Der trennende Zaun ist abgebrochen

Teil 1: Miteinander über die Geschichte sprechen

Warum überhaupt über die Geschichte sprechen? Ginge es nicht besser ohne die Geschichte?

Friedliche und auch freundschaftliche Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen gibt es schon seit Jahren. Besonders unter den Christen auf beiden Seiten scheint es ernsthafte Probleme kaum noch zu geben. Versöhnung ist für sie zu einer lebendigen Erfahrung geworden.

Offene Fragen und Meinungsverschiedenheiten aber treten auf, wenn man miteinander über die Geschichte spricht. Das betrifft nicht so sehr die Deutschen, die nicht aus den böhmischen Ländern stammen; ihnen ist die gemeinsame Geschichte oft nicht so wichtig. Aber für die Deutschen aus den böhmischen Ländern (Sudetendeutschen) und für die Tschechen ist die Geschichte von unermeßlicher Bedeutung.

Oft sehen sie die gemeinsame Vergangenheit allerdings unterschiedlich, einseitig. Wie auf der tschechischen, so auch auf der sudetendeutschen Seite stoßen wir auf die Neigung, die eigene Volksgruppe kompromißlos zu verteidigen und Schuld ausschließlich der anderen Nation zuzuweisen. Dieser wird unterstellt, schon in früher Vergangenheit von "national" motiviertem Haß bestimmt gewesen zu sein. Vieles in dieser Sichtweise spiegelt möglicherweise nur den späteren Nationalitätenkonflikt wieder. Aber auf beiden Seiten sind die gegenseitigen Vorbehalte tief verankert, beide Seiten haben bis heute verletzte Gefühle. Das wird in dem Augenblick, in dem man beginnt, über die Geschichte zu sprechen, besonders deutlich.

Heikle Fragen werden wir nicht los, indem wir ihnen ausweichen. Die verdrängte oder verleugnete Vergangenheit taucht immer wieder vor uns auf. Damit sie uns nicht auf Dauer bedrückt und verstört, müssen wir miteinander sprechen und an den Erinnerungen und Gefühlen der anderen Anteil nehmen. Und wir müssen nach der gemeinsamen geschichtlichen Wahrheit suchen. Es gibt nicht eine "tschechische Wahrheit" und eine "sudetendeutsche Wahrheit" nebeneinander. Wir glauben, daß wir zu einer gemeinsamen Sicht der Wahrheit finden können.

Wir - Christen auf beiden Seiten - haben dafür eine gute Vorbereitung dank der seit Jahrzehnten geführten Gespräche und guter Zusammenarbeit. Wir wissen, daß auch der Mensch anderer Sprache unser Nächster ist, auch der gestrige Feind. Wir wissen, daß Vergebung und neuer Anfang möglich sind. Deshalb sehen wir es als unsere Aufgabe an, auch über Dinge, die weh tun, das Gespräch zu eröffnen. Wir wollen nicht nur uns selbst in der Opferrolle sehen. Gerade die deutsch-tschechischen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts zeigen, daß es in der vielschichtigen und verwobenen Geschichte fast nie möglich ist, Täter und Opfer, Schuldige und Unschuldige jeweils nur auf einer Seite zu sehen. Darum keine Schuldzuweisung, sondern ein beiderseitiges Bemühen um Verständnis!

Der wichtigste Grund jedoch, um überhaupt alte Streitigkeiten in Erinnerung zu rufen und miteinander klarzustellen, ist der: Wir wollen sie nicht fortsetzen.

Wir wollen kein neues Buch über die deutsch-tschechische Geschichte schreiben. Solche Bücher gibt es genug und auf einige verweisen wir am Ende des dritten Abschnitts dieser Handreichung. Wir wollen auch der Arbeit der Gemeinsamen deutsch-tschechischen Historikerkommission nichts hinzufügen. Wir wollen für Deutsche und Tschechen, die sich als gute Nachbarn treffen möchten, und besonders für Christen auf beiden Seiten, historische Grundinformationen anbieten und empfindliche Stellen und offene Fragen aufzeigen.

Wann begann die Geschichte der deutsch-tschechischen Konfliktgemeinschaft?

Auf der deutschen Seite gibt es die Meinung, daß es genüge, bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und zur Entstehung der Tschechoslowakischen Republik (CSR) im Jahre 1918 zurückzublicken. Die Tschechen weisen darauf hin, daß die Gründung der CSR nicht zu verstehen sei, wenn man nicht den Ausbruch und den Verlauf des Ersten Weltkrieges bedenke. Es sei sogar sinnvoll, zu den Wurzeln des Problems bis - mindestens - in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurückzugehen.

Darum erinnern wir uns wenigstens in einigen wenigen Sätzen an unsere gemeinsame Geschichte von Anfang an.

Anfänge

Weder Deutsche noch Tschechen zählen zu den ursprünglichen Bewohnern Mitteleuropas. "Ursprünglich" ist in Europa letzten Endes niemand. In den böhmischen Ländern sind die Kelten das erste historisch bekannte Volk in den letzten fünf Jahrhunderten vor Christus. Nach ihnen lebten hier germanische Stämme in den ersten vier Jahrhunderten nach Christus, dann kamen die Slawen. Die Beziehungen der Slawen zu ihren germanischen Nachbarn waren von Anfang an nie problemlos. Das "Miteinander und Gegeneinander" (Franticek Palacký (1) ) war fruchtbringend, aber auch schmerzhaft, bereichernd, aber auch bedrohlich. Dieser zwiespältige Charakter der slawisch-germanischen Beziehungen wird bereits in den ältesten historischen Erwähnungen belegt. Im 7. Jahrhundert kam unter die Slawen der fränkische - die Franken waren ein germanischer Stamm - Kaufmann Samo. Die von ihm geführten Slawen stürzten nicht nur die Oberherrschaft der aus Asien eingedrungenen Avaren, sondern besiegten auch das Heer des Frankenkönigs Dagobert.

Bis zum 13. Jahrhundert waren die Deutschen für die Tschechen nur stärkere Nachbarn, mit denen ein modus vivendi zu finden war. Die Tschechen lösten das Problem so, daß sie im 9. Jahrhundert freiwillig das Christentum annahmen und ihren Staat im folgenden Jahrhundert in das von deutschen Königen regierte Heilige Römische Reich eingliederten, so jedoch, daß sie in dessen Rahmen ihre eigenständige Stellung aufbauten und verteidigten. Der böhmische König stieg schließlich im 13. Jahrhundert zum ersten Kurfürsten (Wähler des deutschen Königs) auf. Doch auch als Herrscher des Heiligen Römischen Reiches konnte der deutsche König keine unmittelbaren Rechte im böhmischen Staat wahrnehmen.

Die deutsche Ostsiedlung

Im 13. Jahrhundert veränderte sich der Charakter der Beziehungen, als böhmische Herrscher deutsche Kolonisten ins Land einluden. Diese besiedelten einerseits die wenig bewohnten, bewaldeten Grenzregionen. Sie ließen sich aber auch unter der einheimischen Bevölkerung nieder, gründeten Städte, wirkten bei der Entfaltung der Handwerke und des Handels mit. Von da an haben die deutsch-tschechischen Beziehungen zwei Gesichter. Einerseits ist es das Verhältnis von zwei Nachbarvölkern und -staaten, eines großen und eines kleinen, andererseits das Verhältnis von zwei Sprachgruppen inmitten der böhmischen Länder, der tschechischen Mehrheit und der deutschen Minderheit.

Der höhere kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungsstand der deutschen Kolonisten und die Unterschiedlichkeit beider Sprachen, der deutschen und der tschechischen, führten dazu, daß diese beiden Gruppen nicht verschmolzen. Das galt auch, als sich im Laufe der Jahrhunderte viele Deutsche der tschechischen Sprache und viele Tschechen der deutschen Sprache bedienten - was u.a. zahlreiche tschechische Namen unter Deutschen und umgekehrt belegen. Es blieb bei zwei Sprachgruppen in einem Land, es blieb bei dem "Miteinander und Gegeneinander". Die Amtssprache des böhmischen und mährischen Landes war - nach dem zuerst üblichen Latein - jedoch das Tschechische.

