notwendige interdisziplinäre Aus- und Fortbildung von Ärzten und Pflegekräften für den Umgang mit Sterbenden bestehen. Ebenso gibt sie einen guten Überblick zur strafrechtlichen Beurteilung der am Lebensende anstehenden und möglichen Entscheidungen und bezieht dabei auch die rechtliche und praktische Entwicklung in anderen Ländern ein.

2. Der Nationale Ethikrat macht wichtige Vorschläge zur Begrifflichkeit. Er legt die Probleme der gängigen Redeweise von „aktiver“, „passiver“ und „indirekter Sterbehilfe“ dar und schlägt vor, stattdessen Sterbebegleitung, Therapie am Lebensende, Sterbenlassen, Beihilfe zur Selbsttötung und Tötung auf Verlangen voneinander zu unterscheiden. Gewiss ist der allgemeine Sprachgebrauch nur schwer zu ändern; doch ich würde es sehr begrüßen, wenn diese Vorschläge positiv aufgenommen würden.

3. In ethisch besonders umstrittenen Fragen sind zumindest teilweise deutliche Voten zu erkennen. Im Blick auf den ärztlich assistierten Suizid und die organisierte Beihilfe zum Suizid spricht sich wenigstens der überwiegende Teil des Nationalen Ethikrats gegen eine berufsrechtliche Zulassung und die Etablierung solcher Bestrebungen in Deutschland aus. Im Falle der Tötung auf Verlangen sind im Ergebnis alle Mitglieder des Nationalen Ethikrates der Auffassung, dass es in Deutschland beim Verbot der Tötung auf Verlangen bleiben und der § 216 des Strafgesetzbuchs nicht geändert werden soll.

Hier setzt freilich auch die Kritik ein:

1. Ich sehe es als verhängnisvoll an, dass der Nationale Ethikrat im Blick auf die Beihilfe zum Suizid und die Tötung auf Verlangen nicht zu klareren und eindeutigeren Ergebnissen kommt. Das partielle Ja zur ärztlichen Suizidbeihilfe und zur ärztlichen Mitwirkung bei der Tötung auf Verlangen stellt den in Deutschland bestehenden Konsens über das ärztliche Ethos in Frage. Ich vertraue jedoch darauf, dass die Ärzteschaft sich nicht für die, im Nationalen Ethikrat auch vertretene, Sicht öffnet, wonach es in Einzelfällen „gerade dem Wohl des Patienten entsprechen (könne), wenn er unter ärztlicher Begleitung auf sein Verlangen hin getötet werden und damit sterben dürfe, weil er diesen Weg als den einzigen Ausweg aus schwerem Leid sieht.“ Die evangelische Kirche wird die Ärzteschaft darin unterstützen, in Kontinuität zu ihrer bisherigen Haltung an dem ärztlichen Ethos der Fürsorge für das Leben und damit an einer wichtigen Grundlage für das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient festzuhalten.

2. Der im Nationalen Ethikrat erzielte Konsens darüber, dass das strafrechtliche Verbot der Tötung auf Verlangen beibehalten werden soll, steht auf einer erschreckend schmalen argumentativen Basis. Ein Teil des Nationalen Ethikrats leugnet die Gefahr, dass die Zulassung der Tötung auf Verlangen in Missbrauch abgleiten kann, und dies, obwohl an anderer Stelle über die Anhaltspunkte für diese Gefahr ausdrücklich berichtet wird. Dieser Teil des Nationalen Ethikrats stimmt dem rechtlichen Verbot der Tötung auf Verlangen nur wegen der besonderen Situation zu, in der Deutschland sich angesichts der Geschichte der Euthanasieverbrechen des Naziregimes befindet. Dabei wird allein von „politischer“, nicht jedoch von „moralischer Rücksicht“ auf diese Situation gesprochen. Jedem muss aber klar sein: „Politische Rücksicht“ richtet sich nach politischer Opportunität. Dass ein Teil des Nationalen Ethikrats in dieser Frage auf eine ethische Argumentation verzichtet, halte ich für verhängnisvoll. Die evangelische Kirche spricht sich dafür aus, dass das Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht des Menschen auch am Ende seines Lebens und die Wahrung der Fürsorgepflicht für menschliches Leben besser in der Balance bleibt, als dies in der Argumentation des Nationalen Ethikrats der Fall ist.

3.  In wichtigen Fragen kommt der Nationale Ethikrat nicht zu einem gemeinsamen Urteil, sondern stellt unterschiedliche Argumentationen nebeneinander. Das lässt sich grundsätzlich nicht vermeiden; es war deshalb auch schon bei früheren Äußerungen des Nationalen Ethikrats der Fall. Doch jetzt ist die Zerfaserung der Positionen so weit fortgeschritten, dass der Wille zu einem gemeinsamen Urteil kaum noch zu erkennen ist. Ein Nationaler Ethikrat muss jedoch alles daran setzen, einen gehaltvollen Konsens zu erreichen. Je näher man diesem Ziel kommt, desto eher ist es möglich, den verbleibenden Dissens so darzulegen, dass er in seinem Gewicht eingeschätzt und gewürdigt werden kann. Je weniger dieses Ziel erreicht wird, desto größer wird die Gefahr, dass eine solche Äußerung zu einem Selbstbedienungsladen unterschiedlicher Positionen wird. Dem Missverständnis, es allen Positionen recht machen zu wollen, sollte sich der Nationale Ethikrat nicht aussetzen.

 

Hannover/Berlin, 13. Juli 2006
Pressestelle der EKD
Christof Vetter