Treysa, August 1945 – Kontinuität und Neubeginn

Vortrag von Prof. Dr. Jochen-Christoph Kaiser am 30. Mai 2015 im hessischen Treysa anlässlich der Erinnerung an die Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Herr Ratsvorsitzender, 
Frau Präses, 
sehr geehrte Ratsmitglieder und Gäste,
meine Damen und Herren!

 

Vom 27. bis 31. August 1945, also vor fast 70 Jahren, trat hier im Kirchsaal von Hephata jene Kirchenführerkonferenz zusammen, deren wir heute gedenken. Nach den religionspolitischen Wirren des Dritten Reiches sollte ein neuer kirchlicher Anfang gewagt werden. Dies war – um es vorwegzunehmen – von nicht unerheblichen Schwierigkeiten begleitet und es bedurfte deshalb mehrerer Stationen, bis die EKD – nach weiteren Treffen 1947 wiederum in Treysa und 1948 dann in Eisenach – endgültig Gestalt annahm. Im August 1945 wurde vorerst nur die Konstituierung eines Rats der EKD beschlossen und seine personelle Zusammensetzung bestimmt, was auf die weitere Entwicklung allerdings erheblichen Einfluss haben sollte.

47 Gäste standen auf der Einladungsliste des Initiators, des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm, doch mehr als doppelt so viele – nämlich rund 120 Personen – erschienen am Ende. Inmitten eines zerstörten und in vier Besatzungszonen geteilten Landes ohne eigene Regierung, ohne funktionierende Verwaltung und vor allem – ohne konkrete Hoffnung auf Besserung der allgemeinen Notsituation sollte ein Neuanfang in Angriff genommen werden. Das war bitter nötig, nachdem der sog. Kirchenkampf die meisten Landeskirchen den Deutschen Christen ausgeliefert hatte, und angesichts des Desasters, das die 1933 etablierte Reichskirche und ihr Führungspersonal in gesamt-kirchlicher Sicht hinterlassen hatten. Man kam in Treysa zusammen, weil das heutige hessische Diakoniezentrum Hephata in der nun nach Westen gerückten neuen Mitte Deutschlands lag und die notwendige Infrastruktur für diese Konferenz bot.

Weniger im Bewusstsein kirchlich-gesellschaftlicher Erinnerung liegt ein weiteres Ergebnis der damaligen Zusammenkunft: das ‚Evangelische Hilfswerk‘, das an diesem Ort ebenfalls gegründet wurde und dessen Konstituierung einstimmig und ohne jeden Streit erfolgte, – sehr im Gegensatz zur Bildung der EKD. Das Hilfswerk sollte die alte Innere Mission ablösen, der vor allem die Bruderräte vorwarfen, sie sei in ihrer Anpassung an die Gesundheitspolitik des NS-Regimes oft zu weit gegangen und habe im sog. Kirchenkampf nicht ohne Wenn und Aber auf der ‚richtigen‘, d.h. auf ihrer Seite gestanden. Nicht zuletzt durch die neue und jetzt vorbehaltlos bejahte enge Verbindung zur Genfer Ökumene, die von der Inneren Mission aus politischen Gründen vernachlässigt wurde, ist die Hilfswerksgründung dann von zentraler Bedeutung für die Bekämpfung der verbreiteten sozialen Not der frühen Nachkriegszeit gewesen.

Die Entstehung der EKD und ihrer Grundordung glichen einer schweren Geburt. Es ging wie immer, wenn sich die Landeskirchen und ihre Leitungen zusammensetzten, um über die Einheit des deutschen Protestantismus zu sprechen, vor allen Dingen um konfessionelle Fragen, die wiederum stärksten Einfluss auf die organisatorische Ausgestaltung dieser von allen prinzipiell gewünschten und angestrebten Einheit besaßen. Mit anderen Worten: Auch 1945 und 1947 in Treysa, 1948 dann in Eisenach wiederholten sich jene historischen Debatten, die seit 1848, dem Jahr des ersten Wittenberger Kirchentages, und später nach dem Ersten Weltkrieg eine wesentliche Rolle gespielt hatten. 

Historischer Rückblick

Im Zuge der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert erwachte auch innerhalb des in zahlreiche Landeskirchen zergliederten deutschen Protestantismus ein neues Kirchenbewusstsein, das sich auf die Bildung gesamtkirchlicher Ordnungsformen im Rahmen einer Einheitskirche richtete, was freilich – um es gleich zu sagen – auf so gravierende Probleme stieß, dass die anvisierte Einheit bis 1933 nicht zustande kam. 