Die im Lande niedergelassenen Deutschen hatten wie die Tschechen alle Rechte der Untertanen des böhmischen Königs (2) , waren jedoch immer eine Minderheit, wenn auch eine kulturell und ökonomisch bedeutende. Beide, Tschechen und Deutsche, waren Angehörige des böhmischen Staates. Gemeinsam gingen sie den Weg von den Hussitenkriegen (1419 - 1434) bis zur Epoche des Königs Georg von Podiebrad (1458-1471), eines Vordenkers des europäischen friedlichen Zusammenlebens. Ihrem Land errangen sie eine für die damalige Zeit außergewöhnliche Toleranz und damit verbunden Gewissensfreiheit. Gemeinsam mit anderen Völkern brachten sie die Reformation voran.

Der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen

Nachdem die böhmische Krone an das Haus Habsburg gefallen war, setzte allmählich eine politische Verschiebung ein, die mit dem Dreißigjährigen Krieg zu einem tiefgreifenden Umschwung führte. Absolutistische Tendenzen und die massiv vorangetriebene Gegenreformation setzten sich zunehmend durch. Nach der Niederlage der böhmischen Stände gegen die Habsburger in der Schlacht am Weißen Berge (1620) verlor der böhmische Staat seine Bedeutung zuerst faktisch, später auch rechtlich, besonders in der Zeit der Zentralisierung am Ende des 18. Jahrhunderts. Die böhmische politische Nation verschwand aus der historischen Szene. Im Zuge der Gegenreformation mußten alle Freien (Adlige und Stadtbürger), die nicht katholisch werden wollten, das Land verlassen. Diejenigen, die ihren Platz einnahmen, kamen vielfach aus Spanien und Italien und orientierten sich am kaiserlichen Hof in Wien. Den Niedergang der politischen Bedeutung der böhmischen Länder empfanden die Tschechen schmählicher als die deutsche Bevölkerung, die sich leichter mit dem österreichischen Staatsverbund, mit den Deutschen in den österreichischen Alpenländern, identifizierten.

Mit den politischen Verschiebungen im Gefolge des Dreißigjährigen Krieges ging eine nachhaltige Veränderung in dem dynamischen Gleichgewicht der beiden Sprachen einher. Einerseits verloren die böhmischen Länder durch Krieg und Seuchen einen beträchtlichen Teil ihrer Bevölkerung; wenn neue Siedler auf ihren Platz kamen, waren sie vorwiegend deutschsprachig. Andererseits gewann die deutsche Sprache mit der wachsenden Ausrichtung nach Wien an Gewicht. Deutsche in den böhmischen Ländern wurden somit zahlenmäßig und in ihrer Bedeutung stärker; sie waren überall dort, wo es Reichtum, Kultur und Macht gab. Tschechisch blieb die Sprache des Landvolkes und der Dienstboten. Die tschechische Kultur war so für mehr als 100 Jahre in ihrer Entwicklung gestört. Sie erhielt erst wieder Impulse, als im Rahmen der europäischen Aufklärung im 18. Jahrhundert neue Generationen von tschechischen Gebildeten heranwuchsen, vor allem Priester und Lehrer.

Mit diesen Verschiebungen entstanden die Voraussetzungen der späteren Konflikte.

Die nationale Wiedergeburt, Volk als Sprachgemeinschaft

Der aufgeklärte Absolutismus in der Habsburger Monarchie schuf eine einheitliche staatliche Verwaltung und ein Bildungssystem mit einheitlicher, d.h. deutscher Sprache. Er bezog darin auch die böhmischen Länder ein.

Dagegen trat die tschechische Bewegung der nationalen Wiedergeburt auf. Sie entwickelte sich in derselben Zeit wie das Erwachen des nationalen Bewußtseins anderer europäischer Völker und orientierte sich an den gleichen Grundgedanken wie die zeitgenössischen Geistesströmungen in Deutschland, besonders an den Ideen von Herder(3) . Dieser hat in Deutschland maßgeblich zum neu aufkommenden Selbstverständnis des Volkes als einer natürlichen, von Sprache und gemeinsamer Herkunft getragenen Kraft beigetragen. Diese Sichtweise unterschied sich deutlich von der im westlichen Europa und in Nordamerika vorherrschenden Auffassung des Volkes als politischer Gemeinschaft der Bürger eines Landes, die sich in diese Gemeinschaft eingliedern wollen.

Das sind unterschiedliche Konzepte des nationalen Staates. Die Tschechen übernahmen wie die Deutschen das romantische, an Herkunft und Sprache ausgerichtete Konzept. Dies aber ließ sich in einem Land, in dem seit sieben Jahrhunderten eine aus zwei Sprachgemeinschaften gemischte Bevölkerung lebte, nicht verwirklichen, mußte vielmehr das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen bedrohen. Die tschechische Wiedergeburt besann sich zusätzlich auf die Traditionen des Hussitentums und der Bruderunität mit ihren geistigen und humanitären Werten. Das brachte Palacký in seiner "Geschichte des tschechischen Volkes in Böhmen und Mähren" (s. Anmerkung 1) zum Ausdruck. In seiner Zeit gin der Kampf von Jan Hus, nicht gegen Gewissen und Vernunft handeln zu müssen, in der Auflehnung gegen den Absolutismus der Habsburger Monarchie weiter.

Die Revolution von 1848 und ihre Auswirkungen

Bereits im Revolutionsjahr 1848 zeichneten sich die Konflikte ab, als die Tschechen wieder als politisches Volk in Erscheinung traten. In Frankfurt am Main trat damals das deutsche nationale Parlament zusammen, dessen Ziel es war, das in viele Staaten und Kleinstaaten geteilte Deutschland zu vereinigen. Man war bestrebt, auch westliche, d.h. österreichisch-böhmische Teile der Habsburger Monarchie anzugliedern.

Palacký lehnte die Einladung nach Frankfurt ab. Er erklärte, daß die Tschechen ein slawisches Volk wären, in dessen Interesse - und auch zugunsten weiterer kleiner Völker - die Habsburger Donaumonarchie erhalten und in eine Föderation von gleichberechtigten Völkern umgewandelt werden müsse. Der Kampf für die nationale Gleichberechtigung in der Habsburger Monarchie war dann das langfristige Ziel der tschechischen Politik. Das andere Ziel war das Bemühen um die Erneuerung des böhmischen Staates im Rahmen der Donaumonarchie. Das wurde besonders aktuell, als infolge des österreichisch-ungarischen Ausgleichs (1867) der ungarische Staat erneuert wurde. Die Tschechen forderten das Gleiche; der österreichische Staatenbund bestand ja ursprünglich aus drei Einheiten: den Ländern der Böhmischen Krone, den ungarischen Ländern und den österreichischen Ländern.

Die Tschechen erreichten ihre Ziele trotz wiederholter Versuche nicht. Sie scheiterten nicht nur am Widerstand der Magyaren, sondern vor allem an den Vorbehalten der böhmischen Deutschen. Beide Völker behinderten einander in den böhmischen Ländern. Wegen der Tschechen konnten sich die böhmischen Deutschen nicht dem 1871 gegründeten deutschen Nationalstaat anschließen. Wegen der böhmischen Deutschen konnten die Tschechen den böhmischen Staat nicht erneuern; die Deutschen wollten nicht als Minderheit in einem Staat mit gestärkter tschechischer Mehrheit leben. Das beiderseitige Mißtrauen wuchs. Beide Volksgruppen bemühten sich um innere Geschlossenheit und Abgrenzung von der jeweils anderen. Die Spannungen überdauerten das Habsburger Reich.

