Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf

Nachwort

Für die im Herbst 1991 veröffentlichte Ausarbeitung zum Mensch-Tier-Verhältnis ist eine 2. Auflage erforderlich geworden. Schon daran zeigt sich, daß die Fragen der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf eine erfreuliche Aufmerksamkeit finden. Wenige andere ethische Beiträge aus der Evangelischen Kirche in Deutschland haben in den letzten Jahren ähnlich lebhafte und engagierte Reaktionen, in Zustimmung wie in Ablehnung hervorgerufen. Das Mensch-Tier-Verhältnis ist kein fernliegendes und kein abstraktes Thema. Auf den verschiedenen Handlungsfeldern betrifft und berührt das mitgeschöpfliche Verhalten konkret die alltäglichen Lebensvollzüge vieler Menschen.

Die Ausarbeitung verstand und versteht sich ausdrücklich als "Diskussionsbeitrag". Sie beteiligt sich an einer in Gang befindlichen Debatte - mit einer wohlüberlegten, markanten, für manche anstößigen Positionsbestimmung, nicht aber mit dem Anspruch, eine definitive Stellungnahme der evangelischen Kirche zu formulieren, oder gar die Debatte abzuschließen. Diesem Selbstverständnis entspricht es, wenn der 2. Auflage ein Nachwort beigegeben und darin eine Zwischenbilanz gezogen wird. Besondere Beachtung verdient dabei der Gesichtspunkt, der im Vorwort nachdrücklich hervorgehoben ist: Vom Fortgang der Diskussion erhofft der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland "zu unser aller Nutzen mehr Klarheit, ob das Ziel der Verminderung der Gewalt zwischen Mensch und Tier vom biblischen Zeugnis her weitergeführt werden darf zu der radikalen Position einer prinzipiellen Ablehnung von Gewalt, anders gesagt, in welche Weise ein Schöpfungspazifismus eschatologische Hoffnung bleiben muß und wieweit er schon jetzt das Handeln leiten soll."

1. Betroffenheit und Wahrhaftigkeit

Die Diskussion über die Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf und so auch die Reaktionen auf den vorliegenden Beitrag kennzeichnet nicht selten ein leidenschaftlicher, erregter Ton. Denn viele beteiligen sich an dieser Diskussion als Betroffene: als Landwirte, die ihr Auskommen auf Schlachtviehhaltung und damit auf den Fleischkonsum der Bevölkerung begründet haben, als Jäger und Angler, die diese Tätigkeiten durch persönliche Ausübung und durch Verbandsarbeit verbunden sind, als Mitglieder in Tierschutzorganisationen, die sich mächtigen Partikularinteressen gegenübersehen und vom Leiden der Tiere innerlich aufgewühlt sind, oder als Wissenschaftler und Beamte, die sich mit je ihren Möglichkeiten für einen sachgemäßen Tierschutz einsetzten. Es ist ebenso verständlich wie berechtigt, wenn dieser Personenkreis einen Diskussionsbeitrag der Kirche, "ihrer" Kirche, daraufhin abklopft, ob er seiner Lebenssituation, seinen Bemühungen, seinen Argumenten gerecht wird.

Hier sind Defizite sichtbar geworden, die mit der wünschenswerten Kürze der Ausarbeitung nur zum Teil zu entschuldigen sind. Manches ist allerdings auch überlesen worden und verdient, in Erinnerung gebracht zu werden, so die Ausführungen in Ziffer 23: "Barmherzigkeit, Humanität und Gerechtigkeit sind unteilbar. Wird eingeschärft, daß sie das Verhältnis zum Tier bestimmen sollen, so ist zugleich daran zu erinnern, daß sie auch gegenüber den Menschen gelten, die - aus welchen Gründen auch immer - die Nutzung von Tieren beruflich betreiben. Für das zum Teil skandalöse Ungenügen des Tierschutzes tragen im allgemeinen und in erster Linie nicht die Angehörigen der mit der Tiernutzung befaßten Berufe Verantwortung, sondern die Lebensweise der gesamten Gesellschaft." Viele, die beruflich von der Tiernutzung abhängig sind, reagieren auf kritische Feststellungen und Fragen wohl auch deshalb so heftig, weil sie diese im Lichte unsachlicher und demagogischer Kritik sehen, die ihnen sonst begegnet ist.

