Predigt im ökumenischen Gottesdienst zur Eröffnung der bundesweiten „Woche für das Leben 2022“

Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, am 30. April 2022 in der Nikolaikirche in Leipzig

Es gilt das gesprochene Wort

Gnade sei mit euch und Friede 
von dem, der da ist und der da war und der da kommt. 
Amen.

 

I.
Ich sehe sie noch genau vor mir, liebe Gemeinde: Die kleine, zierliche Frau, weit über neunzig Jahre alt. Der gebeugte Rücken, die gegerbte Haut, die schwieligen Hände verraten, wie hart sie gearbeitet hat in ihrem Leben. Ihre blitzend blauen Augen sind manchmal weit aufgerissen – und auf unbeschreibliche Weise leer. Noch heute weiß ich ihren Namen, weil wir den so oft riefen, wenn wir sie suchten. Sie selbst wusste ihn schon lange nicht mehr. Stundenlang geisterte sie über die Flure des Altenheims. Früh am Morgen und gegen Abend war ihre Unruhe besonders schlimm. Sie suchte nach ihren Ziegen. Die wollten gefüttert und gemolken werden. Mit unbegreiflicher Kondition eilte sie die Gänge entlang, rief unermüdlich nach den Tieren. Lockend zuerst, dann streng, immer ungeduldiger – und schließlich klagend, weil ihre Suche vergeblich blieb. Es brauchte viel Überredungskunst, sie zu beruhigen und wieder in ihr Zimmer zu bringen. Und manchmal, wenn sie dann auf ihrem Bett saß, fing sie bitterlich an zu weinen. Sie weinte so verloren, wie nur jemand weinen kann, der alles verloren hat – auch sich selbst. 

Auf einem Foto über ihrem Bett war ihr Zuhause zu sehen, das Gut ihrer Eltern in Schlesien. Weitere Fotos hingen da: Ein Hochzeitsbild, ihr Mann als Soldat, sie selbst als junges Mädchen, vier Kinder, jede Menge Bilder von Enkeln und Urenkeln. Und irgendwo dazwischen – in Gold gerahmt - ihr Konfirmationsspruch. Die Schrift schon stark verblasst und nur noch mit Mühe zu lesen: 

Seid getrost und unverzagt alle, die ihr des HERRN harret! (Psalm 31,25) 

II.
Wenn ich der alten Frau morgens beim Waschen half oder mittags beim Essen, wenn ich ihren langen, dünnen Zopf flocht oder ihr Bett neu bezog, fiel mein Blick immer wieder auf diesen Konfirmationsspruch.

Seid getrost und unverzagt alle, die ihr des HERRN harret!

Mit diesen Worten endet der 31. Psalm. Im Nachhinein denke ich: Warum habe ich diesen Psalm damals der Frau nicht vorgelesen? Ihn nicht mit ihr zusammen gebetet?

Dieses biblische Gebet beschreibt nicht die Krankheit Demenz.

Aber es malt uns Bilder vor Augen: 

Kummer und Seufzen,
ein zerbrochenes Gefäß,
ein Spott den Leuten,
eine Last den Nachbarn,
ein Schrecken den Bekannten –
alle fliehen:

Diese Worte und Bilder sind wie Kleider, in die hineinschlüpfen kann, wer ähnlich empfindet. Sie sprechen eine Sprache, die sich ausleihen kann, wer keine eigenen Worte hat. Das hat sogar Jesus getan nach der Überlieferung des Lukasevangeliums. Jesus lieh sich die Worte seiner Mütter und Väter im Glauben, als er am Kreuz betete: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände. (Lukas 23,46)

III.
Dieses biblische Gebet sieht genau hin, es verschweigt nichts von dem ganzen erlebten Elend, es verharmlost weder noch redet es schön. Und doch bleibt es dabei nicht stehen. 

Ein Mensch kann viel verlieren: Sein Gedächtnis, seine Erinnerungen, seine 

Persönlichkeit, seine Intelligenz, sein Wesen, sein Vertrauen, seinen Glauben, seine Hoffnung, seine Liebe, sogar sich selbst. Gott aber wird diesen Menschen auch dann – und dann erst recht! – nicht verloren geben. Niemals.

In deine Hände befehle ich meinen Geist.
Meine Zeit steht in deinen Händen.
(V.6.16)

Jene alte Frau, die stundenlang im Altenheim durch die Flure geisterte und nach ihren Ziegen suchte: Sie hat diese Sätze vielleicht nie in ihrem Leben gehört – geschweige denn selbst gebetet. Auch nicht, als sie noch gut bei Kräften und klar bei Sinnen war.

Hätte ich ihr den Psalm damals vorgelesen – vielleicht hätte es gar kein Erinnern gegeben. Kein aufblitzendes Verstehen der Sätze.

Ihr Geist war entflohen, den sie gebraucht hätte, um sich das Gebet zu eigen zu machen.

Und doch behält es seine Kraft. Die trotzige Kraft des Dennoch.

Dieses alte Gebet wurde vor Tausenden von Jahren gebetet – stellvertretend auch für diese Frau und viele, viele andere Menschen, denen es ähnlich geht. Es wird, das gebe Gott, auch weiterhin gebetet werden. Von uns, von unseren Kindern und Kindeskindern:

In deine Hände befehle ich meinen Geist.  
Meine Zeit steht in deinen Händen.
 
     

Dieses Gebet nimmt uns hinein in die gewisse Zuversicht:

Selbst wenn ich nicht mehr denken und mich nicht mehr erinnern kann, bleibe ich von Gottes Händen gehalten. Selbst wenn ich einmal nichts mehr über mein Leben wissen sollte, werden meine Jahre bei Gott gut aufgehoben sein.

IV.
Deshalb:
Seid getrost und unverzagt alle, die ihr des HERRN harret!

In den neueren Bibelübersetzungen heißt dieser Satz anders.

Angeblich können heutige Menschen die Worte „getrost“ und „unverzagt“ nicht mehr verstehen.

Mutig, fest und stark heißt es stattdessen. 
Tapfer, entschlossen und freudig.

Meine Erfahrung hat mich gelehrt: Mit solchen Tugenden gerate ich schnell an Grenzen. Immer geht es da um mich, um mein Können und meine Kraft. Was, wenn das alles am Ende ist?

Getrost kann mich nur ein anderer machen.

Der, dessen Hilfe größer ist all unsere menschliche Vernunft.
Unverzagt wird ein Mensch, der weiß, wie sich Verzagen anfühlt.

Und der spürt: Mitten in meinem Verzagen hält mich einer fest und zieht mich heraus. 

Du hast mich erlöst, HERR, du treuer Gott.

Wie mag das sein, wenn der Herr die Dementen dieser Welt erlösen wird? Werden sie dann sein wie die zu neuem Denken Erwachten? Ihr Mund voller wiedergefundener Worte und Sätze, ihre Zunge voller kostbarer Erinnerungen? Oder wird das alles dann keine Rolle mehr spielen?

Mag sein, dann gilt nur noch – aber was heißt hier nur? – der Ruf Gottes:

Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! (Jesaja 43,1)
Amen.

Der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn.

Amen.
 


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