Schwierigkeiten bereiteten vor allem zwei Probleme: zunächst die fast 400jährige Tradition des landesherrlichen Kirchenregiments in den zahlreichen Territorien des Deutschen Bundes bzw. Reiches mit einem daraus resultierenden politischen und kirchlichen Regionalbewusstsein. Weiterhin der erwachende lutherische Konfessionalismus, dem nur an einer Kirchenbildung unter lutherischem Vorzeichen gelegen war und seinen Hauptgegner in der vor allem in Preußen seit den 1820er Jahren durchgesetzten Union zwischen Lutheranern und Reformierten sah. Es waren also kirchenpolitische und theologische Konflikte, die das Projekt einer deutschen Nationalkirche lange verhinderten.

Als im September 1848 im Nachklang zu den politischen Einigungsbestrebungen der Revolutionsmonate in Wittenberg ein evangelischer Kirchentag zusammentrat und über den Bau einer einheitlichen deutschen Kirche debattierte, konnte eine Sprengung der Versammlung nur vermieden werden, indem man das Thema wieder fallenließ und sich stattdessen auf Anregung Johann Hinrich Wicherns auf die Gründung eines flächendeckenden Netzwerkes der Inneren Mission in Gestalt des Central-Ausschusses für Innere Mission einigte. Allerdings wurden die Landeskirchen in der Folgezeit wenigstens zu einer lockeren Kooperation gezwungen, um ihre Interessen angesichts der veränderten politischen Umstände zu wahren. Das geschah ab 1852 auf den Eisenacher Kirchenkonferenzen, wo sich Vertreter aller deutschen Kirchenbehörden im Zweijahresturnus sammelten, um über gemeinsam betreffende Organisations- und Kultusfragen zu beraten. Als sich nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Fall des in der Symbiose von Thron und Altar angelegten Staatskirchentums die deutschen Landeskirchen neue Verfassungen geben mussten, lag es nahe, sich auch auf Reichsebene enger zusammenzuschließen, um dem neuen Staat gegenüber einheitlich auftreten zu können. Das Ergebnis war die Bildung des Deutschen Ev. Kirchenbundes von 1922 – also keiner Einheitskirche! –  mit dem Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss als Leitungsorgan und dem Kirchentag als synodalem Gremium. 

Dieser Kirchenbund schien angesichts des politischen wie geistigen Neuaufbruchs der vielfach als Revolution angesehenen nationalsozialistischen Machtergreifung nicht mehr zu genügen. Mit Unterstützung einiger Landeskirchen, aber vor allem auf Drängen der Deutschen Christen rang man sich zur Schaffung der Reichskirche mit einem lutherischen Reichsbischof an der Spitze durch. Ihre Verfassung räumte diesem nach dem ‚Führerprinzip‘ außerordentliche Vollmachten ein; die Nationalsynode blieb hingegen schwach, was dadurch kompensiert wurde, dass in ihr vorwiegend Deutsche Christen saßen, die den Kurs von Reichsbischof Ludwig Müller willig mittrugen. Unter dem Zwang der politischen und kirchlichen Gegebenheiten stimmten die Lutheraner und Reformierten dieser Bundeskirche aus Gliedern aller drei evangelischen Bekenntnisse zu, was ihnen umso leichter fiel, als die Verfassung die Eigenständigkeit der angeschlossenen Landeskirchen in Bekenntnis und Kultur ausdrücklich garantierte (Art. 2, Satz 3). Die Leitung der Reichskirche hielt sich in der Folgezeit allerdings kaum daran. Die Überdehnung des Führerprinzips durch den Reichsbischof und gewaltsame Eingriffe in die Struktur der Landeskirchen riefen deshalb bald Proteste und Widerstand hervor, die sich auf Art. 1 der Verfassung berufen konnten. Hier war von der unantastbaren Grundlage der DEK die Rede: nämlich dem „Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten ist“. Außerdem galt die Bestimmung in Art. 2,3, nach der die angeschlossenen Landeskirchen „in Bekenntnis und Kultur eigenständig“ bleiben sollten. 