Am Ende des 19. Jahrhunderts betrieben deutsch-böhmische Politiker die Teilung der böhmischen Länder entlang der Nationalitätengrenze. Im Jahre 1890 ging ein Teil der tschechischen Repräsentation sogar auf diese Pläne ein, zu deren Durchführung es aber nicht kam. Durch sie wären künftige Auseinandersetzungen schwerlich zu vermeiden gewesen. Neben Regionen, in denen eine der Sprachen deutlich überwog, gab es nämlich zahlreiche Städte sowie ganze Gebiete mit gemischter Bevölkerung. Jede mögliche Grenze wäre deshalb umstritten geblieben. Zudem wäre sie als künstlich gezogene Linie quer durch das Land, das eine organische wirtschaftliche Ganzheit bildete, nicht akzeptabel gewesen.

Jede der beiden Seiten fragte: was ist mit dem anderen Volkstum, das in "unserem" nationalen Raum so hinderlich ist, zu machen? Der Gedanke an eine Vertreibung des anderen aus dem gemischten Gebiet kam bereits im vorigen Jahrhundert auf, damals unter den radikalen böhmischen Deutschen, und es waren die Tschechen, die vertrieben werden sollten.

In den böhmischen Ländern im vorigen Jahrhundert geschah das nicht. Die Streitigkeiten entluden sich allein in Worten. Aber die gegenseitige Entfremdung nahm mehr und mehr zu.

Der Erste Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg, durch den Angriff der Habsburger Monarchie auf Serbien ausgelöst, verschärfte die schon bestehenden Probleme. Von den Tschechen verhielt sich nur eine kleine Gruppe der Klerikalen und der Sozialdemokraten loyal der Regierung in Wien gegenüber. Auch die Gruppe, die sich für den aktiven Widerstand entschied, für den einheimischen (Kramár(4) und Klofác(5)) wie für den vom Ausland aus (Masaryk(6), Benes(7) und Stefánik(8) ) organisierten, war anfangs klein. Die Mehrheit der tschechischen Repräsentanten verhielt sich abwartend und passiv.

Die meisten Tschechen sahen im Habsburgerreich nicht mehr ihren Staat und wollten nicht dafür kämpfen, insbesondere nicht gegen Serben und Russen, die sie für ihre slawischen Verwandten hielten. Trotzdem mußten tschechische Soldaten für Österreich-Ungarn kämpfen und sind dabei in großer Zahl gefallen. Viele verweigerten den Dienst in der Armee oder desertierten. Nicht wenige Tschechen wurden hingerichtet. Viele von denen, die in der Armee blieben, ergaben sich bei der ersten Berührung mit dem Feind.

In Rußland und in Frankreich wurden aus dort lebenden Tschechen militärische Einheiten gebildet. Nach vielen schwierigen Verhandlungen des Widerstandes unter Masaryk wurden sie unter Einbeziehung tschechischer und slowakischer Gefangener in Rußland, Italien und Frankreich zu tschecho-slowakischen Auslandstruppen, den Legionen zusammengefaßt, die in den Armeen der Entente an verschiedenen Fronten kämpften. Dies wirkte sich später bei den Verhandlungen mit den Siegermächten über die Gründung der Tschechoslowakischen Republik positiv aus.

Während der militärischen Erfolge von Deutschland und Österreich-Ungarn wuchs das Selbstbewußtsein der österreichischen (und damit auch der böhmischen) Deutschen. Nach einem siegreichen Krieg wollten sie ein von Deutschen dominiertes Mitteleuropa bilden. Der österreichische Teil der Monarchie sollte sich an das Deutsche Reich anlehnen. Die Tschechen sollten darin als nationale Minderheit leben und mit weniger Rechten abgespeist werden als denen, die sie durch die schrittweise Entwicklung vor 1914 erreicht hatten. Daß viele Deutsche geringschätzig auf sie herabblickten, war den Tschechen bewußt. "Ich halte es für eine Beleidigung des deutschen Volkes, falls es mit Tschechen, Slowenen oder Ungarn verglichen wird" (Kaiser Wilhelm II., 1899).

Bei einer Niederlage würde die Monarchie keine Chance haben, ihr Staatsgebiet zu erhalten. Außer der Vereinigung Polens und der Selbständigkeit der Südslawen war bei einer Niederlage auch die Unabhängigkeit Ungarns zu erwarten. Der Rest Österreichs würde sich dann einschließlich der böhmischen Länder zweifellos auf die Seite Deutschlands schlagen. Für die Tschechen wäre diese Situation ähnlich ungünstig gewesen wie bei einem Sieg Österreichs.

In dieser Lage wurde die Gründung der Tschechoslowakischen Republik (CSR) (9) nach dem Zerfall Österreichs von tschechischen Politikern im In- und Ausland für die einzige hoffnungsvolle Alternative für ihr Volk gehalten. Im Jahre 1918, nach vier Jahren des Tötens, der Armut und des wachsenden Hasses, war es nicht vorstellbar, daß die Habsburger Monarchie in einen Staat gleichberechtigter Völker umgewandelt werden könnte, nachdem in der Friedenszeit die Kräfte und der Wille dazu nicht ausgereicht hatten. Für die Slowaken bedeutete die Gründung der CSR die Befreiung von der ungarischen Oberherrschaft; die Ungarn verfolgten vor dem Krieg eine harte Unterdrückungspolitik gegenüber den nationalen Minderheiten. Die Tschechoslowakische Republik verbesserte auch die Chancen für den Fortbestand der Karpatendeutschen, die gleicherweise der Magyarisierung ausgeliefert gewesen waren(10).

Wer hatte in den böhmischen Ländern das Recht auf Selbstbestimmung?

Als Tschechen gemeinsam mit slowakischen Repräsentanten die Tschechoslowakische Republik proklamierten, beriefen sie sich auf das Selbstbestimmungsrecht. Im westlichen (böhmischen) Teil der Republik bekannten sie sich zudem zum historischen böhmischen Staatsrecht und forderten die Erneuerung des Staates in seinen historischen Grenzen. Für die böhmischen Deutschen war das Kriegsergebnis schockierend. Sie wollten es nicht zulassen, in der Zeit des gesteigerten Nationalhasses als Minderheit in einen slawischen Staat zu geraten. Ihre Sprecher beriefen sich ebenfalls auf das Selbstbestimmungsrecht, lehnten die Einladung in den tschechoslowakischen Nationalausschuß ab und wollten sich zunächst Deutsch-Österreich(11) anschließen (29.Oktober 1918). Nach ihren Vorstellungen sollten die von Deutschen besiedelten Distrikte West- und Nordböhmens (Deutschböhmen), in Nordmähren sowie in Schlesien (Sudetenland(12) ) österreichische Provinzen werden. Für die deutschen Gebiete in Südböhmen und in Südmähren war die unmittelbare Eingliederung nach Ober- bzw. Niederösterreich vorgesehen. Die siegreichen Alliierten ließen diese Wünsche zugunsten der tschechischen Option unbeachtet.

Nach der Proklamation der Tschechischen Republik und dem Beginn der Besetzung des Grenzlandes durch tschechoslowakische Truppen schlossen sich die deutsch-böhmischen Repräsentanten der österreichischen Forderung an, alle mehrheitlich von Deutschen bewohnten Gebiete der Republik Deutsch-Österreich in das Deutsche Reich zu inkorporieren. Auch diese Forderung wurde von den Alliierten nicht akzeptiert. Nicht einmal das gerade zur Republik gewordene Deutsche Reich, das als einer der ersten Staaten die Tschechoslowakei diplomatisch anerkannte, war daran interessiert.