Leidenschaftlichkeit und Heftigkeit haben in dieser Diskussion einen legitimen Platz. Verdrehung und Verleumdung aber machen eine produktive Auseinandersetzung unmöglich. Wenn etwa in einer Verbandszeitschrift zu lesen ist: "Sind die Jäger organisierte Tierquäler? Nach Auffassung der EKD ist diese Frage zu bejahen", so ist das nicht nur ohne jeden Anhalt an dem Diskussionsbeitrag, sondern vergiftet und belastet den notwendigen Dialog. Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit obliegt insbesondere Journalisten und Medien. Ihre Berichterstattung und Kommentierung ersetzt für nicht wenige die Lektüre des Originals. Wer sich aber auf einen Artikel wie den von Helmut Schoeck (in der "WELT am SONNTAG" vom 29. Dezember 1991) stützt, kommt nicht ins Gespräch mit dem Original, sondern wird durch groteske Verfälschungen in die Irre geführt.

2. Sachkunde und Genauigkeit

Der Diskussionsbeitrag behandelt nicht nur Grundfragen des Mensch-Tier-Verhältnisses, sondern ebenso eine Reihe von konkreten Handlungsfeldern mitgeschöpflichen Verhaltens. Dies setzt Sachkunde voraus; wer bei den Experten und Praktikern der verschiedenen Handlungsfelder Gehör erwartet, muß in seiner Darstellung der Probleme zeigen, daß er mit dem Sachverhalt vertraut ist. Der Erwerb solcher Sachkunde ist keineswegs daran gebunden, in den jeweiligen Handlungsfeldern selbst als Experte oder Praktiker tätig zu sein. Der Diskussionsbeitrag belegt dies durchaus. Von verschiedenen Seiten ist aber kritisch gefragt worden, ob die Autoren des Diskussionsbeitrages nicht gut daran getan hätten, in der Vorbereitungsphase Fachgespräche abzuhalten oder Anhörungen durchzuführen. Dieser Vorschlag hat prinzipiell viel für sich. Die zeitliche Begrenzung seiner Tätigkeitsperiode und die Struktur seiner Arbeit haben es im konkreten Fall dem Wissenschaftlichen Beirat aber unmöglich gemacht, so zu verfahren.

Der Preis sind einige Fehler und Ungenauigkeiten, die im vorgelegten Text enthalten sind und die bei einer Erörterung des Entwurfs mit Experten und Praktikern unschwer zu eliminieren gewesen wären. So ist in Ziffer 25 davon die Rede, daß jährlich "in der alten Bundesrepublik Deutschland pro Kopf der Bevölkerung ca. 100 kg Fleisch ... verbraucht" werden - ohne präzisierend hinzuzufügen, daß dies eine Bruttozahl ist und der Fleischverzehr pro Kopf der Bevölkerung ca. 63 kg (so der Stand von 1991) beträgt. In Ziffer 28 ist im Blick auf die rituelle Schlachtung die verschiedene Position der orthodoxen Juden zu wenig berücksichtigt und zugleich versäumt worden, das Dilemma zischen den Anforderungen des Tierschutzes und dem verfassungsrechtlich garantierten Grundrecht auf freie Religionsausübung zu würdigen. Die Aussagen in Ziffer 38 über "Jagdkonkurrenten" und "Regulierungsauftrag" des Menschen sowie in Ziffer 39 über das "Auffüllen" leergeschossener Reviere durch importierte Wildfänge oder kurzfristig ausgewilderte Tiere sind zu pauschal und teilweise korrekturbedürftig. Schließlich redet Ziffer 43, wo neben dem Stierkampf speziell das als Wettkampf organisierte Fangen von Fischen (Wettangeln) in Blick genommen werden sollte, fälschlich vom "Sportangeln" und verkennt dabei, daß Sportfischerei ein Traditionsname ist und die gesamte nicht erwerbsmäßig betriebene Fischerei bezeichnet.