In diesem Widerstand gegen rechtsverletzende Eingriffe der Reichskirche in das bestehende landeskirchliche Regelsystem formierte sich über etliche Etappen, die zunächst in den Bekenntnissynoden von Barmen (Mai 1934) und Dahlem (Oktober 1934) gipfelten, die Bekennende Kirche, die ein alternatives kirchliches Notregiment parallel zur Reichskirche und der von ihr beherrschten Landeskirchen errichtete. Doch auch innerhalb der BK bestanden die Spannungen zwischen Reformierten, Unierten und Lutheranern fort. Letzteren kam zugute, dass sie in den drei sogenannten intakten Landeskirchen bestimmende Kraft blieben – d.h. in Bayern, Hannover und Württemberg –, während die Mitglieder der Bruderratsbewegung in der Bekennenden Kirche vielfach zerstörten Landeskirchen angehörten, in denen die Deutschen Christen großen Einfluss besaßen. Über der Frage nach einer Kooperation oder Scheidung von den im Herbst 1935 eingesetzten Kirchenausschüssen kam es auf der Bekenntnissynode von Oeynhausen ein Jahr später zur Spaltung der Bekennenden Kirche: Die intakten lutherischen Kirchen gründeten daraufhin den ,Lutherrat‘, dessen Leitung sich nur diejenigen Bruderräte anschlossen, die mit den Kirchenausschüssen zusammenarbeiten wollten. Der Mehrheitsflügel des Reichsbruderrats unter der zweiten sog. Vorläufigen Kirchenleitung lehnte die Ausschüsse jedoch strikt ab und berief sich dabei auf das in Dahlem beschlossene kirchliche Notrecht (III, 3), mit dem der Reichskirche der Gehorsam aufgekündigt wurde. Erst gegen Ende der 1930er Jahre kam es wieder zur Annäherung der streitenden Parteien innerhalb des BK-Lagers, als der württembergische Landesbischof Wurm sein „Kirchliches Einigungswerk“ ins Leben rief. Diese Arbeitsgemeinschaft sollte zur Grundlage der Einheitsbemühungen des deutschen Protestantismus nach Kriegsende werden.

Treysa I (27.-31. August 1945)

Nach dem Zusammenbruch und dem Erlöschen der staatlichen Einheit stand der deutsche Protestantismus 1945 vor der Frage, ob, wie und in welcher Form er einen neuen gesamtkirchlichen Rahmen schaffen sollte. Die Kommunikation zwischen den kirchlichen Gremien und Gruppen war durch die Zeitlage aufs schwerste beeinträchtigt – Post und öffentliche Verkehrsmittel funktionierten nur unzuverlässig, Fahrten mit dem PKW waren von der Zuteilung von Benzin und Kraftfahrzeugen durch die Besatzungsmächte abhängig und wurden nur ausnahmsweise zur Verfügung gestellt. Trotz dieser Schwierigkeiten versuchte der württembergische Landesbischof Theophil Wurm, der kraft seiner persönlichen Autorität und seines Verhandlungsgeschicks immer mehr zur Leitfigur der ev. Kirche über alle Grabenkämpfe hinweg geworden war, in Anknüpfung an sein Einigungswerk die Grundlage für einen gesamtkirchlichen Neubeginn zu schaffen. Als Lutheraner konnte er dabei auf die Sympathien seiner Bischofskollegen in Hannover und Bayern rechnen, als Vermittler in den Wirren der bekenntniskirchlichen Entwicklung besaß er aber ebenso beste Beziehungen zu vielen Angehörigen der Bruderräte und zu einflussreichen Einzelpersönlichkeiten wie Fritz von Bodelschwingh aus Bethel. In Absprache mit Bodelschwingh sowie mit dem westfälischen Präses Karl Koch und Bischof Hans Meiser aus München berief Wurm die bestehenden Leitungen der ev. Landeskirchen Deutschlands für Ende August nach Treysa ein, das nach Abtrennung der Ostgebiete – wie bereits erwähnt – nun ziemlich genau in der Mitte der vier Besatzungszonen lag und wo in der Anstalt Hephata passende Räumlichkeiten zur Verfügung standen. Dabei wird man deutlich sagen müssen: Treysa kam auf Initiative der Kirchenführer in den westlichen Besatzungszonen zustande. Die ost- bzw. mitteldeutschen Landeskirchen waren mit Ausnahme Brandenburgs und seines Bischofs Otto Dibelius kaum beteiligt, denn hier hatten sich in den ‚zerstörten‘ preußischen Provinzialkirchen wie in den lutherischen Landeskirchen von Mecklenburg und Sachsen noch keine neuen Kirchenleitungen definitiv konstituiert.