Damals waren die historischen Grenzen der böhmischen Länder, insbesondere von Böhmen und Mähren, schon tausend Jahre alt. Diese Länder hatten die ganze Zeit über ihre Einheit bewahrt. Die deutschen Grenzgebiete verfügten untereinander über keine andere Verbindung als die durch das Binnenland; ohne dieses hätten sie nur als Teile Deutschlands bzw. Österreichs existieren können. Das böhmische Binnenland seinerseits konnte ohne das Grenzland als selbständiger Staat überhaupt nicht existieren. "Von der Logik der Dinge betrachtet, schloß jede Selbstbestimmung der wie auch immer anerkannten ethnischen Gruppen in den böhmischen Ländern, der Deutschen wie der Tschechen, zugleich auch eine Fremdbestimmung ein ..., nämlich eine Bestimmung über den anderen Bevölkerungsteil, über dessen Wirtschaft, Politik und Lebensraum" (Ferdinand Seibt(13) ).

Es bleibt die Frage: War das Selbstbestimmungsrecht in Ländern mit gemischter Bevölkerung überhaupt anwendbar, ohne die Rechte der jeweils anderen Volksgruppe zu verletzen? Ist es daher vertretbar, auch heute noch unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht die politischen Entscheidungen und Veränderungen der letzten achtzig Jahre entweder zu rechtfertigen oder ihre Revision zu verlangen?

Die Erste Republik

Die Gründung der Tschechoslowakei in den Grenzen, die auch die zahlenmäßig starke deutsche Minderheit einschlossen, wurde von den Alliierten bestätigt. Präsident Masaryk sagte dazu in seiner ersten Botschaft an die Nationalversammlung am 22. Dezember 1918: "... das von den Deutschen bewohnte Gebiet ist und bleibt unser ... Wir haben unseren Staat geschaffen. Dadurch wird die staatsrechtliche Stellung unserer Deutschen bestimmt, die ursprünglich als Immigranten und Kolonisten ins Land kamen ..." Besonders der letzte Satz ist, aus dem Kontext gerissen, auf deutscher Seite als Beleg der antideutschen Gesinnung Masaryks aufgefaßt worden. In derselben Ansprache reichte er jedoch den Deutschen auch die Hand zur Zusammenarbeit: "... Wir nehmen sie gerne auf, wenn sie sich für die Zusammenarbeit entscheiden. Niemand kann uns übelnehmen, wenn wir nach so vielen bitteren Erfahrungen vorsichtig sein werden, aber ich versichere, daß die Minoritäten in unserem Staat volle nationale Rechte und bürgerliche Gleichberechtigung genießen werden." (14)

Die Deutschen wollten sich jedoch über lange Jahre hinweg nicht für eine Zusammenarbeit entscheiden. Am 4. März 1919 fanden an mehreren Orten Kampfdemonstrationen statt, wobei die Deutschen dagegen protestierten, daß ihr Recht auf Selbstbestimmung mißachtet werde. Sie verübten Anschläge auf öffentliche Gebäude und zerstörten Staatswappen. Als tschechische Truppen gewaltsam dagegen vorgingen, gab es 53 Tote, davon 51 auf deutscher Seite. Das entfremdete die beiden Nationalitäten weiter.

Masaryk ging es sicherlich nicht um die Gründung des Nationalstaates im ethnischen Sinne. In der CSR lebten Tschechen, Slowaken, Deutsche, Ruthenen, Polen, Ungarn und unter ihnen auch Juden. Masaryk selbst war vom Vater her Slowake, seine Mutter war eine deutsch erzogene Mährin, seine Frau Amerikanerin. Er nahm sich die amerikanische Demokratie zum Vorbild und konnte so unter dem Begriff des "tschechoslowakischen Volkes" auch "Deutsch sprechende Tschechoslowaken" verstehen. In einem Umfeld aber, das durch mehr als ein halbes Jahrhundert der Auseinandersetzung vom nationalen Selbstbehauptungskampf geprägt worden war, konnte sich eine solche Sichtweise bei der Mehrheit weder der Tschechen noch der Deutschen durchsetzen.

Die Frontstellung ähnelte der in der Habsburgermonarchie, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Damals hatten sich die Tschechen unterdrückt gefühlt. Die Deutschen pflegten dagegen einzuwenden, daß es Unterdrückung nicht gäbe, da ja die Tschechen über alle Schulen bis zur Universität verfügten, auch ein Nationaltheater und ein Nationalmuseum besaßen. Die Tschechen betonten, daß sie den ihnen gebührenden Anteil an Eigenständigkeit in Österreich-Ungarn nicht hätten erreichen können. Und daß sie, obwohl zahlenmäßig stärker, in ihrem Lande immer nur an zweiter Stelle gestanden hätten. Die Deutschen hatten sie immer ihre angebliche gesellschaftliche und kulturelle Überlegenheit spüren lassen(15).

In der Ersten Republik fühlten sich umgekehrt die Deutschen zurückgesetzt. Die Tschechen pflegten einzuwenden, daß es sich um keine Diskriminierung handelte, da ja die Deutschen auch weiterhin ihr hochentwickeltes Schulwesen bis zur deutschen Universität in Prag und starke Positionen in Industrie und Handel behielten. An den Errungenschaften der Demokratie in der CSR, an der proportionalen Vertretung in Gemeinden, am Frauenwahlrecht, an der sozialen Gesetzgebung hätten sie vollen Anteil. Die Deutschen empfanden es trotzdem als ungerechte Abwertung, nicht mehr Staatsvolk zu sein und somit zweitrangig. Sie sahen sich durch das Sprachengesetz von 1920 und durch die Bodenreform benachteiligt, auch durch die Gründung von tschechischen Minderheitenschulen im deutschen Siedlungsgebiet und durch die ihrem Empfinden nach demütigende Besetzung der Behörden im Grenzland mit tschechischen Staatsbeamten. Gelegentlich von tschechischen Nationalisten geäußerte Absichten, das "verdeutschte" Gebiet zu "tschechisieren", waren zwar ganz unrealistisch. Solche Ankündigungen wühlten jedoch die Deutschen zusätzlich auf und beleidigten sie. Der tschechische Nationalismus untergrub somit kurzsichtig die Existenz der jungen Republik. Die meisten Tschechen sahen nicht die dringende Notwendigkeit, die deutsche Minderheit für die tschechoslowakische Demokratie zu gewinnen. Das galt analog für die anderen Minderheiten, etwa Ungarn, Polen usw. Warnende Stimmen blieben nur vereinzelt und fanden kein Gehör (Emanuel Rádl(16)).

Die Erste Republik gewährte jedoch bei allen ihren Mängeln den Deutschen einen demokratischen Lebensraum. Sie machte ihnen ein vergleichsweise günstiges Angebot, indem sie ihnen individuelle bürgerliche Rechte in größerem Umfang zuerkannte als jeder andere Nachfolgestaat des alten Habsburgerreiches. So beruhigten sich die Beziehungen zwischen den Nationalitäten Schritt für Schritt. Unter den Deutschen wurden die "aktivistischen" Parteien, die sich für die politische Mitarbeit in der CSR entschieden hatten, stärker. Seit 1926 waren deutsche Politiker in der Regierung vertreten. Nach der Einführung der Diktatur in Deutschland und Österreich konnten sich böhmische Deutsche weiterhin der Meinungs- und Pressefreiheit erfreuen. Die CSR gewährte Emigranten Asyl, Russen sowie Deutschen. Karl Popper(17) bezeichnete sie später als die damals aufgeschlossenste Gesellschaft (1994).

