Weihnachten ist das Fest für den Mentalitätswechsel
Ratsvorsitzender predigte an Heilig Abend im Berliner Dom
Es sei Zeit für einen Mentalitätswechsel, hat der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, bei der Christvesper am 24. Dezember im Berliner Dom gesagt: „Weihnachten ist das richtige Fest, um ihn zu beginnen.“ Er widerspricht in seiner Weihnachtspredigt der gesellschaftlichen Gleichgültigkeit Kindern gegenüber und fordert für das kommende Jahr, sich noch mehr für das Thema „Familie“ einzusetzen. Außerdem vergesse er an diesem Tag auch die kriegerische Situation im Nahen Osten, in der Region, wo Jesus geboren wurde, nicht. Dort herrsche Bitterkeit, wohin man schaue , erklärte Huber.
Wolfgang Huber erinnerte an die kriegerischen Auseinandersetzungen im Sommer dieses Jahres und forderte die Hisbollah auf, den inhaftierten israelischen Soldaten wenigstens zu erlauben, ihren Eltern ein Lebenszeichen zu schicken: „Wer die Humanität ernst nimmt, sollte nicht immer auf den andern warten, sondern selbst den ersten Schritt tun. Wer Frieden will, darf nicht Gefangene verstecken und ihnen die Möglichkeit menschlichen Kontakts verweigern.“ Den Gottesdienstbesuchern im Berliner Dom erzählte er vom Ausmaß der Zerstörung, das er selbst in diesem Jahr in Beirut beobachtet hat: „Wie anders wäre unsere Welt, wenn wir uns, über alle Religionsgrenzen hinweg, auf den Frieden durch Liebe einließen und auf die Botschaft der Engel antworten würden: ‚Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!’“
Jesus sei zwar unter ärmlichen Verhältnissen geboren, aber er habe im Stall und der Krippe und später in Nazareth einen Ort gehabt, an dem er aufwachsen könne und Liebe erfahre: „Es war nicht das Niemandsland, in das heute bisweilen Kinder ausgesetzt werden, um buchstäblich zu verhungern oder zu verdursten. Ohne einen solchen Ort kann kein Kind Liebe erfahren, und keines kann in die Liebe hineinwachsen. Deshalb hat man diese heilige Familie zum Vorbild gemacht für die Sehnsucht nach einer Familie, die wir alle in uns tragen.“ Beziehungen, in denen Liebe und Vertrauen, Verlässlichkeit und Fürsorge ihren Ort haben, seien für das menschliche Leben von unersetzlichem Rang.
Hannover/Berlin, 23. Dezember 2006
Pressestelle der EKD
Christof Vetter
Nachfolgend Predigt im Wortlaut:
Bischof Dr. Wolfgang Huber
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
Predigt in den Christvespern am Heiligen Abend 2006
Berliner Dom und St. Marien zu Berlin, 24. Dezember 2006
Johannes 7, 28-29
„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ – in diesen Lobpreis der Engel mündet der Bericht von der Geburt Jesu. Mit diesen Worten bekundet die Weihnachtsgeschichte, dass das Kind, das unter armseligsten Verhältnissen in Bethlehem zur Welt kam, dieser Welt ein neues Gesicht gegeben hat.
Das Weihnachtsfest lenkt all unsere Aufmerksamkeit auf dieses Kind. Clemens Brentano hat das vor zweihundert Jahren unvergleichlich beschrieben:
„Welch Geheimnis ist ein Kind!
Gott ist auch ein Kind gewesen.
Weil wir Gottes Kinder sind,
kam ein Kind, uns zu erlösen.
Welch Geheimnis ist ein Kind!
Wer dies einmal je empfunden,
ist den Kindern durch das Jesuskind verbunden.“
Welchem Ereignis der Weltgeschichte kann man eine derartige Bedeutung beimessen? Bietet sich die Geburt von Kaisern dafür nicht eher an als die Geburt eines armseligen Gottessohns? Sind Paläste für eine solche weltgeschichtliche Bedeutung nicht eher geeignet als ein Stall? Die Geburt Jesu stand in ihrer Bedeutung tatsächlich von Anfang an in scharfer Konkurrenz zu anderen Ereignissen – vor allem zur Geburt des Kaisers Augustus, in dessen Regierungszeit Jesus geboren wurde. „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. ... Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe.“ Dieses merkwürdigen Ausdrucks wegen habe ich als Kind gedacht, es gebe in der Weihnachtsgeschichte eine Figur, die einen derart eigentümlichen Namen trägt – eine „Schätzensliese“.
Der Kaiser Augustus, der eine große Volkszählung in seinem ganzen, den Mittelmeerraum umspannenden Reich durchführen ließ und jeden auf den Weg schickte, dass er sich „schätzen ließe“ – dieser Kaiser Augustus galt seiner Zeit als ein Friedensfürst, der für die ganze Welt ein neues Zeitalter heraufführen sollte. In einer Inschrift aus jener Zeit wird die Geburt des Augustus so beschrieben: „Dieser Tag ... hat der Welt ein anderes Gesicht gegeben. Sie wäre dem Untergang verfallen, wenn nicht in dem heute Geborenen für alle Menschen ein gemeinsames Heil aufgestrahlt wäre. ... Wer richtig urteilt, wird in diesem Geburtstag den Anfang des Lebens ... für sich erkennen. ... Die Vorsehung, die über allem Leben waltet, hat diesen Mann zum Heil der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, dass er uns und den kommenden Geschlechtern als Heiland gesandt ist.“
Doch die Vorstellung, der Kaiser Augustus sei ein Heiland, konnte sich nicht durchsetzen. Politische Herrschaft war seine Sache, nicht das Heil der Menschen. Frieden durch Macht wollte er verwirklichen, nicht Frieden durch Liebe.
Heute ist der Kaiser Augustus ein Statist in der Geschichte Jesu, nicht umgekehrt. Der politisch Mächtige bietet den Anlass, aber der in Armut Geborene verleiht der Welt ein anderes Gesicht. Immer wieder muss sich das Neue gegen Widerstände durchsetzen: die Liebe gegen den Hass, der Frieden gegen die Zwietracht. Bis zum heutigen Tag versteht sich der Frieden durch Liebe nicht von selbst; immer wieder wird der Weg eines Friedens durch Gewalt gesucht.
Sogar in Bethlehem ist das so, dort wo Jesus zur Welt kam, keine zwanzig Kilometer von Jerusalem entfernt, der Stadt, die den Frieden im Namen trägt. „Jerusalem ist kein Ort, an dem sich Versöhnung lernen ließe“, sagte unlängst ein Liebhaber dieser Stadt mit bitterem Unterton.
Bitterkeit, wohin man schaut. Die israelischen Soldaten, wegen deren Gefangennahme durch die Hisbollah der Krieg dieses Sommers begann, sind noch immer in Haft. Die Hisbollah gewährt den Inhaftierten noch nicht einmal die Möglichkeit eines Lebenszeichens. Das ist empörend. Deshalb appelliere ich heute an diejenigen, die Gewalt über die drei jungen Männer Gilat Shalit, Eldad Regev und Ehud Goldwaser haben: Erlauben sie den Gefangenen, ihren Eltern ein Lebenszeichen zu geben! Vom Alter her könnten sie meine Kinder sein. Wer die Humanität ernst nimmt, sollte nicht immer auf den andern warten, sondern selbst den ersten Schritt tun. Wer Frieden will, darf nicht Gefangene verstecken und ihnen die Möglichkeit menschlichen Kontakts verweigern.
Aber auch das andere vergesse ich nicht an diesem Tag: Die Einwohner der südlichen Viertel Beiruts, die ich in diesem Herbst besuchte, haben keine Vorstellung davon, wann die Häuser wieder aufgebaut werden, aus denen sie herausgebombt wurden. Die Palästinenser, die ein Leben in Frieden erhoffen, zerfleischen sich in der Zwischenzeit selbst; dem Hinweis auf die Opfer ihrer Selbstmordattentäter halten sie die palästinensischen Zivilisten und Kinder entgegen, die Opfer israelischer Angriffe wurden.
All das kommt uns in den Sinn, wenn wir an Bethlehem, den Ort der Geburt Jesu denken. Wie anders wäre unsere Welt, wenn wir uns, über alle Religionsgrenzen hinweg, auf den Frieden durch Liebe einließen und auf die Botschaft der Engel antworten würden: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“
Umstritten war diese Engelsbotschaft von Anfang an. Der Streit begann schon zu Jesu Lebzeiten. Beim Blick in die Krippe können wir nicht davon absehen, wie es weiter ging. Deshalb werfen wir einen Blick auf die Auseinandersetzungen, die dieses Kind auslöste. Das Johannesevangelium beschreibt das beispielhaft an einem Streit, der um Jesu Herkunft entbrennt.
„Da sprachen einige aus Jerusalem (so heißt es im Johannesevangelium): Ist das nicht der, den unsere Oberen zu töten suchen? Und siehe, er redet frei und offen, und sie sagen ihm nichts. Sollten sie nun wahrhaftig erkannt haben, dass er der Christus ist? Doch wir wissen, woher dieser ist; wenn aber der Christus kommen wird, so wird niemand wissen, woher er ist.“
Der Streitpunkt lässt sich schnell beschreiben. Er hat mit der Herkunft dessen zu tun, dessen Geburtstag wir heute feiern. Wenn es stimmt, dass Jesus von Nazareth in einem Stall geboren wurde, arm und elend, „in Windeln gewickelt“ wie jeder normale Mensch in seiner ersten Lebenszeit, dann kann er unmöglich Gottes Sohn sein. So heißt das Urteil. Es folgt dem Schema, das wir am Beispiel des Augustus schon kennen lernten. Nur ein Hochgeborener ist zu Hohem berufen. Ein Mensch wird aufgrund seiner vermeintlichen Herkunft beurteilt. Die einen profitieren von diesem Vorurteil. Die anderen leiden darunter. Man wird einsortiert nach sozialer Herkunft, nationaler Zugehörigkeit oder Bildungsstand.
Schon in der Geburtsgeschichte Jesu wird dieses Schema durchbrochen. An den Hirten kann man das sehen. Sie werden gerade nicht auf ihre soziale Stellung festgelegt. Als die ersten Augenzeugen bestätigen sie, dass im Stall von Bethlehem etwas Außerordentliches geschehen ist. Menschen von einfacher Herkunft und schlichtem Beruf bezeugen die Geburt des Gottessohns.
„Da rief Jesus, der im Tempel lehrte: Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. Ich aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt.“
Gott will uns in dem Kind Marias und Josephs begegnen, so wie es da liegt: armselig und nackt, schutzlos und ohne Gewalt. Um seinetwillen ist der christliche Glaube eine Religion der Liebe, nicht der Herrschaft – eben die Religion Jesu, nicht die Religion des Augustus. Um seinetwillen legen wir Menschen nicht auf ihre Herkunft fest und machen ihre Würde nicht von ihrem Stammbaum abhängig. Weil Gott als Kind in der Krippe zur Welt kommt, ist jedes Kind gleich wertvoll. So leuchtend, so klar, so einfach ist der Kern des christlichen Glaubens, dieser Religion der Liebe. Um dieser einfachen Wahrheit willen sendet Gott seinen Sohn.
Nicht um auf seine Herkunft festgelegt zu werden, brauchte Jesus Vater und Mutter. Er brauchte sie, um einen Ort in dieser Welt zu haben, an dem er aufwachsen konnte. Der Ort war armselig genug: ein Stall und eine Krippe. Später dann eine Zimmermannswerkstatt in Nazareth. Aber es war – ein Ort! Es war nicht das Niemandsland, in das heute bisweilen Kinder ausgesetzt werden, um buchstäblich zu verhungern oder zu verdursten. Ohne einen solchen Ort kann kein Kind Liebe erfahren, und keines kann in die Liebe hineinwachsen. Deshalb hat man diese heilige Familie zum Vorbild gemacht für die Sehnsucht nach einer Familie, die wir alle in uns tragen. Keinen Wunsch äußern Jugendliche heute mit größerem Nachdruck als diesen: sie wollen eine Familie gründen und in einer Familie leben. Sie mögen zerbrechende Ehen und Partnerwechsel erlebt haben, sie mögen in Patchworkfamilien aufgewachsen sein – die Hoffnung ist ungebrochen, dass Familie gelingt. Vielfältig sind heute die Formen, in denen Familie gelebt wird. Aber Beziehungen, in denen Liebe und Vertrauen, Verlässlichkeit und Fürsorge ihren Ort haben, sind für das menschliche Leben von unersetzlichem Rang.
Sie sind auch der Ort, an dem das Ja zu Kindern wachsen kann. Dieses Ja ist heute so wichtig wie noch nie. Es wird allerdings durch vielerlei erschwert. So lange junge berufstätige Frauen den Vorhalt ihres Vorgesetzten fürchten müssen, ein Schwangerschaft komme gerade jetzt zum falschen Zeitpunkt, so lange hat die aktivste Familienpolitik kaum eine Chance.
Man sagt, die Familie sei eines der großen Themen des Jahres 2006 gewesen. Ich möchte, dass sie auch im Jahr 2007 ein großes Thema bleibt. Oder wollen wir die Geburt des Kindes als unser wichtigstes Fest begehen und zugleich die Gleichgültigkeit gegenüber Kindern fortsetzen? Es ist Zeit für einen Mentalitätswechsel. Weihnachten ist das richtige Fest, um ihn zu beginnen.
Der große Liederdichter Paul Gerhardt, dessen 400. Geburtstag vor uns liegt, hat den liebevollen Blick auf das Kind in der Krippe – und mit ihm auf alle Kinder – unnachahmlich besungen: „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nicht weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen!“ Amen.