Der Vorstoß Wurms war in gewisser Weise ein Alleingang, außerdem hatte er die Form einer allgemeinen Kirchenführerkonferenz gewählt und nicht etwa einer Synode, obschon das ursprüngliche schwache Synodalprinzip durch die Bekenntnissynoden der NS-Ära großen Aufschwung genommen hatte. Freilich, die lutherischen Kirchen und ihre Vertreter betrachteten gerade dies mit Misstrauen, schien es doch den wachsenden Einfluss zu demonstrieren, den reformiertes Gemeindedenken nicht zuletzt durch Karl Barth innerhalb der Bekennenden Kirche seit Barmen gewonnen hatte. Dahinter stand die Sorge, auch die reformatorischen Bekenntnisse könnten durch einfache Mehrheitsbeschlüsse synodaler Gremien geändert oder es könnten neue hinzugefügt werden, – ein Punkt, den Exponenten des konfessionalistischen Luthertums wie die Erlanger Theologen Hermann Sasse oder Werner Elert zum Anlass nahmen, die Barmer Erklärung vom Mai 1934 nur als Kundgebung ohne ausgeprägte Bindekraft für das deutsche Luthertum, auf keinen Fall aber als Bekenntnis sui generis zu akzeptieren.

Von ihrem Standpunkt aus konnten die Lutheraner der Kirchenkonferenz relativ entspannt entgegensehen, zumal sie beabsichtigten, sich in den Tagen vor Beginn der Konferenz zu treffen, um die alte Vision des Lutherrats zu realisieren, eine Vereinigte Ev. Lutherische Kirche Deutschlands zu gründen, die dann den Kern der intendierten neuen gesamtkirchlichen Einheit bilden sollte. Der Reichsbruderrat unter informeller Führung Martin Niemöllers lehnte das ab: Hier fürchtete man, durch die alten intakten Landeskirchen regelrecht ‚ausgebootet‘ zu werden und am Ende mit einer Restauration des Kirchenbundes von 1922 oder gar der Reichskirche von 1933 rechnen zu müssen. Niemöller berief deshalb anstelle der Einladung nach Treysa eine Sitzung des Reichsbruderrats nach Frankfurt ein mit dem Ziel, Treysa in eine Bekenntnissynode umzufunktionieren, die auf der Basis des in seinen Augen fortbestehenden kirchlichen Notrechts über die Gründung einer neuen deutschen Ev. Kirche beraten sollte. – Es gelang Wurm nur mit knapper Not, ihn von diesem Vorhaben abzubringen; die Zementierung der Spaltung von Oeynhausen (1936) wäre sonst vermutlich das Ergebnis gewesen. Dafür musste er das Zugeständnis machen, die damals noch kaum in den Kirchenleitungen vertretenen Bruderräte als ‚Kirchenführer‘ anzuerkennen, die in Treysa gleichberechtigt teilnehmen sollten.

Somit zeichnete sich schon im Vorfeld von Treysa wieder ab, dass die Fragen einer Ordnung der Kirche zugleich auch immer eminent wichtige theologische und Bekenntnisfragen berührten. Mit juristischen Regelungen und pragmatischen Formelkompromissen allein war es nicht getan, wollte man die kommende EKD nicht nur als Verwaltungsunion etablieren. Allerdings standen hier nicht nur unterschiedliche theologische Konzeptionen und konfessionspolitische Auffassungen gegenüber, – es ging auch um sehr konkrete und persönliche kirchenpolitische Macht- und Einflussfragen. Daraus erklärt sich unter anderem die ganze Härte der Auseinandersetzungen, von welchen die Kirchenkonferenzen seit dem Sommer 1945 bis zur ersten EKD-Synode in Eisenach 1948 begleitet waren. Naturgemäß bildeten die Erfahrungen des Kirchenkampfes bis 1934 und die sich anschließenden Auseinandersetzungen im Lager der Bekennenden Kirche den Ausgangspunkt, auf den sich die streitenden Parteien immer wieder beriefen. Es ist kaum erstaunlich, dass Bruderräte und Lutherrat mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und seiner Kirchenpolitik nun die Chance gekommen sahen, jeweils die eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Welche waren das?

Die Bruderräte wollten eine von den Gemeinden her konzipierte Gesamtkirche mit Barmen als theologischer Mitte, um die ihres Erachtens verkrusteten Strukturen einer hierarchiefixierten Behörden- und Pastorenkirche aufzubrechen und zu überwinden. Die lutherischen Kirchen zielten dagegen auf die Erneuerung des ev. Kirchentums im Sinne einer an den reformatorischen Bekenntnissen orientierten lutherischen Gesamtkirche mit einem lutherischen Bischof an der Spitze, in der das geistliche Amt eine ausschlaggebende Rolle spielte, während das synodale Element, sofern es von Laien getragen wurde, nur nachrangige Bedeutung haben sollte.

Da die meisten Bruderräte aus unierten Landeskirchen kamen, befürchteten die Lutheraner, die neue evangelische Gesamtkirche werde sich zu einer Unionskirche entwickeln und damit das lutherische Bekenntnisanliegen verwässern und aufweichen. Anzeichen dafür sahen sie in der Berufung auf Barmen, in der Forcierung des kirchlichen Neuaufbaus von den Gemeinden und Synoden her und in dem Einfluss Karl Barths, über den reformiertes Denken auch in die noch genuin lutherischen Landeskirchen Eingang gewinnen würde. Es besaß von daher Konsequenz, wenn sie mit allen Mitteln versuchten, eine ‚Vereinigte Ev. Lutherische Kirche Deutschlands‘ (VELKD) noch vor Gründung der späteren EKD zu konstituieren, – ein Vorhaben, das 1945 daran scheiterte, dass Wurm namens der Württembergischen Landeskirche am Vorabend von Treysa diesen Plan aus Rücksicht auf die gefährdete Einheit der EKD durch sein Veto zu Fall brachte.

Die angedeuteten Spannungen setzten sich bis in die Diskussion der Frage hinein fort, welche Rechtsform die neue Gesamtkirche haben solle. Überhaupt verlagerte sich die Debatte in Treysa während der Verhandlungen mehr und mehr auf kirchenrechtliches Gebiet, nachdem die Beteiligten erkennen mussten, dass die auf dem Tisch liegenden Lösungsvorschläge durch theologische Kompromisse kaum umsetzbar erschienen. Bevor man später tatsächlich diesen Weg ging, der allen Fraktionen Erhebliches abverlangte, begab man sich auf das freilich ebenso schwankende Feld des Kirchenrechts, indem man versuchte, die historisch vorliegenden Lösungsansätze der 1920er und 30er Jahre auf ihre Brauchbarkeit für das neue evangelische Deutschland der Gegenwart abzuklopfen. Doch zwischen den Alternativen eines gleichsam revolutionären Neubeginns ‚von unten‘ aus dem Gemeinden heraus, wie es den Bruderräten vorschwebte, und dem vorsichtigen Wiederanknüpfen an vorhandene Strukturen der Verfassungen des Kirchenbundes von 1922 und der Reichskirche 12 Jahre später durch Lutheraner und ‚Neutrale‘ gab es offensichtlich keine Brücke. Sprachen die BK-Anhänger polemisch von reaktionären bzw. restaurativen Tendenzen, so lehnten die Gegner einer Kirchenbildung auf Gemeindebasis dies als romantisch-illusionäres Konzept ab. Da der Verlauf der Debatte nicht überliefert ist, können wir uns nur auf die erhaltenen Stellungnahmen stützen, die jede Seite von kompetenten Kirchenrechtlern erbat. Ein wenig erinnert dies Verfahren an die besser dokumentierte Entwicklung 1918/19: Auch hier ging es den Beteiligten vor allem um den Erhalt der Rechtskontinuität. Sie sollte freilich eine vermeintlich radikal gefährdete Kirche schützen, nachdem mit der Aufhebung der Bindung von Thron und Altar die wirtschaftliche und rechtliche Existenz der Religionsgemeinschaften massiv bedroht schien. 

Aufschlussreich ist, dass jede Seite bekannte Kirchenrechtler für ihre Auffassung gewann: die Bruderräte den Freiburger Juristen Erik Wolf, der Lutherrat Johannes Heckel, der bereits die Reichskirchenverfassung von 1933 mitgestaltet hatte, und dessen Erlanger Kollegen Hans Liermann. Diese Gutachten beschäftigten sich vor allem mit der Rechtskontinuität, in der die neue evangelische Gesamtkirche stehen sollte, – eine Anforderung, welche auch die Abschlussresolution von Treysa explizit ansprach. Denn diese Rechtskontinuität musste mindestens für die Landeskirchen gelten, sofern diese nicht deutschchristliche bzw. völkische Verzerrungen nach 1933 in ihre Gesetzgebung integriert hatten.