Zu einer Wende kam es in der Zeit der Weltwirtschaftskrise nach 1929, von der die deutsche Leichtindustrie im Grenzland stärker betroffen war als die tschechische Industrie im Binnenland. Die Arbeitslosigkeit lag im Grenzland wesentlich höher und infolgedessen erreichte dort die Armut oft die Hungergrenze. Die kurzsichtige tschechische Politik, unsensibel gegenüber den schwer betroffenen deutschen Gebieten, verschärfte und verlängerte unnötig die Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Den Kritikern dieser Politik gelang es im Rahmen der Regierungskoalition und Parteimaschinerie nicht, einen Ausgleich zu erreichen(18) . Diese Unfähigkeit ist einer der Gründe, warum die Propaganda Hitlers, der die CSR nichts entgegenzusetzen hatte, für die Deutschen in der Tschechoslowakei so verführerisch war. In einer solchermaßen verfehlten Wirtschaftspolitik besteht der gewichtige Anteil der tschechoslowakischen Verantwortung für das Scheitern der Ersten Republik.

Bei den Wahlen 1929 verblieb ein Drittel der deutschen Wähler im Lager der Anhänger der großdeutschen Ideologie und lehnte es ab, sich mit dem Verlust privilegierter Positionen aus den Zeiten Österreichs abzufinden. Bei den Wahlen 1935 wandte sich ein weiteres Drittel der böhmischen Deutschen von den "Aktivisten" ab und gab seine Stimme der "Sudetendeutschen Partei" Konrad Henleins, die ihre Lage zu verbessern versprach(19) . Diese Partei geriet jedoch immer stärker in Abhängigkeit von der Politik Berlins und setzte damit die Mehrheit der deutschen Bevölkerung in den böhmischen Ländern dem direkten Einfluß Hitlers aus. Die der nationalsozialistischen Weltanschauung folgende SdP war von vornherein antiparlamentarisch und dem deutschen Vormachtstreben verbunden. Ihre Mitglieder und Sympathisanten trugen wesentlich zur Zerschlagung der Ersten Republik bei. Darin liegt der ausschlaggebende Anteil der sudetendeutschen Verantwortung für deren Scheitern.

1938 entschied sich Hitler, die Tschechoslowakei zu zerschlagen. Ihm ging es nicht um die Sudetendeutschen, er benutzte sie als Figuren auf seinem Schachbrett, um eine internationale Krise heraufzubeschwören. Ohne ihre aktive Mithilfe hätte Hitler, der schon im Sommer 1938 einen Krieg auslösen wollte, freilich nicht den nationalen Druck ausüben können, der im Diktat von München mündete. Unter den böhmischen Deutschen gab es allerdings - als Minderheit - auch Demokraten. Sie wurden schon vor München zu Opfern des Terrors der Anhänger Henleins. Tschechoslowakische Behörden nahmen sie dagegen nur ungenügend in Schutz.

Bis heute fällt es vielen Tschechen nicht leicht, Mängel und Fehler der Ersten Republik, gerade in Bezug auf die deutsche Minderheit, einzusehen. Für die Sudetendeutschen ist es jedoch wichtig, daß die Tschechen wenigstens die Umstände wahrnehmen, die sie für die nazistische Propaganda empfänglich gemacht haben.

Bis heute fällt es den Sudetendeutschen nicht leicht anzuerkennen, daß ihre damalige Unterstützung des Expansionsstrebens des nationalsozialistischen Regimes eine verhängnisvolle Verirrung war. Die Tschechen erklären jedoch gerade damit den Ausbruch ihres Hasses in der Nachkriegszeit.

Das Diktat des Münchener Abkommens

Im September 1938 war es bereits klar - auch ausländische umsichtige Denker und Politiker sahen es -, daß es bei der Gegenwehr gegen die deutschen Machtansprüche um mehr als nur die Grenzgebiete von Böhmen und Mähren ging, daß es sich vielmehr um den Kampf um die Demokratie überhaupt handelte. Karl Barth(20) schrieb am 19. September 1938 an Josef L.Hromádka(21) : "Mit der Freiheit Ihres Volkes steht und fällt heute die von Europa und vielleicht nicht nur von Europa ... Jeder tschechische Soldat, der streitet und leidet, wird es auch für uns und - ich sage es ohne Vorbehalt - er wird es auch für die Kirche Jesu Christi tun, die in dem Dunstkreis der Hitler und Mussolini nur entweder der Lächerlichkeit oder der Ausrottung verfallen kann."

Das tschechische Volk stellte sich mit Begeisterung auf die Verteidigung der Republik ein. Dazu sollte es durch die Entscheidung der vier Großmächte, deren Vertreter sich in München trafen(22) , nicht kommen. Die Teilnehmerstaaten nannten ihre Verabredung "Münchener Abkommen", die Tschechen sprachen und sprechen vom "Münchener Diktat", weil Vertreter der Tschechoslowakei bei den Münchener Verhandlungen nicht mitwirken konnten und das "Abkommen" der Tschechoslowakei die Abtretung ihrer Grenzgebiete an Deutschland diktierte. Ohne Kampf räumte die tschechoslowakische Armee die Grenzfestungen. Zehntausende Tschechen flüchteten ins Inland, um der Bedrohung durch die Deutschen zu entgehen oder weil sie in ihrer bisherigen Heimat, die plötzlich zum Teil des Großdeutschen Reiches wurde, nicht leben wollten und konnten. Die schockierte tschechische Gesellschaft war enttäuscht über den Verrat der Verbündeten und über die Niederlage ihrer Demokratie. Die Tschechen empfanden die Erniedrigung so tief, daß das dadurch ausgelöste Trauma bis heute lebendig geblieben ist.

Demokratische Deutsche blieben der Republik treu bis zum Ende. Sie brachten auch im Kampf gegen Hitler die größten Opfer. Von den Tschechen wurde ihnen die in dieser Lage erforderliche Solidarität nicht gewährt. Als die deutsche Armee das Sudetenland besetzte, wurden von tschechischen Gendarmen in mehreren Fällen Züge mit deutschen Flüchtlingen in das Sudetenland zurückgeschickt. Aber auch Sudetendeutsche, die die Armee Hitlers mit Begeisterung begrüßt hatten, fanden heraus, daß sie betrogen worden waren. Für die nationalsozialistische Verwaltung galten sie weiterhin als unzuverlässig, im Krieg wurden sie absichtlich auf die gefährlichsten Kampfplätze abkommandiert, wo viele von ihnen fielen. Sudetendeutsche waren also nicht nur Träger, sondern wurden auch Opfer des Nazismus.

Das Protektorat

Ein halbes Jahr nach dem Münchener Abkommen besetzte Hitler den Rest der böhmischen Länder und stellte sie "unter seinen Schutz". Somit gewann er, ohne zu kämpfen, nicht nur das Sudetenland, sondern die ganze Tschechoslowakei. Am 15. März 1939 wurde der Rest der böhmischen Länder zum Protektorat Böhmen und Mähren, der Rest der Slowakei wurde zur "freien", faktisch jedoch ganz und gar abhängigen Republik. Hitler eroberte dabei die vergleichsweise gute Ausrüstung der tschechoslowakischen Armee und moderne tschechische Waffenfabriken.

Die Aufopferung der Tschechoslowakei erwies sich als vergeblich; die Illusionen, das Münchener Abkommen hätte den Frieden gerettet, zerrannen. Einige Monate später entfesselte Deutschland tatsächlich den Krieg; es überfiel Polen und danach weitere Länder in Europa. Selbst Hitlers Widersacher unter den Sudetendeutschen(23) rechneten zu Kriegsbeginn mehrheitlich nicht mit einer Erneuerung der CSR nach dem Ende der Kämpfe. Allein die reichsdeutsche Exil-SPD erklärte bereits im September 1939: "Die Wiedererrichtung der CSR , wie wir sie verstehen, bedeutet nicht eine Wiedererrichtung aufgrund des Status von München, ohne das Sudetenland, sondern die Aufhebung der Münchener Grenzen zwischen Deutschland und der Tschechoslowakischen Republik so wie sie vor München bestand." Doch das blieb eine vereinzelte Stimme.