Fehler und Ungenauigkeiten dieser Art sind bedauerlich, auch wenn sie im Falle des Diskussionsbeitrags Details und keine tragenden Aussagen betreffen. Es ist angeregt worden, für die 2. Auflage einen durchgesehenen und verbesserten Text zu erstellen. Aber dies scheitert schon an dem Umstand, daß die Tätigkeitsperiode des verantwortlichen Wissenschaftlichen Beirats im November 1991 endete. Der Diskussionsbeitrag dokumentiert den Erkenntnisstand eines bestimmten Personenkreises in einer bestimmten zeitlichen Situation und bedarf der Ergänzung, Korrektur und Weiterführung durch andere, neue Texte.

3. Dissens und Dialog

Die Diskussion über das Mensch-Tier-Verhältnis führt gegenwärtig, in der Kirche nicht anders als in der Gesellschaft insgesamt, in Kontroversen, die sich nicht überwinden lassen. Daß Dissense auftreten, bei den grundsätzlichen Fragen ebenso wie im Blick auf die konkreten Handlungsfelder, kann nicht überraschen; entscheidend ist, wie mit ihnen umgegangen wird.

Der Diskussionsbeitrag selbst offenbart einen tiefgehenden Dissens unter seinen Autoren. Er betrifft die Reichweite der Gewaltminderung gegenüber den Tieren, wird im III. Teil (Ziffer 17-19) prinzipiell verhandelt und im IV. Teil (Ziffer 20-48) mehrfach aufgegriffen. Der Wissenschaftliche Beirat hat sich bei der Vorbereitung des Diskussionsbeitrages dafür entschieden, den Dissens weder zu verschweigen noch durch einen faulen Kompromiß zu verwischen, ihn vielmehr offenzulegen und zum Gegenstand des Dialogs zu machen. In diesem Dialog zeigt sich bereits innerhalb des Beirats, daß der Dissens jedenfalls partiell keineswegs unüberbrückbar ist und durch geduldiges Aufeinanderhören der Konsens innerhalb des Dissenses verbreitert werden kann (vgl. vor allem Ziffer 25ff, 34ff und 40f). Freilich hat sich in den Reaktionen auf den Diskussionsbeitrag auch gezeigt, daß dieses differenzierte Vorgehen bei den Lesern Unklarheit und Verwirrung hervorrufen kann. Der Text, genau gelesen, vertritt als Generallinie unmißverständlich die Position der Gewaltminderung, die darauf aus ist, die Gewalt gegen Tiere zu begrenzen und einzudämmen. Er gibt aber Raum zur Selbstdarstellung auch der abweichenden Position des Gewaltverzichts, in der es darum geht, die Gewalt gegen Tiere fortschreitend zu überwinden und aufzuheben, und er läßt - ganz im Sinne seines Selbstverständnisses als eines für neue Einsichten offenen Diskussionsbeitrages - jedenfalls an einer Stelle (Ziffer 40) offen, "ob die radikale Position nicht eines Tages die herrschende sein wird". Mehrfach sind Spitzensätze der abweichenden Position aus Ziffer 18 zum Gegenstand kritischer Anfragen an den Diskussionsbeitrag insgesamt gemacht worden. Daran wird erkennbar, daß es offenbar nur unzureichend gelungen ist, Generallinie und abweichende Position in ihrem Verhältnis verständlich zu machen.

Gleichwohl bleibt es, auch für die Auseinandersetzung mit dem Diskussionsbeitrag, grundsätzlich der richtige Weg, den Dissens offenzulegen, zum Gegenstand des Dialogs zu machen und in geduldiger Annäherung partiell zu überbrücken. Ein gelungenes Beispiel für einen solchen Umgang mit den Kontroversen um den Diskussionsbeitrag ist der Dialog zwischen dem Deutschen Jagdschutz-Verband e.V. und dem Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland. In der abschließenden Pressemitteilung vom 25. Mai 1992 heißt es u.a.:

