Predigt Reminiszere im Berliner Dom

Prälatin Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union

Gott, öffne unser Herz für Dein Wort. schenk uns ein Wort für unser Herz. Amen.

I.

Reminiszere.

Erinnere Dich!

Jedes Jahr denken wir hier an diesem Sonntag an eine Region der Welt. Denken an Menschen, die verfolgt werden, weil sie an Christus glauben und dazu stehen. An Menschen, die ihren Glauben nicht offen leben dürfen.

Erinnere dich? Nichts leichter als das, so scheint es. Und zugleich: Erinnern muss immer und immer wieder geübt werden.

Reminizere. Erinnere Dich. Heute: an Armenien.
Die Armenier sagen: Sie sind die älteste christliche Nation der Welt. Zugleich ist Armenien ein umzingeltes, umkämpftes kleines Land. Immer wieder neu. Traumatisch und entsetzlich die große Katastrophe, der Völkermord 1915. Und der Kampf um Armenien und seine Identität brandet immer wieder auf. Besonders um die kleine Enklave Arzach, Berg-Karabach. Keine 24 Stunden dauerte der Angriff Aserbaidschans im September 2023. 120.000 Menschen mussten fliehen. Die Waffen von Aserbaidschan waren übermächtig. Wenige Tage nur – und die gesamte armenische Bevölkerung ist aus ihrer Heimat Berg-Karabach vertrieben. Die Menschen müssen ihre Häuser und Felder aufgeben. Die Gräber ihrer Angehörigen, ihre Kirchen und Klöster. Alles. Ihre gesamte Kultur.

Erinnere dich: an Armenien. – Ich freue mich, dass heute Vertreterinnen aus der Botschaft da sind und unsere Erinnerung begleiten, bezeugen, bereichern. Ich freue mich auf das gemeinsame Gespräch im Anschluss!

Ein halbes Jahr nach dem Angriff auf Berg-Karabach ist die humanitäre Situation weiter prekär bis katastrophal. Die Hilfsorganisationen – unter anderem Brot für die Welt – unterstützen die Geflüchteten über Partnerorganisationen in Armenien – so gut es geht. Die außenpolitisch Verantwortlichen agieren auf verschiedensten Ebenen. Die Evangelische Kirche setzt sich immer wieder dafür ein, dass Armenien im Blick bleibt – im Gebet, in der Verbundenheit. So auch heute. Am Sonntag Reminiszere, am Sonntag der Erinnerung.

II.

Und das im Textraum dieses Sonntags – mit einem ungewöhnlichen, sperrigen Text aus dem Alten Testament. Er führt uns zurück in eine mythologische Vorzeit, in die Zeit der Wüstenwanderung des Volkes Israel. Das Volk Israel war aus Ägypten ausgezogen, aus der Knechtschaft. Aber die Wanderung zieht sich. Das Volk ist unzufrieden.

Ich lese aus dem 4. Buch Mose im 21.Kapitel:

Da brachen sie auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen.
Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste?
Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.
Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den HERRN und wider dich geredet haben. Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk.
Da sprach der HERR zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.

Mythologische Erzählungen bieten Muster zur Deutung der Wirklichkeit. Unsere Erzählung von der Schlange haben die frühen Christen als Verstehensmuster genutzt für das Schicksal von Jesus. Der erhöht und erniedrigt wird am Kreuz – wie die Schlange am Stab. So ist dies ein Predigttext in der Passionszeit geworden. Zugleich ist die Schlange auch bekannt aus der griechischen Mythologie – Sie kennen den Äskulapstab, die Schlange, die sich um einen Stab windet. Das Symbol der Ärzte und Apotheken. Ein Symbol, das Heilung und Hilfe verspricht.

III.

Wer Furchtbares erlebt hat, Krieg und Gewalt, Erniedrigung, Tod der liebsten Menschen – der kann oft nur noch schreien oder schweigen. Muss verdrängen, verschweigen, vergessen. Versucht, die eigene getretene Würde zu schützen. Mit dem Wenigen, was noch geht.
In Armenien wurden Einzelne bedroht und verfolgt. Und das ganze Volk sollte nicht mehr sein nach dem Völkermord vor über 100 Jahren – ihr Armenisch-Sein, ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Identität sollten vernichtet werden. Ihre Lieder und Geschichten – alles sollten die Armenier nicht mehr erzählen – ob in der Türkei, in Frankreich, in anderen Ländern.
Zum Schmerz kommt oft die Scham. Über das eigene Nicht-mehr-Sein-Dürfen. Und manche wollen dann vergessen und verstecken, dass sie Armenierinnen und Armenier sind.

Aber: Traumata, Gewalterfahrungen an Körper und Seele werden auch durch Schweigen vererbt. Durch das eigene Schweigen und durch das Verschweigen und das Leugnen der Taten durch das Volk der Täter, der Türkei, bis heute. Auch Deutschland erkennt den Mord und die Vertreibung der Menschen aus Armenien erst seit 2015 als Genozid an.

Mose wählt eine besondere Methode, um das Erinnern zu befördern, zu bebildern, umsetzbar zu machen: Ich nenne es die Methode der homöopatischen Konfrontation. Er vertreibt Gleiches mit Gleichem. Die Schlange macht Angst und ihr Biss vergiftet. Und eine Schlange wird das Symbol für Rettung. Wer die Schlange sieht, bleibt am Leben. Dem Biss, der Beißenden ins Auge sehen. Nur in der direkten – und schmerzhaften – Auseinandersetzung mit den Schlangen liegt die Chance zum Überleben, zum Neuanfang, zum Freiwerden. Aber um das Tier aus Bronze, das Heilmittel, sehen zu können, müssen die Gebissenen, Gebeugten und Gekrümmten sich aufrichten und ihren Blick nach oben richten. Und darin liegt schon die erste Bewegung zum Heilwerden. Denn Aufblicken und Aufrichten bedeutet, am Leben zu bleiben und eine Zukunft zu haben.

IV.

Dass die Schlangengeschichte aus der Wüste nicht einfach eine von vielen ist, liegt vermutlich am Evangelisten Johannes. Johannes prägt so ganz andere Bilder als seine drei synoptischen Kollegen.

Wir haben es als Lesung gehört: Es ist Nacht in Jerusalem. Nikodemus, ein jüdischer Religionsgelehrter, kommt im Schutz der Dunkelheit zu Jesus. Er hat Fragen an Jesus. Er will von ihm lernen. Jesus sagt: Nur wer von Neuem geboren wird, kann das Reich Gottes sehen. Nikodemus versteht nicht: Wie kann jemand noch einmal geboren werden? Wenn er doch schon alt ist? Und Jesus redet vom Geist und vom Wind, der bläst, wo er will. Und dann heißt es: „Wie Moses in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“ Es folgt einer der berühmtesten Sätze, vertont von Schütz und vielen anderen: Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Die erhöhte Schlange in ihrer vielfältigen Deutung schimmert durch. Als Symbol der Heilung. Der homöopathischen Konfrontation. So wird der Gottessohn getötet und erniedrigt und darin erhöht. Und so wie die Israeliten in der Wüste die erhöhte Schlange sehen und nicht durch einen Schlangenbiss sterben, so werden die leben, die an den erhöhten gekreuzigten Christus Gott-Sohn glauben. Die Schlange ist Tod und Rettung zugleich. Das Kreuz ist Tod und Auferstehung zugleich.

Immer geht es um Gott, der mitgeht. Der nicht loslässt das Werk seiner Hände. Am Ende steht nicht die Zerstörung der Welt und der Niedergang der Menschheit. Der Tod hat nicht das letzte Wort.

V.

Nikodemus kommt in der Nacht zu Jesus. Oft sind es ja die Nächte, in denen die großen Fragen auftauchen. Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, noch einmal geboren werden? Wie kann ich, wie können Sie ausbrechen aus Prägungen und Sichtweisen auf Gott und noch einmal neu sehen?