Überall, wo die deutschen Armeen hinkamen, ergoß sich eine Flut von schrecklichen Gewalttaten über die Bevölkerung. Vor allem die Juden, aber nicht nur sie, wurden verhaftet und ermordet. Auch in den böhmischen Ländern wurden unmittelbar nach der Besetzung Demokraten und andere Gegner des Nazismus verhaftet. Im Herbst 1939 wurden die tschechischen Hochschulen geschlossen und Studentenvertreter hingerichtet. Ganze Jahrgänge junger Leute mußten Zwangsarbeiten im Reich leisten. Zu Opfern der deutschen Okkupation wurden auch hier hauptsächlich Juden und neben ihnen vorwiegend Angehörige der tschechischen Intelligenz wie Universitätsprofessoren, Lehrer, Schriftsteller, Leiter der Jugendorganisationen u.a. Dieses Vorgehen stand im Einklang mit den deutschen Absichten, die allerdings erst nach dem Krieg vollständig offengelegt werden konnten: der am wenigsten "verläßliche" Bestandteil des Volkes, die Intelligenz, sollte liquidiert werden; von den anderen sollte der "gutrassige" Teil eingedeutscht, der Rest in Räume von geringerem Interesse für Deutschland, so z.B. auf die Krim, abgeschoben werden(24).

In der Ablehnung der Besetzung und des Protektorats sowie unter dem Eindruck des Besatzerterrors vereinigte sich allmählich die Mehrheit der Tschechen in Verweigerung und Widerstand. Nach dem Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich im Mai 1942 nahm der Terror massiv zu. Mit einem Schlag wurden "zur Warnung" die beiden Dörfer Lidice und Lekáky ausgerottet. Täglich fanden Hinrichtungen von einigen Dutzend Personen statt, deren Namen in allen Gemeinden veröffentlicht und im Rundfunk verlesen wurden.

Die Verluste an Leben infolge des Terrors auf dem gesamten Gebiet der Tschechoslowakei, durch das im Unterschied zu Polen oder Rußland der Krieg nicht tobte, werden auf 340.000 bis 360.000 Opfer geschätzt. Zwei Drittel davon waren Juden. Die täglichen Erfahrungen des deutschen Terrors gaben den Tschechen eine Vorstellung davon, was sie im Falle des Sieges von Hitler zu erwarten haben würden. Zunehmend baute sich bei ihnen daraus die Überzeugung einer Kollektivschuld aller Deutschen und das Verlangen nach Vergeltung auf. Dieses entlud sich nach dem Krieg in Vorgängen und Aktionen, die vielen Deutschen unbegreiflich waren und sie betroffen fragen ließen, wie die Tschechen ihnen so viel Leid zufügen könnten.

Aus sudetendeutscher Sicht wird geltend gemacht, daß an der Unterdrückung der tschechischen Einwohner nur ein relativ kleiner Teil der Sudetendeutschen unmittelbar beteiligt gewesen sei und daß die härtesten Maßnahmen von den in das Protektorat abkommandierten Reichsdeutschen ausgegangen seien. Die Tschechen erinnern demgegenüber daran, daß für die antitschechischen Repressalien die Sudetendeutschen zu einem erheblichen Teil die Verantwortung getragen hätten. Für sie ist der deutsche Statthalter und Staatsminister in Böhmen und Mähren Karl Hermann Frank(25) zu einer Symbolfigur dieser sudetendeutschen Verantwortung geworden.

Der nazistische Terror dauerte in den böhmischen Ländern bis zum letzten Moment an. In Prag brach drei Tage vor der deutschen Kapitulation ein Aufstand aus, auf den die Besatzungsmacht noch einmal mit harter und brutaler Gewalt antwortete. Ebenso reagierten deutsche Einheiten auf ungeduldige Freiheitsäußerungen an anderen Orten.

War nach den Erfahrungen aus Vorkriegs- und Kriegszeit ein Zusammenleben von Deutschen und Tschechen möglich?

Die Umstände und Erfahrungen während der deutschen Besetzung riefen in ihrer Gesamtwirkung den Eindruck hervor - zuerst unter den Tschechen im Protektorat, dann auch im tschechischen Widerstand im Ausland -, daß das Zusammenleben mit Deutschen in einem gemeinsamen Staat nach dem Krieg nicht möglich sein würde. Präsident Benec schlug zuerst Kompromißlösungen vor: Abtretung von Teilen der von Deutschen bewohnten Gebiete, teilweise Umsiedlung, teilweise Selbstverwaltung der verbleibenden Deutschen. Später änderte er unter dem Druck des einheimischen Widerstands seine Meinung und faßte eine vollständige Aussiedlung ins Auge. Diese wurde als Bestandteil einer weitergehenden millionenfachen Bevölkerungsverschiebung in Mittel- und Osteuropa gesehen, die Stalin plante. Die Deutschen sollten dabei nicht nur aus der CSR, sondern auch aus Polen bis zur Oder und Neiße und aus den Ländern Südosteuropas vertrieben werden, um "stabilere Nachkriegsverhältnisse" zu erreichen. Diese Verschiebungspläne fanden internationale Zustimmung, vor allem durch das Gewicht der Sowjetunion. Stalin schuf sich dadurch günstige Bedingungen für die von ihm angestrebte "proletarische Revolution" in Mitteleuropa.

Sobald die Deutschen militärisch vollständig besiegt waren, brach der aufgestaute antideutsche Haß mit einem "Abrechnen" der Massen durch, das nicht nur gegen die Repräsentanten der Besatzungsmacht, sondern auch gegen einfache deutsche Soldaten und Zivilisten gerichtet war. Man unterschied nicht zwischen Sudeten- und Reichsdeutschen, auch vor der Ostfront fliehende deutsche Familien wurden angegriffen. Die Vergeltung erfolgte nach dem allgemein akzeptierten Prinzip der Kollektivschuld und Kollektivstrafe, das auch von leitenden tschechischen Persönlichkeiten vertreten wurde. Vielerorts ließ der Pöbel seiner Wut freien Lauf. Es kam zur Lynchjustiz an Deutschen und zu Massenhinrichtungen.

Zugleich wurde die deutsche Bevölkerung kollektiv enteignet, aus dem Land vertrieben oder in Internierungslagern zusammengepfercht. Die Lebensbedingungen dort waren zwar von Ort zu Ort unterschiedlich, aber nicht wenige Lager gewannen durch die Roheit und Brutalität der Bewacher traurige Berühmtheit. Zahlreiche Todesfälle traten zudem infolge von Erschöpfung, psychischer Mißhandlung und Quälereien bei den Transporten ein. Säuglinge starben vielfach an Hunger.

In diesem Zeitraum der "wilden Vertreibung" wurde die "neue Situation" geschaffen, die von der Potsdamer Konferenz der Siegermächte (Juli/August 1945) nur noch sanktioniert zu werden brauchte. Die Alliierten stimmten schließlich der Zwangsaussiedlung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zu, bestanden jedoch auf einer geordneten Durchführung ohne Verstöße gegen die Menschlichkeit.

Der "geregelte Abschub"(26) erfolgte vor allem im Jahr 1946; im Frühling 1947 wurde er aufgrund des Widerstands der Westmächte nicht weitergeführt. In dieser Zeit mußten ungefähr 3 Millionen Deutsche das Land verlassen. Ungefähr 300.000 blieben - nicht immer freiwillig - in der CSR zurück. Die Anzahl der Deutschen, die bei der Vertreibung umgekommen sind, läßt sich anhand der Quellen nicht ganz sicher bestimmen. Die neuesten Schätzungen, denen sich die Gemeinsame deutsch-tschechische Historikerkommission angeschlossen hat, gehen von maximal 30.000 Toten aus(27) . Die meisten Opfer gehörten zur Zivilbevölkerung und starben in der Zeit nach dem vollständigen militärischen Sieg. Das sagt viel über den Haß aus, der das Land nach dem Ende der deutschen Oberherrschaft überschwemmte.