"..Die Vertreter des DJV-Präsidiums wiesen insbesondere darauf hin, daß die in den Ziffern 38, 39 und 43 des Diskussionsbeitrages vorgetragenen Ansichten über die Jagd den Realitäten und dem besonderen Bemühen der Jägerschaft um eine Humanisierung der Jagd nicht gerecht würden, sondern geeignet seien, daß Ansehen der Jäger und ihre Bemühungen um die Bewahrung der Schöpfung herabzuwürdigen. Beide Seiten heben gerade gegenüber einer besonders kritischen Beurteilung des Diskussionsbeitrages hervor, daß in Ziffer 38 die Berechtigung und Notwendigkeit einer waidgerecht ausgeübten Jagd im Rahmen der Hege und Pflege von Wald und Flur ausdrücklich anerkannt und bestätigt werden. Übereinstimmend wurde festgestellt, daß die Frage nach der ethischen Begründung der Jagd angesichts der modernen gesellschaftlichen Entwicklung und der zunehmenden Naturferne der meisten Menschen ihre Berechtigung hat. Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte habe sich ein Prozeß vollzogen, in dem sich die Jagd unter den Gesichtspunkten der Humanisierung und der Achtung des Tieres als Mitgeschöpf verändert habe; dieser Prozeß gehe weiter. Es gelte, die Menschen auf ihre enge Verbindung zu Natur- und Tierwelt wieder aufmerksam zu machen. Auch von Seiten der Vertreter des Kirchenamtes wurde eingeräumt, daß manche Formulierung dieser Aufgabe nicht gerecht werde..."

4. Radikalität und Nüchternheit

Der Dissens in der grundlegenden Frage - nämlich ob die Position der Gewaltminderung weitergetrieben werden dürfe oder müsse zu einer Position des Gewaltverzichts - besteht auch in den Reaktionen auf den Diskussionsbeitrag fort. Wolfgang Böhme wendet sich (im "Rheinischen Merkur" vom 17. Januar 1992) dagegen, die Argumentation eines "Schöpfungspazifismus" in einer kirchlichen Veröffentlichung zur Diskussion zu stellen, dadurch aufzuwerten und sozusagen "hoffähig" zu machen, weil "ethische Radikalismen und theologische Übertreibungen der Sache, um die es geht, nicht dienen, sondern der begründeten Forderung, das Verhältnis von Mensch und Tier sensibler und >humaner< zu gestalten, Abbruch tun." Erich Gräßer hingegen urteilt (in den "Evangelischen Kommentaren" Heft 1/92, S. 8), daß "mit der Forderung nach Gewaltminderung viel zu wenig verlangt" wird: "Die Exzesse verlangen das kompromißlose Nein ... Die Ethik der Ehrfurcht vor allem Leben (Albert Schweitzer) ist noch längst kein kirchliches Allgemeingut."

Wir tun gut daran, uns vor falschen Alternativen zu hüten, und sollten Radikalität ebenso wie Nüchternheit auf beiden Seiten der Kontroverse einfordern: Radikalität bedeutet, die Probleme an der Wurzel anpacken; dies verlangt - und das ist zwischen den kontroversen Positionen auch nicht umstritten -, Tiere nicht länger als Objekte der Nutzung zu betrachten, sie als Mitgeschöpfe anzusehen und mit der Mitgeschöpflichkeit ernst zu machen. Die Vorstellung eines umfassenden menschlichen Gewaltverzichts gegenüber den Tieren verträgt sich nicht - so die Generallinie des Diskussionsbeitrags - mit den Bedingungen des Lebens auf der Erde. Aber auch wer aus der Mitgeschöpflichkeit eine Position des Gewaltverzichts ableitet, muß nüchtern damit rechnen, daß der in Gang befindliche Wandel unseres Verhältnisses zur Natur (Mitwelt) und zu den Tieren (Mitgeschöpfe) mit einzelnen Schritten sich vollzieht; der Gedanke der Gewaltminderung kann aufgrund seiner inneren Dynamik weitreichende Konsequenzen haben. Die Schritte der Gewaltminderung beharrlich fortzusetzen - ist dieses nüchterne Programm nicht zugleich ungemein radikal?

Hannover, im August 1992

Dr. Hermann Barth
Oberkirchenrat im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland