"Gesicht zeigen" - Festrede anlässlich der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit im Münchener Rathaus

Wolfgang Huber

I.

Gesicht zeigen - das ist das Motto für die Woche der Brüderlichkeit im Jahre 2006, die heute hier in München wie auch bundesweit in Berlin eröffnet wird. Ich habe die Einladung durch die hiesige Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit besonders gern angenommen, ist diese doch die erste Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die nach dem Krieg auf deutschem Boden nach amerikanischem Vorbild gegründet wurde.

Wer  die Gelegenheit hatte, Ihre Festschrift "Reden - Lernen - Erinnern - 50 Jahre Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. München" für das Jahr 1998 zu studieren, der wird mit mir gemeinsam den Respekt und die Anerkennung teilen, die Ihrer Gesellschaft zusteht und all den Menschen, die damals 1948 aus dem Grauen der nationalsozialistischen Tyrannei die konkrete Verständigung zwischen den Menschen mit viel Mut in Gang gebracht und dann mit großer Ausdauer vorangetrieben haben. Denn Verständigung, Gemeinsamkeit und Verantwortung füreinander würden bloß hehre Grundsätze bleiben, wenn sich nicht Menschen, Nachbarn, Mitbewohner, eben „Gesichter“ fänden, die diese unerlässlichen Werte des Zusammenlebens umsetzen und real werden lassen. Damit aber bin ich schon mitten in unserem Thema. Es ist ein Thema mit einer eigenen Tiefendimension.

Im zweiten Buch Mose (33,20) findet sich die Begegnung zwischen Gott und Mose, in der Mose Gott darum bittet, ihn sein Antlitz sehen zu lassen. Mose erhält zur Antwort: “Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Allerdings kündigt Gott an, er wolle sich von hinten sehen lassen, nachdem seine Erscheinung bereits vorübergegangen sei. Der französische Philosoph Emanuel Lévinas hat diese biblische Szene dahingehend gedeutet, dass der unsichtbare Gott, ohne dadurch sichtbar zu werden, eine eigentümliche Spur hinterlässt, in der sich alle die bewegen, die nach seinem Bilde geschaffen sind.

Das biblische Bilderverbot verwehrt uns den direkten Blick in das Angesicht Gottes. Es bleibt gerade deshalb bis auf den heutigen Tag ein Schlüssel zum Dialog und zum wechselseitigen Verstehen und Befragen.

Dass Gott, der sich unseren Darstellungen entzieht, sich selbst darstellt, ist der Kern des christlichen Glaubens. Jesus Christus ist der Name für diese Selbstdarstellung Gottes. In ihr verschränken sich Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit miteinander – etwa wenn es im 1. Johannesbrief (4,16. 20) in den von Papst Benedikt XVI. zum Motto seiner ersten Enzyklika gewählten Worten heißt: „Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. ... Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?“ Gottesliebe und Liebe zum Nächsten werden hier in ihrer Zusammengehörigkeit thematisiert. Der Unsichtbarkeit Gottes steht die Sichtbarkeit des Nächsten zur Seite. Wie wir uns zum Nächsten, zum andern stellen, gibt zu erkennen, wie wir es mit der Mitte des Lebens halten oder ob wir längst  dabei sind, die bewahrende Mitte, das Gleichgewicht, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Die doppelte Beziehung, in der Menschen stehen – die Beziehung zum unsichtbaren Gott, der sich nur von seiner Rückseite sehen lässt (Christen finden diese abgewandte Seite Gottes im Kreuz), und die Beziehung zu dem sichtbaren Nächsten – ist in vielfältigen Hinsichten gefährdet und zerbrechlich. Auch von der Beziehung der drei monotheistischen Religionen zueinander gilt das. Dass sie sich alle drei auf Abraham beziehen, kann nicht bedeuten, dass wir unter dem beruhigenden Titel der „abrahamitischen Religionen“ blind  werden für das Konfliktpotential, das in ihrem Verhältnis enthalten ist. Wir brauchen ein waches Auge für dieses Konfliktpotential. Wenn Gottes Unsichtbarkeit geleugnet und er den menschlichen Bemächtigungsversuchen ausgesetzt wird, ist der Friede gefährdet, der doch gerade in seinem Namen herrschen sollte.

Unser Verständnis für das Gespräch zwischen den einander fremd gewordenen Kindern Abrahams, für eine tragfähige soziale Ordnung, die auch das Fremde, Andersartige als Gabe und Aufgabe begreift,  bemisst sich daran, ob es uns gelingt, die von Gott gelegte Spur als verpflichtende Einladung für unseren eigenen Weg zum Anderen hin zu begreifen. Hier gilt es, Gott zu loben, das Recht zu ehren und das eigene Gesicht zu zeigen. Davon wird abhängen, ob wir die Kraft finden, Frieden zu bewahren und einen gerechten Ausgleich der Interessen zu gestalten. Für diese Grundhaltung will ich am heutigen Tag werben; sie will ich an einigen aktuellen Beispielen verdeutlichen.

II.

In einer überregionalen Tageszeitung findet sich unter dem Datum des 13. Februar 2006  folgende Überschrift: "Eine halbe Million Mobbingopfer an deutschen Schulen". Der Artikel bezieht sich auf Untersuchungen der Entwicklungspsychologin Mechthild Schäfer, nach welchen es an deutschen Schulen insgesamt rund eine halbe Million Mobbingopfer gibt. Mechthild Schäfers langjährige Untersuchungen, so heißt es wörtlich, „haben ergeben, dass es Mobbing (permanente Anwendung körperlicher Gewalt oder psychischen Drucks) inzwischen in nahezu jeder deutschen Schulklasse gibt. Es ist erschreckend", wird der Vorsitzende des Philologenverbandes, Hans-Peter Meidinger, zitiert, "wie häufig solche Fälle von Lehrern lange Zeit unentdeckt bleiben." Nach Mechthild Schäfers Untersuchungen "sind alle Schularten mit dem Problem in ähnlicher Intensität konfrontiert. Es gibt an Hauptschulen auf dem Lande genauso viele Mobbingfälle wie am Gymnasium in der Stadt. Ein weiteres Phänomen: In der Regel gibt es genügend Mitwisser - doch zumeist werden die Täter gedeckt."

Es ist weder neu noch unbekannt, dass es an unseren Schulen außerordentlich ruppig und auch gewalttätig zugehen kann. Allerdings gebe ich zu, dass mich das Ausmaß der ermittelten Zahlen doch schockiert hat. Denn wer ein einziges Mal miterlebt hat, welche existenzielle Infragestellung und Verunsicherung es mit sich bringt, wenn Schüler von Mitschülern in der Weise drangsaliert werden, wie es hier angedeutet ist, der weiß auch, welche nicht nur körperlichen, sondern auch seelischen Schäden diese abstrakt genannten Zahlen mit sich bringen. Man muss sich den Gedanken in aller Klarheit vor Augen führen: Wir schicken unsere Kinder und Enkel in Schulen, in denen ihre persönliche Unversehrtheit nicht gewährleistet werden kann. Ich persönlich halte dies für einen desaströsen Zustand, der allen Pisa-bedingten Anstrengungen zur Verbesserung der Bildungsqualität Hohn spricht.

Ein zweites Beispiel: Der Mädchenname Jessica steht mittlerweile für einen Abgrund, den man nur zutiefst erschütternd nennen kann. Ein siebenjähriges Mädchen wird von seinen Eltern so vernachlässigt, dass es verhungern muss. Und dies nicht aus purer Not, wie es das in unserer Welt leider auch gibt, sondern aus Gleichgültigkeit. Die Katze in der Familie war ausreichend ernährt. Und neben Jessica treten Tim und Phillipa, Monica und Kevin, die ähnliche Schicksale ertragen müssen. Und dies alles nicht, weil wir eine Hungerkatastrophe erleiden müssten oder weil wir – wie ich in den letzten Wochen in Lateinamerika oder besonders erschütternd im Sudan wahrnehmen musste – ganze Armutsstadtteile haben, in denen Menschen in Hütten und auf Müllbergen leben, sondern mitten in einer sozial halbwegs ordentlich ausgestatteten Stadt wie München, Berlin oder Hamburg. Wir leben in einer Welt, in der Kinder gleichsam von der Bildfläche verschwinden können, in denen ihre Existenz unsichtbar gemacht wird, ohne dass sie von jemandem ernsthaft vermisst werden.

Das sind keineswegs nur deutsche Probleme. In Frankreich ist ein jüdischer Junge drei Wochen lang in einem Wohnhaus so gepeinigt und gequält worden, dass er sterben musste. Dass es einen rassistischen Hintergrund für diese Tat gibt, ist zu vermuten, aber noch nicht erwiesen. Doch hinzuzufügen ist: Der Zeitungsbericht über dieses Grauen endet mit dem lapidaren Satz: Die Behörden gehen davon aus, dass die Vorgänge in den Nachbarnwohnungen zu hören waren.

Es gibt offenbar so etwas wie eine innere Verwahrlosung, eine Verrohung der Seelen, eine intime Vergleichgültigung, die einziehen mitten in das Innerste von Familien, in die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen Geschwistern und Verwandten, aber auch zwischen Schülern und Nachbarn. Und wenn man davon liest, dann wird die Zeitung zu einem Tor des Erschreckens oder das Fernsehgerät zum Lautsprecher einer abgründigen Realität. Zwischen Unfassbarkeit und Kummer lässt sie mich mit der Frage zurück, was uns als Gesellschaft eigentlich befallen hat, dass solche Geschehnisse möglich werden.

Natürlich wird in solchen Situationen zu Recht die Frage nach Schuld und Verantwortung gestellt. Wer hätte wann wen besser informieren müssen, wer hätte eingreifen müssen oder sollen, welche Institution unserer Gesellschaft von der Schule bis zum Jugend- oder zum Sozialamt hätte früher reagieren, stärker kontrollieren und schneller warnen müssen? Mich beeindrucken, ja überzeugen viele der Maßnahmen, die zum Schutz von Kindern vor solchen Situationen gefunden oder ergriffen werden: Untersuchungspflicht, Überprüfung der konkreten Lebenssituationen in sozial schwierigen Milieus und vieles andere mehr. Aber ich bin zugleich davon überzeugt, dass noch mehr Gesetze, noch mehr Vorschriften und noch mehr Regelwerke letztlich diese Realität im Kern nicht verändern und diesem Kummer keine Grenze setzen können.

III.

Was unsere Gesellschaft vielmehr braucht, sind Menschen, die Gesicht zeigen, die sich als Mitwisser nicht schweigend zurückziehen, die sich verantwortlich fühlen auch für den Übernächsten. Unsere Welt braucht Menschen, die ein Gesicht haben und dieses dazu nutzen, hinzusehen, einzuschreiten und jene alltägliche äußerliche Verrohung und innere Verwahrlosung zurückzurufen in eine Gemeinschaft des achtungsvollen Miteinanders.

Es geht mir natürlich nicht um die Wiedereinführung einer „Blockwart-Mentalität“ auf unseren Schulhöfen oder in unseren Nachbarschaften, wohl aber um die ganz konkrete Verantwortlichkeit auch für den, den ich nicht persönlich kenne, der nur in einiger Entfernung mit mir lebt, der aber dennoch mein Nächster ist gerade jetzt, gerade hier, gerade in dieser Situation. Die Achtung gegenüber der Integrität des andern Menschen ist das zentrale Thema in  der zweiten Tafel der zehn Gebote. Die Weisheit dieser Gebote schließt die Gleichgültigkeit gegenüber Leben, Würde und Freiheit des anderen Menschen aus. Die Hinfälligkeit des Alters, die engsten Lebensbeziehungen, Leben und Ehre, Eigentum und Zugehörigkeit werden in den biblischen Geboten ausdrücklich als Lebensbezüge genannt, an denen sich das Verbot solcher Gleichgültigkeit konkretisiert.

Wer sein Gesicht in den Alltagssituationen der Verrohung und Vergleichgültigung nicht wegwendet, der wird sich auch nicht blenden lassen, wenn sich solche Verrohung das Gewand einer verqueren Ideologie überzieht und sich rassistisch, antisemitisch, nationalsozialistisch, fundamentalistisch oder wie auch immer gibt.

Diese Beobachtungen führen mich zu der Frage, was denn der harte Kern eines mutigen Gesichtzeigens ist? Was braucht ein Mensch, um diese vor aller gesetzlich erzwingbaren Bestimmung liegende Zivilcourage zu entwickeln? Welche Quellen speisen ein Gesicht, das sich zeigt, das sich mitverantwortlich fühlt, das sich nicht wegdreht, sondern hinsieht? Hilfreich finde ich dafür die Überlegungen, die die Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit mit Ihren Leitworten „dibbaer“ (reden), „lamad“ (lernen) und „sachar“ (erinnern) beschrieben hat.

IV.

Zuerst das „Erinnern“. Sich zu erinnern, sich der eigenen Geschichte zuzuwenden, schließt für uns Deutsche auch das schmerzhafte, schamvolle Gedenken einer Geschichte der Schuld ein. Aber es ist unverzichtbar, sich und andere an die Schuldgeschichte des 20. Jahrhunderts heranzuführen und sich vor Augen zu stellen, welche Konsequenzen aus den schrecklichen Erfahrungen des vergangenen  Jahrhunderts zu ziehen sind. Nichts kann uns dabei mehr helfen, als wenn Zeitzeugen, die selbst oder deren Angehörige selbst Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen waren, noch einmal das Wort ergreifen und uns die Barmherzigkeit widerfahren lassen, zu uns zu reden und uns an ihrem Geschick Anteil nehmen zu lassen. In diesem Sinn gehört die Rede, die der 93-jährige Ernst Cramer am Auschwitz-Gedenktag dieses Jahres im Deutschen Bundestag gehalten hat, zu den großen Geschenken der letzten Wochen.

Wichtig ist es aber auch, sich erinnern zu lassen an die Folgen von Gleichgültigkeit, die schon dort beginnen, wo Menschen nach Rasse oder Klasse, nach Religion oder Geschlecht eingeteilt werden in Gut und Böse, ohne dass dies Widerstand weckt. Gewiss gab es in jener Zeit eine alltägliche Resistenz, die zu würdigen manchen pauschalen Qualifizierungen gegenüber durchaus angebracht ist. Aber es gab auch jenes Mitläufertum, das von der amerikanischen Forscherin Victoria Barnett weit treffender, wie ich finde, mit dem Begriff „Bystander“ belegt wird. Denn von „Laufen“ kann bei solcher Art des Komplizentums in Wahrheit keine Rede sein. Das – oft durchaus gaffende – Dabeistehen ist viel charakteristischer. Jenes auch durch Fotografien dokumentierte Dabeistehen meine ich beispielsweise, das viele Schreckensereignisse des Naziregimes – von der Bücherverbrennung und dem Kahlscheren von Frauen, denen Rassenschande mit sogenannten „Nichtariern“ vorgeworfen wurde, über die brennenden Synagogen der Reichspogromnacht bis hin zum massenhaften Abtransport von Jüdinnen und Juden in die Gaskammern von Birkenau – zu öffentlichen Ereignissen machte, von denen die Augenzeugen im Nachhinein nichts mehr wissen wollten. Diese Haltung der „Bystander“ ist ein wichtiges Element in einer Atmosphäre, die den Boden für „Verbrechen aus Gehorsam“ bereitet. So haben die Sozialpsychologen Lee Hamilton and Herbert Kelman bereits vor Jahren die Schreckensereignisse bezeichnet, die ein unauslöschliches Signum unserer Geschichte bilden. „Bystander“ und „Verbrechen aus Gehorsam“ – mit diesem Spannungsbogen ist das, woran zu erinnern ist, in meinen Augen viel treffender gesagt als mit Daniel Goldhagens Rede von „Hitlers willigen Vollstreckern“.

Erinnern kann eine Hilfe dafür sein, dass wir, unter ungleich einfacheren Umständen lebend, vor der Haltung des „Bystanders“ bewahrt werden und damit auch unsere Gesellschaft vor „Verbrechen aus Gehorsam“ bewahren. Erinnern ist die Kunst der Tiefenschärfe, ist die Kultur der Herkunftsvergewisserung, die nicht nur warnende Beispiele präsent hält, sondern auch überzeugende Beispiele des Einspruchs, des Widerstandes, des Gesichtzeigens. Solches Erinnern stärkt das Wissen um Gemeinsamkeiten, die nicht nur zwischen Christen und Juden, sondern zwischen allen Menschen guten Willens bestehen. Die Gemeinsamkeiten erneuern sich durch nichts so stark wie durch den gemeinsamen Kampf gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus sowie das gemeinsame Eintreten für die Wahrung und Achtung der Menschenrechte, für den Schutz von Fremden und Minderheiten, für die Achtung auch vor religiösen Überzeugungen der anderen.

Es gibt aktuelle Gründe dafür, deutlich hinzuzufügen: Wir alle müssen mithelfen, dass beunruhigende Ausdrucksformen eines religiösen Fundamentalismus nicht zum Wasser auf die Mühlen jener werden, die die Religionen generell als Quelle des Unfriedens und des Konfliktes denunzieren. Ich bin deshalb sehr dankbar darüber, dass alle religiösen Gruppen in unserem Land in dem Streit um die dänischen Karikaturen klar und besonnen reagiert haben. Die Distanzierung von verletzenden Inhalten dieser Karikaturen verband sich mit der klaren Ablehnung von Gewalt. Es gibt in unserem Land – Gott sei Dank - eine Koalition der Mäßigung quer durch die Religionen, von der man sich wünschen möchte, dass sie auf Dauer hält und sich noch weiter ausbreitet. Diese Koalition wird auch in Zukunft notwendig sein.

Zu Recht wurde im Streit um die Karikaturen auf die Freiheit der Presse und die von staatlicher Reglementierung unabhängige Öffentlichkeit in demokratischen Ländern hingewiesen. Und man muss auch unzweideutig daran festhalten, dass die Vorstellung, einen Staat und auch ein Staatsvolk unmittelbar für den Inhalt von Zeitungsveröffentlichungen haftbar zu machen, ein vormodernes Staatsverständnis zum Ausdruck bringt. Die Presse- und Meinungsfreiheit muss vielmehr auch dann beachtet werden, wenn von ihr ein falscher Gebrauch gemacht wird. Denn es verhält sich damit nicht anders wie mit der – in der neuzeitlichen Entwicklung von der Reformation zur Anerkennung gebrachten – Gewissensfreiheit. Auch sie gilt nicht nur für den Fall der richtigen Gewissensentscheidung, sondern auch für den Fall des irrenden Gewissens. Es ist deshalb verkehrt, die augenblickliche Empörungswelle zu benutzen, um den Respekt vor der Freiheit des Gewissens wie vor der Freiheit der Meinung zu ermäßigen.

Gewiss gibt es auch rechtliche Grenzen der Pressefreiheit. Die Diskriminierung ganzer Bevölkerungsgruppen ist unter ihnen sicher eine der wichtigsten. Zu bedenken ist aber mehr als das Recht. Zu fordern ist nämlich, dass man von der Öffentlichkeit insgesamt wie von den Medien ein neues Gespür für religiöse Überzeugungen erwarten muss. Denn Religion entwickelt sich zu einem zentralen Thema unserer Zeit. Religiöser Analphabetismus bleibt deshalb hinter den Anforderungen unserer Zeit weit zurück. Gerade weil Pluralismus und Freiheitsrechte der strafrechtlichen Verfolgung von Angriffen auf religiöse Überzeugungen enge Grenzen setzen, wird dies zu einem wichtigen Thema des publizistischen Ethos werden.

Beschämend ist freilich, dass eine herabsetzende Gleichgültigkeit, die gegenüber dem jüdischen Glauben schon eine lange Tradition hat, und die gegenüber dem christlichen Glauben auch schon lange mit scheinbarem Wohlgefallen praktiziert wird, in ihrer inneren Problematik erst bewusst wird, wenn innerhalb des Islam eine Empörung laut wird, die teilweise durch gezielte Kampagnen geschürt und verstärkt wurde. Mir kam es in den letzten Wochen manchmal so vor, als wäre hier eine Generation von Journalisten, aber auch von Politikern ganz verdutzt darüber, dass es so etwas wie religiöse Empfindsamkeiten überhaupt noch gibt. Müssen hier viele Menschen nach der Phase einer verbreiteten Gleichgültigkeit und bisweilen auch Verächtlichmachung von Religion wieder eine neue Sensibilität lernen im Blick auf die Verletzlichkeit religiöser Gefühle? Denn im Ernst kann doch niemand behaupten wollen, dass der Verzicht auf jene Karikaturen die Pressefreiheit in Dänemark oder sonstwo ins Wanken gebracht oder dass das Tragen eines neutralen Unterhemdes in Italien die Demokratie beschädigt hätte. Und auch der Verzicht auf die Verächtlichmachung des jüdischen oder des christlichen Glaubens in manchen Operninszenierungen wäre noch längst kein Eingriff in die Freiheit der Kunst.

Gewiss ist die Pressefreiheit ebenso ein unerlässliches Gut wie die Freiheit der Kunst; deswegen kann und darf sich kein Staat innerhalb der Grenzen dieser Freiheiten einmischen wollen. Aber die Freiheit der Presse gerät nicht substantiell in Gefahr, wenn auf religiös verletzende Karikaturen verzichtet wird.

Aber genau diesen Grundsatz der religiös sensiblen Pressefreiheit erwarten wir natürlich auch auf Seiten der islamischen Welt. Es geht nicht an, dass dort eine ungebändigte Empörung gegen Mohammed-Karikaturen im Westen geschürt wird und zugleich grob antisemitische oder antichristliche Karikaturen veröffentlicht werden, die auch nicht geeignet sind, religiöse Empfindungen zu schonen. Hier muss auf beiden Seiten wechselseitige Achtung eingefordert werden: Pressefreiheit hüben wie drüben und religiöse Sensibilität auf beiden Seiten, das ist nach meiner Überzeugung der richtige Weg.

V.

Das zweite Stichwort heißt „Lernen“. Zum Gesicht zeigen gehört das Erlernen der Werte und Überzeugungen, die tragen und orientieren, die Verantwortung und Leidenschaft für den anderen Menschen eröffnen. Es gehört ja zu den zentralen Herausforderungen unserer Zeit, dass wir in ganz neuer Weise lernen müssen, die vielen verschiedenen Quellen und Herkunftstraditionen der Werte nicht gegeneinander, sondern füreinander einzusetzen.

Mit der Wiederkehr der Religionen sind plötzlich wieder Fragen auf dem Plan, die die vermeintlich säkularisierte Gesellschaft längst ad acta gelegt hatte. Der unterschiedliche Glaube, die verschiedenen Gottes- und Menschenbilder der Religionen, die unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen von Religion und Staat sind wieder im Gespräch. Die Vermutung, dass sich das Thema Religion in modernen Gesellschaften sozusagen von selbst erledigt, ist Lügen gestraft. Aber gerade deswegen ist das Verstehen nicht nur der anderen Religionen eine Grundbedingung für ein verantwortliches Umgehen miteinander, sondern auch das Verstehen der je eigenen Herkunftstraditionen. Meines Erachtens kann dabei der jüdisch-christliche Dialog, der seit der Mitte der siebziger Jahre in Deutschland und Europa so intensiv und vielfältig geführt worden ist, auch eine Art Paradigma für die anstehenden Aufgaben des gegenseitigen Lernens bilden. Denn in diesen Jahren ist nicht nur das Verstehen des anderen gewachsen, es sind auch nicht nur untergründige oder offensichtliche antijüdische Tendenzen in unserer christlichen Tradition aufgearbeitet und wirksam korrigiert worden; sondern es sind auch neue Bilder voneinander entstanden, die Vorurteile unterlaufen und korrigieren. Dies ist aber die Basis jener Gemeinsamkeiten, die uns heute verbinden und zusammenstehen lassen.

Im Blick auf den Islam haben wir noch eine erhebliche Strecke des Lernens vor uns. Und zwar in beide Richtungen: Nichtmuslime sollten nicht zu schnell vorgeben, dass sie „den Islam“ kennen, den es als solchen so wenig gibt wie „das Judentum“ oder „das Christentum“. Auch der Islam ist eine ausdifferenzierte und vielfältige Kultur; zu einem großen Teil wird er in allen Richtungen von friedlichen und verantwortlichen Menschen getragen. Es findet in ihm ein Ringen um eine glaubwürdige Religionsform statt, die sich mit der modernen, globalisierten Welt verträgt. Der Islam hat das Recht und die Pflicht, auf der Basis allgemeiner Menschenrechte und genereller Friedfertigkeit seinen Glaubensweg in die Moderne zu suchen; diesen Prozess zu begleiten, ist ebenso wichtig, wie gegenüber einem gewaltbereiten Fundamentalismus eine deutliche Absage unentbehrlich ist.

Der großen und weithin offenen Frage nach dem Verhältnis zwischen Religion und Politik im Islam darf man freilich nicht ausweichen. Sie besteht darin, ob der Islam zu der unausweichlichen Unterscheidung zwischen Staat und Religion ein positives Verhältnis entwickelt und den säkularen Charakter der staatlichen Rechtsordnung aus inneren Gründen anzuerkennen vermag. Wer immer sich in einem Land bewegt hat, in dem die Scharia zur Grundlage von Rechtsordnung und Rechtspraxis gemacht wird, hat diese Frage lebendig vor Augen. Von Sprechern des Islam in Europa ist deshalb zu erwarten, dass sie mit Klarheit zu erkennen geben, ob der Verzicht auf das Geltendmachen der Scharia der Rücksichtnahme auf die gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnisse oder einer gefestigten Überzeugung geschuldet ist.

Aber zum gemeinsamen Lernen gehört auch die andere Seite. Wer die Diskussion um den Film „Tal der Wölfe“ verfolgt hat, der wird auch die Erwartung formulieren, dass die Bilder von der jüdisch-christlich geprägten westlichen Kultur differenziert und wahrhaftig sein müssen. Es sollten in Filmen, wo immer sie produziert werden, nicht stumpfe Vorurteile und offensichtlich antisemitische oder antichristliche Bilder vermittelt oder verstärkt werden – genauso wie in westlichen Filmen die Erzeugung von antiislamischen Feindbildern unterbleiben sollte. Es muss vielmehr erreicht werden, dass auch in der islamischen Welt faire Kenntnisse über die Religionen vermittelt werden, die als Wurzelgrund und Kraftquelle hinter der westlichen Kultur stehen und in ihr wirken. Eine Denunzination der jüdisch-christlichen Glaubenswelt als permissiv und unmoralisch, als wirtschaftstaumelig und aggressiv ist ebenso unangemessen wie ein Bild des Islam, das sich allein aus terroristischen Aktivitäten bestimmter Gruppen speist. Ich würde mir wünschen, dass dieses gemeinsame Lernen von allen Seiten gefordert und befördert wird, und dass nicht durch „klammheimlichen Applaus“ für vorurteilsbeladene Filme die gegenseitige Unkenntnis noch verstärkt wird.

Auch wenn der Film „Tal der Wölfe“ uns, wie ein Zeitungsbericht vermerkt, einen Blick in das Selbstverständnis vieler Türken eröffnet, bleibt es ungerechtfertigt, in einer derart pauschalen Weise das Christentum zur Religion der Gewalt zu stilisieren. Und es ist ein verletzender Angriff auf den christlichen Glauben, wenn Sam, einer der Protagonisten des Films, unter ein kitschiges Bild des Abendmahls Jesu gesetzt wird, um dort in ihm die Lust zum Morden aufkommen zu lassen. Man mag auch gespannt fragen, wie Muslime ein Bild ihrer Religion aufnehmen, in der diese als eine Religion des Friedens und der inneren Ruhe gezeichnet wird, die aber keinerlei Beitrag zum politischen Kampf zu leisten vermag. Die Erfahrung unserer Zeit, so muss man feststellen, spricht eine andere Sprache.

VI.

Das dritte und letzte Stichwort ist das „Reden“. Zum Gesicht zeigen gehören klare Worte, Worte, die ehrlich sind und deshalb Klarheit schaffen. Worte, die sich einmischen, die etwas riskieren, mutige Worte, die das Schweigen durchbrechen.

Auch hier kann von gemeinsamen Einsichten ausgegangen werden. Der jüdisch-christliche Dialog hat zu Tage gefördert, dass solches mutige Reden zurückgeht auf das hebräische Wort „dabar“, das nicht nur „Wort“ oder „Nachricht“ heißt, sondern eben auch „Tat“ und „Handlung“. Wort und Handlung bilden in der Hebräischen Bibel eine Einheit, die Worte wollen nicht nur so dahergesagt, sondern verbunden werden mit Wahrhaftigkeit und Konkretion.

Das ist vielleicht der schwierigste Punkt, nicht nur auf dem Schulhof oder im Mietshaus, wo man das Klagen von Schülern oder das Weinen von Kindern ernst nehmen muss. Sondern auch im gesellschaftlichen Raum einer multikulturellen Welt muss man das Wort wagen, das mit der eigenen Handlung zusammenstimmt; und man muss zu der Handlung bereit sein, die zu dem eigenen Wort passt. Ein klares Wort braucht viel Kraft von innen her, man muss seinen ganzen Mut zusammenzunehmen, man muss auch mit den Herausforderungen  wachsen und ein Rückgrat haben, das sich nicht krümmt.

Dieser Prozess ist auf vielfältige Weise zu fördern, in Schulen, in Vereinen, in den Familien und in den Kirchen wie in anderen Religionsgemeinschaften. Ziel muss es sein, verlässliche und verständliche Worte und Werte zu vermitteln, die ermutigen, das Gesicht zu zeigen, sich verantwortlich zu fühlen, sich einzumischen. Mut in diesem Sinne muss sich immer wieder neu bewähren: Mutiges Reden ist eine flüchtige Eigenschaft, die man verlernt, wenn man sie nicht nutzt. Denn wie viel Mut zur Mitverantwortung, zur Einmischung, zum Mitreden ein Mensch besitzt, zeigt sich immer erst konkret, in der Situation, im Vollzug.

Es ist offensichtlich: Wer in diesem Sinne „mitreden“ will, braucht Selbstvertrauen und innere Werte, die durch Erinnern und Lernen entwickelt werden. Ohne Bindung an das Gewissen, ohne Bindung an Werte und ohne Bindung an eine Herkunftsgeschichte lässt sich ein mutiges, zupackendes Verhalten in Verantwortung für den Nächsten, der unter die Räuber der Diffamierung oder des Rassismus gefallen ist, nicht verwirklichen. Die Bereitschaft, sein Gesicht in einer konkreten Situation zu zeigen, braucht Quellen in der Seele, die staatlich nicht zu verordnen oder vorzuschreiben sind, auf die unsere Gesellschaft aber dringend angewiesen ist. Die Verwurzelung im Glauben an Gott ist eine entscheidende Quelle für diese innere Kraft. Oder anders gesagt: Wer das Zeigen des Gesichtes fördern will, muss Menschen darin bestärken, dass sie ein Gesicht haben, zu ihren Überzeugungen stehen, sich ihres Glaubens gewiss werden und dem eigenen Gewissen folgen.

Darin besteht eine der wichtigsten Tugenden der Demokratie. Die in ihr nötige Toleranz lebt nicht aus der Gleichgültigkeit eines billigen Relativismus. Sie bezieht ihre Stärke aus gelebten Überzeugungen. Jede von Fairness geprägte Gemeinschaft braucht Menschen, die Tapferkeit vor und für den Nächsten entwickeln, Menschen, die nicht nur die unter die Räder Geratenen versorgen, sondern die auch dem Rad selbst in die Speichen fallen. So hat Dietrich Bonhoeffer, dessen hundertsten Geburtstag wir vor einem Monat begangen haben, das im Jahr 1933 beschrieben. Er ist nur eines der Beispiele, die hier zu nennen sind. Die Mitglieder der Weißen Rose hier in München sind ein anderes. Es sind ermutigende Beispiele für Menschen, die ihr Gesicht zeigten, als viele andere wegschauten, die ihre Stimme erhoben, als andere stumm blieben, die Mut bewiesen, als andere mutlos geworden waren.

An uns ist es, selbst auf die Seite der Mutigen zu treten, unsere Stimme zu erheben, hinzuschauen, kurz: Gesicht zu zeigen.