Die Motive, die auf der tschechischen Seite die Notwendigkeit des "Abschubs" begründeten, waren unterschiedlich. Sie verdichteten sich zu einer derart herrschenden Stimmung, daß es ohne persönliche Gefahr nicht möglich war, sich ihr zu widersetzen. Diese heftige Feindselig-keit war geprägt von der Erinnerung an München, von den Erfahrungen mit dem Terror im Protektorat und den besonders harten Repressalien gegen Ende des Krieges, aber auch von Berichten zurückkehrender Häftlinge über Bestialitäten in Konzentrationslagern und von der inzwischen gewonnenen vollen Kenntnis der deutschen Pläne zur "Germanisierung" der böhmischen Länder. Die Stoßrichtung galt jedoch nicht nur den Verantwortlichen für die Naziherrschaft, sondern richtete sich aus nationalen Motiven gegen alle Deutschen; auch deutsche Sozialdemokraten, die zum Widerstand gehört hatten, und sogar Juden deutscher Sprache, die die Konzentrationslager überlebt hatten, waren betroffen.

Das Ziel war der Nationalstaat der Tschechen und Slowaken. Die Nachkriegssituation wurde als eine einzigartige Gelegenheit begriffen, die nicht vergeudet werden durfte. Bocena Komárková(28) sagte es später so: "Nach der Erklärung des Präsidenten Benec hätten es uns die zukünftigen Generationen nie verziehen, wenn wir diese Gelegenheit nicht ausgenutzt hätten. Solcher Argumentation war ich nicht besonders zugänglich. Ich mußte aber die Frage anders stellen: Wie kann unser Zusammenleben nach dem Geschehenen noch möglich sein?"

Wer hat gewonnen?

Die Tschechen haben ihr "neues Leben nach der Befreiung im Geist eines hemmungslosen und ungezügelten Nationalismus begonnen" (Josef B. Soucek, 1948(29) ). Durch die Vertreibung der Deutschen, ohne die Nazis von den Demokraten zu trennen, beging die tschechoslowakische Demokratie einen Verrat an sich selbst. Die Allgemeinheit hielt es im Rahmen der "Kollektivschuldthese" für selbstverständlich, über die Deutschen vor ihrer Vertreibung dieselben diskriminierenden Einschränkungen zu verhängen, die von den Nationalsozialisten den Juden auferlegt worden waren (Abzeichen auf der Kleidung, reduzierte Lebensmittelrationen, Nachtausgangsverbot, Verbot einiger Berufe usw.).

Immerhin gab es in dieser Zeit des allgemeinen moralischen Niedergangs viele Tschechen, die als einzelne den bedrängten oder vertriebenen Deutschen menschliche Hilfen leisteten. Besondere Erinnerung verdient Premysl Pitter(30) , der eine umfangreiche Rettungsaktion für Kinderorganisierte, zuerst für die jüdischen, dann besonders für die deutschen. Er konnte dafür Helfer gewinnen und Unterstützung erlangen; das Ministerium für soziale Fürsorge stellte ihm vier Schlösser zur Verfügung und schützte ihn durch eine förmliche Beauftragung. Allmählich wurden auch Stimmen von Journalisten, Schriftstellern, Christen u.a. stärker, die die bei der Vertreibung begangenen Gewalttaten kritisierten. Die Vertreibung als solche aber wurde von niemandem in Frage gestellt.

Auf dem Gesetzesweg verfügte der tschechoslowakische Staat die Straflosigkeit der im Rahmen der "gerechten Vergeltung" bis Oktober 1945 begangenen Straftaten(31) . Der bei der Vertreibung von mehr als einem Fünftel der Einwohner des Landes zum Ausdruck kommende moralische Niedergang führte im Umgang mit fremdem Eigentum zu langanhaltenden, auffälligen Mißständen. Die ihrer Landwirte beraubte Landschaft klaffte wie eine offene Wunde. Die Tschechen waren nicht imstande, das Grenzland auf dem wirtschaftlichen Niveau zu halten, auf das es die Deutschen gebracht hatten. Der Verfall des Grenzlandes weitete sich ins Innere des Landes aus. Die Furcht vor der deutschen Vergeltung war dann ein zusetzlicher Grund, sich mit der sowjetischen Oberherrschaft nach 1948 abzufinden(32).

Auch die Deutschen und mit ihnen die Sudetendeutschen haben Grund zur selbstkritischen Besinnung über Gewinn und Verlust. Nicht alle von ihnen, aber die große Mehrheit der sudetendeutschen Bevölkerung haben sich in den 30er Jahren für den Anschluß des Sudetenlandes an das Deutsche Reich entschieden und die Politik Hitlers, die schließlich zur Zerschlagung der Tschechoslowakischen Republik führte, offen begrüßt. Wenn vom "moralischen Niedergang" im Zusammenhang mit der Vertreibung der Sudetendeutschen durch die Tschechen die Rede ist, dann muß dieses Urteil für die Zeit des Krieges und des Protektorats erst recht gelten. Die Ablehnung der Zuweisung einer "Kollektivschuld" an die Deutschen bedeutet nicht, daß die Frage der Schuld und des eigenen Anteils der Sudetendeutschen an dem, was geschah, erledigt ist. Es geschah Schreckliches wenn schon nicht durch die Hände der sudetendeutschen Bevölkerung, so doch unter ihren Augen.

Die Sudetendeutschen haben viel verloren. Verlust der Heimat, gewaltsames Ende einer jahr-hundertelangen Tradition, persönlich erlittenes Unrecht und Leid - das alles sind schmerzliche Opfer, die ihnen gleichsam stellvertretend für das deutsche Volk aufgebürdet wurden. Diese Opfer werden dadurch, daß die damals Vertriebenen längst in Deutschland ihr Zuhause haben und mit ihren Kindern und Enkeln gute Bayern oder Franken geworden sind, gemildert, aber nicht aufgehoben. Die Frage ist, wie die Sudetendeutschen mit dem Verlust, den sie erlitten haben, umgehen.

Die meisten haben sich damit abgefunden, und es ist schwer zu sagen, wie sie innerlich damit fertig geworden sind. Die offizielle politische Stimme der Sudetendeutschen beharrt jedoch bis heute auf rechtlichen Ansprüchen und politischen Forderungen nach Wiedergutmachung. Sie lehnt die gemeinsame Erklärung der tschechischen und der deutschen Regierung, mit der die beiden Staaten aus der unseligen Vergangenheit herausfinden und einen Weg nach vorne öffnen wollen, ab. Damit steht sie in der Gefahr, nicht nur die Vergangenheit der ehemaligen Heimat, sondern zugleich die Zukunft einer neuen und guten Nachbarschaft zu verlieren und den erlittenen Verlust zu verdoppeln.

Ein großer und wachsender Teil der Sudetendeutschen sieht sich freilich durch diese Position nicht mehr vertreten und geht den Weg des Verzichts, der Versöhnung und der deutsch-tschechischen Verständigung.

Die Deutschen hielten die Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich (1938) und die Besetzung der böhmischen Länder (1939) lange Zeit für ihren Sieg. Die Tschechen dagegen hielten es für einen Sieg, als Gablonz, Teplitz, Saaz und andere Orte wieder tschechisch wurden (1945/46). Heute, nach Jahrzehnten, können beide Seiten ihre schweren Verluste als Preis dieser "Siege" wahrnehmen.

Warum haben unsere Kirchen einander nicht beigestanden und dem Unrecht nicht widersprochen?

Die vor dem Kriegsende 1918 von einem gemeinsamen Konsistorium in Wien geleiteten evangelischen Kirchen und Gemeinden in Böhmen und Mähren bildeten insoweit wenigstens formal eine Gemeinschaft. In ihr formierten sich jedoch sowohl die Tschechen wie die Deutschen jeweils in ihren nationalen Gruppen. Sie setzten nationalitätsbedingte eigene Akzente und vergrößerten so die zwischen ihnen bestehende Distanz.