Ich stelle mir Jesus und Nikodemus vor, wie sie dasitzen, die Flamme flackert in der Öllampe, der Weinbecher geht hin und her zwischen ihnen. „Es müsste anders werden“, sagt Jesus. Und er sinniert weiter: „Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. Denn darin besteht das Gericht: Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. Jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seinen Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.“

Es braucht wohl mehr als eine Nacht, um das zu verstehen. Nikodemus jedenfalls kommt immer mehr aus der Deckung bei Johannes. Stellt sich an die Seite von Jesus und kommt nicht mehr nur im Schutz der Dunkelheit. Als sich die Stimmung gegen Jesus in Jerusalem aufheizt, spricht er für Jesus. Als Jesus getötet worden ist und begraben werden soll, hilft Nikodemus – in aller Öffentlichkeit und bringt eine geradezu grotesk teure Menge von 100 Pfund Gewürzen zur Einbalsamierung mit. Am Ende wird er Jesus mit ins Grab legen. Vielleicht seine Art zu zeigen, dass er das verstanden hat mit dem neuen Leben.

Ob die Schlangengeschichte Nikodemus eingeleuchtet hat? Nikodemus kennt sich sehr gut aus in den heiligen Schriften. Sein Bildergedächtnis läuft auf Hochtouren. Die magisch-beschwörende Macht der ehernen Schlange ist kraftvoll. Gott ist stärker als die Schlange. Auch der Anfang der Bibel schwingt mit. Die Schlange verführt die Menschen im Garten Eden. Und sie fallen heraus aus dem Urzustand der Gottesnähe. Die Schlange ist der Tod – in vielen Bildern steht Jesus auf ihrem Kopf. Die Schlange ist der Teufel – und Gott gewinnt den Kampf dagegen.

Das Symbol der Angst. Das Symbol des Todes. Ausgerechnet das ist das Rettungszeichen. Und genau da heißt es: Kopf hoch! Genau das meint Glauben: Sich die Welt vorstellen im Horizont von Gott. und darauf zu vertrauen, dass es ein Morgen gibt. Selbst in der Nacht. In der Nacht der Seele und der Nacht von Leid und Flucht.

Nikodemus kommt in der Nacht, weil er nicht weiterweiß. Und Jesus geht durch die Nacht hindurch. In diesem Sinn ist die Passionszeit ein bildreiches Geschenk – immer wieder, jedes Jahr neu. Um in der Osternacht zu feiern, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Nach durchwachter Nacht in der Kirche oder am Feuer, nach Singen in der dunklen Kirche im Morgengrauen herauszutreten in den unwirklichen Morgen – das ist für mich Ostern.  

Hovhannes Hovsepan ist Pastor der kleinen evangelischen Kirche in Jerewan, in Armenien. Von dort aus hat er auch eine Gemeinde in Berg-Karabach unterstützt, bevor alle von dort nach Armenien fliehen mussten. Ende September sind die Menschen aus der Gemeinde bei ihm angekommen. Im November saßen sie einige Tage zusammen. Und fragten sich: Wie soll es weitergehen mit uns als Kirche? Sie haben gebetet, Abendmahl gefeiert. Sie sind entschlossen, weiterzubeten, weiterzumachen. Sie erzählen einander von ihren Traumata und Verletzungen. Sie bitten um unsere Hilfe. Sie sind im Glauben verbunden an den Gott, der die Schlange erhöht und den Tod besiegt.

Erinnere Dich, Gott, und: Erinnere Dich, Mensch. Erinnere Dich, dass Gott barmherzig ist. Und Du, Gott, erinnere Dich bitte auch. Darum bitten wir Dich und legen Dir die Opfer von Krieg und Gewalt und Vertreibung besonders ans Herz. Aus Armenien und Berg-Karabach.

Gott hält Bund und Treue ewiglich – das feiern wir jeden Sonntag. Die Armenier sagen von sich selbst, dass sie sich für diesen Bund verantwortlich fühlen. Das Gebirge „Ararat“ liegt dicht bei Armenien – dort endete die biblische Flut, Noah und seine Familie und die Tiere, die mit ihm auf der Arche gewesen waren, konnten wieder auf trockenen Boden. Dort dankten sie Gott. Dort schloss Gott mit Noah seinen Bund: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um den Menschen willen. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Christinnen und Christen in Armenien bewahren den Bund zwischen Gott und den Menschen. Das tun sie für uns alle mit – in dieser krisengeschüttelten Zeit. Helfen wir ihnen dabei. Und bleiben und sind dankbar für den Gott des Lebens mitten im Tod.

Amen.

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