Gastleitartikel Leipziger Volkszeitung für den 24. Dezember 2004

Bischof Wolfgang Huber

Eines der schönsten Bücher des vergangenen Jahres ist das Buch „Tintenherz“ von Cornelia Funke. Es lebt von einer witzigen Grundidee: Ein Mann hat die Gabe, Geschichten so vorzulesen, dass bestimmte Figuren aus ihnen gleichsam „herausspringen“ und real werden. Dasselbe geschieht freilich auch umgekehrt: Immer wenn eine Figur aus dem Buch in die Wirklichkeit übergewechselt ist, verschwindet zum Ausgleich eine Person aus der Wirklichkeit in jene vorgelesene Geschichte. Auf diese Weise verliert dieser begnadete Vorleser - „Zauberzunge“ genannt – beispielsweise seine Frau, die zum Teil der vorgelesenen Geschichte wird;  dafür treten die bösesten Gestalten in sein Leben ein, die die vorgelesene Geschichte überhaupt zu bieten hat. Man ahnt die Verwicklungen und hofft auf ein Happy End.

Eine spannende Idee. Sie nimmt einen Eindruck auf, für den es viele Anhaltspunkte gibt. Wir alle gehen leicht verloren in einer Geschichte, die wir alle kennen, die uns wieder und wieder gefangen nimmt, über die wir jedoch nie die Herrschaft gewinnen – nämlich unserer jeweiligen Alltagsgeschichte. Wie oft hat man den Eindruck, verlorenen gegangen zu sein in all den Sorgengeschichten des Alltags, den absehbaren Pflichten, den kummervollen Umständen, den scheinbaren Wichtigkeiten, den unablässigen Wiederholungen. Der Alltag hält uns gefangen wie ein unsichtbares Netz. Deshalb brauchen wir eine „Zauberzunge“, die uns heraus liest aus all diesen babylonischen Gefangenschaften des Normalen. Ein gutes Wort, das uns hineinliest in eine Geschichte mit Tiefe, in eine Erzählung der Wahrheit, in einen Roman des Segens.

Genau dies ist die Weihnachtsgeschichte der Bibel. Sie liest uns heraus aus all unseren Alltagsgeschichten. Sie ruft uns heraus aus den Netzen des Naheliegenden. Sie befreit uns von den Ketten der Karrieren und bewahrt uns vor dem Schlamassel des Alltags. Denn wenn Gott Mensch wird, wenn er sogar in einer Krippe Heimat findet und in einem wehrlosen Kind unserer Welt nahe kommt, dann fängt etwas Neues an.  Dadurch werden zwar keineswegs alle Probleme auf einen Schlag gelöst; Gott ist kein Zauberer und der Glaube kein Wundermittel. Aber dank dieses Geschehens kann Frieden einkehren in die Herzen, Dankbarkeit kann entstehen trotz allen Widrigkeiten; und das Staunen darüber gewinnt die Oberhand, dass das Leben groß und schön ist, über alle Enttäuschungen hinaus.
„Hartz IV“ wurde zum Wort des Jahres 2004 gewählt. Am Wort kann es nicht liegen, an der Sache schon. Das Weihnachtsevangelium scheint gerade für dieses Jahr wie gemacht. Es enthält die Kraft, vor den Widrigkeiten nicht zu kapitulieren; es lädt dazu ein, dorthin zu schauen, wo es etwas zum Staunen gibt. Denn uns wird der Mut zum Leben anvertraut, die Kraft der Liebe, die Zuversicht, dass Gott es gut mit uns meint. All das brauchen wir – gerade in diesem Jahr.

Bischof Dr. Wolfgang Huber
Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Für die Richtigkeit:
Hannover/Berlin, 23. Dezember
Pressestelle der EKD, Christof Vetter