Damit war die Trennung der tschechischen und der deutschen evangelischen Christen bereits vorbereitet, die 1918 mit der Bildung der - tschechischen - Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder begann und 1919 mit der Gründung der selbständigen Deutschen Evangelischen Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien vervollständigt wurde. Dabei war die Reihenfolge belanglos; nicht die Gründung der tschechischen Kirche, sondern der Verlust der Anbindung an Österreich stand für die deutschen Evangelischen im Vordergrund ihrer Überlegungen zur Gründung einer eigenen Kirche. Zwischen beiden Kirchen gab es einige freundschaftliche Kontakte und begrenzte Zusammenarbeit, ohne daß sich daraus Merkmale oder Vorboten einer kirchlichen Gemeinschaft ergeben hätten. Denkbare spätere Gelegenheiten zum Zusammenschluß wurden bewußt nicht genutzt.

In den Beschreibungen ihrer jeweiligen Haltung zum Staat wurden beträchtliche theologische Unterschiede zwischen beiden Kirchen deutlich. Die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder betonte in ihren 1934 vorgelegten Thesen zum Staatsverständnis(34) die strenge Orientierung am Evangelium, dem gegenüber der Staat nur ein dienstbares Mittel sei, um in der Welt den Willen Gottes zu verwirklichen und Gerechtigkeit zu gewährleisten. Staatliche Macht oder Gesichtspunkte des Blutes und der Rasse dürften keine Rechtsquellen sein. Diese Thesen zeigen eine deutliche Nähe zur Position der Bekennenden Kirche in Deutschland, zu der damals, besonders über Karl Barth, Kontakte bestanden.

Demgegenüber betonten die entsprechenden Thesen der Deutschen Evangelischen Kirchenleitung für Böhmen, Mähren und Schlesien (DEK) die aus ihrer Sicht unerläßliche Ergänzung der Orientierung an Gesetz und Evangelium durch die Berücksichtigung des Volkstums als unmittelbarer Schöpfung Gottes. Gleiches Blut, Heimat und gemeinsame Sprache sowie Geschichte und Schicksal bestimmten "nach Gottes hl. Schöpferwillen" das Volkstum. Staatliche Macht beziehe sich auf den "volksgebundenen Einzelmenschen, demnach auch immer auf sein Volkstum", aus dem das Recht erwachse. Allerdings dürfe sich der Staat nicht von seiner religiösen Fundierung lossagen und die Setzung seines Amtes durch Gott leugnen.

Beide Kirchen bezogen sich in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Praxis auf ihre Nationalität. Für beide gab es in dieser Hinsicht in der Zeitspanne von der Vorkriegs- zur Nachkriegszeit jeweils eine besondere Situation der Prüfung und Bewährung: für die deutsche Kirche waren dies die Jahre 1938/39, als die Erste Republik zerschlagen und das Protektorat errichtet wurde, für die tschechische Kirche war es die Vertreibung der Deutschen 1945/46.

Für die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien bedeutete die Ausrichtung an der Nationalität, auch unter dem Eindruck der politischen und wirtschaftlichen Benachteiligung der Deutschen in der Tschechoslowakei während der Zeit der Weltwirtschaftskrise, die zunehmende Anlehnung an Deutschland. Das fand in den Jahren 1938 und 39 sowie in der Folgezeit seinen Ausdruck in der vorbehaltlosen Zustimmung zur Angliederung des Sudetenlandes an Deutschland und zur Besetzung der ganzen Tschechoslowakei. Die deutschen Evangelischen und ihre Kirche stimmten darin, ohne jeden besonderen Akzent, mit der Haltung der Sudetendeutschen überein, unter denen sie eine kleine Gruppe von höchstens fünf Prozent der sudetendeutschen Bevölkerung bildeten. Von ihrer Haltung wich die Deutsche Evangelische Kirche auch dann nicht ab, als ihr die den Kirchen gegenüber immer feindseligere Praxis der nationalsozialistischen Herrschaft Grund zum Befremden gab. Nennenswerte Bemühungen evangelischer Deutscher, ihren tschechischen Schwestern und Brüdern im Glauben gegen die Verfolgung und die Unterdrückung durch die nationalsozialistischen Machtorgane beizustehen, gab es nicht.

Umgekehrt teilten nach 1945 die evangelischen Tschechen nahezu vollständig die in der Öffentlichkeit der Tschechoslowakei herrschende Überzeugung, es sei unabweisbar notwendig, die Deutschen aus der Tschechoslowakei zu entfernen. Kritik an der folgenden Abschiebung als solcher wurde allein von einigen einzelnen Angehörigen der Kirche der Böhmischen Brüder geübt34 Bei den evangelischen Christen in der Tschechoslowakei gab es Zeichen der Aufgeschlossenheit für die Not und das Unglück der Deutschen, z.B. vereinzelte Kritik an unnötiger Härte und Brutalität der Abschiebungsmaßnahmen, die Öffnung der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder für den Anschluß deutscher Gemeinden und, in wenigen Einzelfällen, aktve Hilfeleistungen für bedrängte Deutsche. Grundsätzlichen Widerspruch gegen die Abschiebung der Deutschen aber gab es aus der Kirche nicht. Wurde dieses Thema behandelt, delt, so blieben zwar Bekundungen des Bedauerns und auch der Einsicht in die mit der Abschiebung verbundene Schuld nicht aus. Im Ergebnis aber war die Zustimmung zu dieser als notwendig bezeichneten Maßnahme eindeutig. <

Es bleibt die schmerzliche Erkenntnis, daß gemeinsamer Glaube und gleiche Konfession tschechischer und deutscher evangelischer Christen es nicht vermocht haben, einen nennenswerten Zusammenhalt zwischen ihnen und wechselseitigen Beistand zu begründen. Nationale und politische Interessen standen in beiden Gruppen im Vordergrund und ließen ernsthafte Bemühungen um Gemeinsamkeit nicht zu. Die Trennung zwischen den deutschen und den tschechischen evangelischen Christen blieb unüberbrückbar und fand schließlich ihren dramatischen Abschluß darin, daß sie auch durch die Grenze zweier Staaten getrennt waren. Erst danach besannen sie sich auf früher begangenes oder widerspruchslos zugelassenes Unrecht.

Ist Versöhnung möglich?

Das deutsch-tschechische Zusammenleben wurde nach den schweren Beeinträchtigungen bereits während der von Hitler geschürten "Sudetenkrise" und der Protektoratszeit in den Jahren 1945/46 tragisch und schroff abgebrochen. Die zwangsweise Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus den böhmischen Ländern war sittlich verfehlt und tat vielen Menschen unverdientes Leid an. Wir haben jedoch gezeigt, daß es der letzte Schritt auf einem langen Weg war. Dieser Weg weist viel Unrecht von beiden Seiten auf, dessen Wurzeln weit in die

Vergangenheit reichen. Niemand darf den letzten Schritt isoliert bewerten; wir müssen den ganzen Weg sehen. Der Versuch der einseitigen Abrechnung kann nur die Kette des Bösen fortsetzen.

Das Jahrhundert des Nationalismus, der unseren beiden Völkern schwere Wunden geschlagen hat, ist glücklicherweise Vergangenheit. Die Erneuerung Europas gibt Hoffnung auch für neue deutsch-tschechische Kontakte. Der neue Anfang setzt Vertrauen voraus. Es wird am besten durch die Bereitschaft bewiesen, sich gegenseitig zuzuhören und gemeinsam nach der Wahrheit über das Mißtrauen in Vergangenheit und Gegenwart, nach der Wahrheit über die Furcht und die Feindschaft zu suchen. Die Suche nach der Wahrheit in der Geschichte hat kein Ende.

Nächstes Kapitel