Danach gab es drei Modelle: Das erste ging von der möglichen Wiederherstellung der Verfassung von 1933 mit entsprechenden Modifizierungen, d.h. vor allem der Eliminierung des Führerprinzips aus; das zweite stellte die Ordnung des Deutschen Ev. Kirchenbundes von 1922 wieder her, und das dritte schrieb das Notrecht und die Notorgane der Bekennenden Kirche auch für die EKD fort. Es war Erik Wolf, der Modell drei favorisierte und zunächst mit Niemöller für den Zusammentritt einer Bekenntnissynode statt einer Kirchenführerkonferenz plädierte. Er betrachtete die DEK als erloschen und wies den Bruderräten in der neuen Grundordnung die Aufgabe zu, über die Reinheit des Bekenntnisses in den neu zu konstituierenden Landeskirchen zu wachen. Freilich war er es auch, der in Treysa als Provisorium einen leitenden Rat einzusetzen vorschlug, der vorerst die Geschäfte führen sollte, bis eine später einzuberufende Synode rechtskräftig über die neue Grundordnung beschließen würde. Dem gegenüber beharrte der bayerische Oberkirchenrat Hans Meinzold zusammen mit Johannes Heckel darauf, die DEK sei 1933 ohne Staatseinwirkung entstanden und ihre Verfassung bestehe fort. Diese sei jedoch fehler- und lückenhaft und müsse entsprechend ergänzt werden. Man könne auch auf die Bundesverfassung von 1922 zurückgehen und nach deren Muster eine Generalsynode zur Festlegung der neuen Ordnung einberufen, – was den eindeutigen Vorrang der Kirchenleitungen und -behörden gegenüber dem synodalen Element bedeutet haben würde. Ähnlich argumentierte Hans Liermann, der in der getroffenen Entscheidung von Treysa, es zunächst bei einer vorläufigen Regelung zu lassen und die Grundordnung später zu debattieren und zu beschließen, die faktische Fortführung der DEK sah, die – wie er formulierte – ,den Mantel der alten Reichskirche angezogen habe‘. Da in der so bezeichneten Treysaer Konvention ausdrücklich davon die Rede war, dass die innere Einheit der EKD umfassender sei als das, was der Deutsche Evangelische Kirchenbund von 1922 gewollt habe, folgerte Liermann, die vorläufige Grundordnung ziele statt auf eine bekenntnismäßig gegliederte Bundeskirche auf eine Unionskirche, in der die reformatorischen Bekenntnisse nur noch eine untergeordnete Rolle spielen würden. In der Tat kamen diese in der Konvention gar nicht vor, stattdessen fanden lediglich die Bekenntnissynoden von Barmen, Dahlem und Augsburg knappe Erwähnung.

Die eben genannten drei Modelle wurden von der Kirchenkonferenz in Treysa einmütig verworfen. Da die Kirche aber angesichts der Herausforderungen der Zeit handlungsfähig sein musste, setzte die Kirchenkonferenz, die sich als Gremium der Kirchenleitungen, des ‚Kirchlichen Einigungswerks‘ von Wurm und einer Abordnung der Bruderräte definierte, einen Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland ein, der bis zur Entschließung über eine Verfassung die gesamtkirchlichen Aufnahmen wahrnehmen sollte. Über den theologisch-konfessionellen Charakter dieses kirchlichen Zusammenschlusses war damit nichts ausgesagt; darüber hätte sich auch kaum eine Einigung erzielen lassen. Alle Teilnehmer bezogen sich explizit darauf, nur ein Provisorium beschlossen zu haben, von dem allein der Name ‚EKD‘ feststand. Über ihn erzielte man rasch eine Einigung: Man wollte sich damit nicht nur von der alten DEK absetzen, sondern stellte das Attribut ,deutsch‘ mit Absicht nicht mehr voran, um in theologischer Sicht dem Missverständnis zu wehren, ,deutsch‘ gehöre zur Wesensbestimmung der Kirche, – es sollte nur noch den geographischen Raum bezeichnen, in dem die EKD tätig war. 

Schwieriger war die Verständigung über die ersten Mitglieder des Rates: Der Vorschlag Wurms fand keine Mehrheit, Dibelius, Niemöller und ihn selbst zu Sprechern des 12köpfigen Gremiums zu machen; auch die Anregung, noch Meiser hinzuzuziehen, stieß auf Kritik der BK, weil mit ihm drei Bischöfe gegen einen ‚Normaltheologen‘ gestanden hätten. So kam man schließlich auf eine konsensfähige Lösung, deren allerdings verquere Konstruktion die Unsicherheit aller Beteiligten in diesen zentralen Personalfragen unterstreicht: Denn man beschloss, unter den 12 Ratsmitgliedern einen Sprecherausschuss von sieben Personen zu bestimmen, worunter sich jedoch keiner der drei Laien Gustav Heinemann, Rudolf Smend und der Hamburger Oberstudiendirektor Peter Maier befand. Ein früher wissenschaftlicher Beitrag zur ersten Treysaer Kirchenkonferenz urteilte schon 1971: „Deutlicher konnte man die Entmündigung der Gemeinde nicht demonstrieren, von der Wurm noch zu Beginn der Konferenz mit Emphase behauptet hatte, erstmals seit der Reformation bestehe jetzt die Chance, dass sich die Kirche unter „Leitung des Heiligen Geistes ein Regiment geben lassen [… könne] durch Vertrauensmänner der bekennenden lebendigen Gemeinde“. Und ein Vertreter der Württembergischen Sozietät, einer streng an der Barmer Theologischen Erklärung orientierten BK-Gruppe, Hermann Diem, der nun zu den schärfsten Kritikern des Kompromisses von Treysa gehörte, merkte 1947 mit ironischem Unterton an, mehr als ein schlichter „Regierungswechsel“ sei offensichtlich nicht erfolgt und das auch noch in einer „Koalitionsregierung“ mit den alten etablierten Kirchenparteien, „was an dem früheren Selbstverständnis der BK und ihren Bekenntnissen gemessen etwas wenig“ sei.

Wie kaum anders zu erwarten, stießen die Ergebnisse von Treysa in den Fraktionen der Lutheraner und der Bruderräte sogleich auf heftige Kritik, auf die wir hier aus Zeitgründen nicht näher eingehen können. Vor allem in Bayern protestierten viele Pastoren gegen die – wie sie es sahen – angebliche ‚Machtergreifung‘ der Bruderräte und sahen die Integrität des lutherischen Bekenntnisses schon durch das gleichberechtigte Hinzuziehen der BK-Gruppierung gefährdet. Selbst Meiser sprach im engeren Kreis von ‚Nazimethoden‘ und meinte damit den Mitgestaltungsanspruch und ungeklärten rechtlichen Status der Bruderräte, deren juristische Legitimation als kirchenleitende Organe aus seiner Sicht mit jener der landeskirchlichen Rechtskontinuität nicht vergleichbar war.

Gegen diese Kritik wehrten sich Niemöller und seiner Freunde heftig und verwahrten sich als Lutheraner in einer Unionskirche entschieden gegen den Vorwurf, nicht auf der gemeinsamen Grundlage der reformatorischen Bekenntnisse zu stehen. Diese müssten freilich in der jeweiligen geschichtlichen Situation immer wieder aktualisiert werden, was 1934 in Barmen geschehen sei. – 30 Jahre später urteilte Niemöller realistisch, wenn man sich nicht dem Kompromiss von Treysa unterworfen hätte, wäre für die Bruderräte nur der Weg in die Freikirche gangbar gewesen. So habe man immerhin eine bloße Restauration der alten Reichskirche erfolgreich verhindert.

In der Denkschrift der Bruderräte zur Verfassung der EKD vom Frühjahr 1947 hieß es, die Neuordnung habe einzusetzen „im Ereignis der gottesdienstlichen Versammlung“. Ausgehend von den Erfahrungen des Kirchenkampfes wolle man auf die Bekenntnisschriften ‚hören‘ und Folgerungen für die Ordnung der Kirche in der „gemeinsame[n] Beugung unter Gottes Wort“ ziehen. Dazu zähle auch die Freiheit für alle Gemeinden und Kirchen, sich nach ihrem Bekenntnisstand zu ordnen und sich in bekenntnisgleichen Regionen zusammenzuschließen. Damit werde die EKD zu einem „Bund von bekenntnisbestimmten evangelischen Kirchen“. Natürlich sei das ekklesiologisch gesehen eine Paradoxie, aber diese Spannung gelte es auszuhalten, weil sie der kirchlichen Wirklichkeit entspreche. Wenn das gelinge, stehe auch einer gemeinsamen Abendmahlspraxis unbeschadet lutherischer und reformierter Sondervoten nichts im Wege. Damit war das Ziel der kommenden Grundordnung klar anvisiert: die EKD als Kirchenbund verschiedener Bekenntnisgemeinschaften und zugleich doch einige Kirche. Tatsächlich gelang es dann in Eisenach 1948, dies in die Grundordnung hineinzuschreiben, wenngleich die Lutheraner dagegen bis zuletzt Widerstand leisteten: Für sie konstituierte sich Kirche durch das gemeinsame Bekenntnis; eine Gemeinschaft konfessionsverschiedener Gruppierungen konnte nur ein Kirchenbund sein und nicht mehr. 

Nicht alle Ergebnisse der Kirchenkonferenzen von Treysa haben die Entwicklung bis heute überdauert. Andere Themen, Probleme und Spannungen, die mit dem Weg der EKD-Kirchen in der DDR bis zur Gründung des Kirchenbundes und darüber hinaus zu tun haben, überlagerten seit den 1950er Jahren viele jener Punkte, um die man zwischen 1945 und 1948 so erbittert gestritten hatte. Aber zur Nachgeschichte vor allem von Treysa II gehört auch jener theologische Neubeginn, wie er von der Arnoldsheimer Konferenz seit Ende der 1950er Jahre ausging und 1973 in der Leuenberger Konkordie im europäisch-ökumenischen Maßstab seinen Niederschlag fand. Miteinander theologisch reden und den Versuch zu wagen, über historisch gewachsene konfessionelle Trennlinien hinaus zu einer neuen Einheit im Verständnis des Glaubens und der Sak-ramente zu gelangen, war das Anliegen der 1945 und 1947 in Treysa und ein Jahr später in Eisenach Versammelten. Dass die Teilnehmer damals noch den Frontstellungen des Kirchenkampfes so stark verhaftet waren und deshalb über mühsam erzielte Kompromisse nicht hinauskamen, ist allerdings ein Faktum. Ihnen daraus ex post Vorwürfe zu machen, hieße die geschichtliche Situation nach den extremsten Umbrüchen zu verkennen, denen sich der deutsche Protestantismus seit der Reformation zwischen 1933 und 1945 ausgesetzt sah. Indessen setzte auch Treysa hoffnungsvolle Zeichen, die in die Zukunft wiesen und von denen die evangelischen Christen in ihren Gemeinden und Kirchen in den kommenden Jahrzehnten zehren konnten.

Jochen-Christoph Kaiser


Quellen und Literatur in Auswahl

  • Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Aktengruppe  2/42
  • Hermann Diem, „Die Problematik der Konvention von Treysa“, in: Paul Schempp, Evangelische Selbstprüfung. Beiträge und Berichte von der gemeinsamen Arbeitstagung der Kirchlich-theologischen Sozietät in Württemberg und der Gesellschaft für Evangelische Theologie, Sektion Süddeutschland im Kurhaus von Bad Boll vom 12. bis 16. Oktober 1946, Stuttgart 1947, 21-33
  • Heinz Brunotte, Die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Ihre Entstehung und Probleme, Berlin 1954
  • Armin Boyens, „Treysa 1945 – Die Evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches“, in: ZKG 82. 1971, 29-53
  • Annemarie Smith-von Osten, Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948. Zur Geschichte der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (AKiZ, Reihe B, 9), Göttingen 1980
  • Helmut E. Thormann (Hg.), Der Beginn der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1945 in Hephata. Treysaer Kirchenkonferenz vom 27. bis 31. August 1945. Katalog zur Ausstellung, Schwalmstadt 1995
  • Der Kompromiß von Treysa. Die Entstehung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1945. Eine Dokumentation, hgg. v. Gerhard Besier/Hartmut Ludwig/Jörg Thierfelder, bearb. von Michael Losch/Christoph Mehl/Hans-Georg Ulrichs, Weinheim 1995
  • Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bd. I: 1945/46, bearbeitet von Carsten Nicolaisen und Nora Andrea Schulze (AKiZ, Reihe A, 5), Göttingen 1995
  • Joachim Mehlhausen, „Die Konvention von Treysa. Ein Rückblick nach 40 Jahren“, in: Ders., Vestigia Verbi. Aufsätze zur Geschichte der evangelischen Theologie, Berlin–New York 1999, 485-499
  • Ders., „Fünfzig Jahre Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Erbe und Auftrag“, in:  Festschrift für Martin Heckel zum 70. Geburtstag, hgg. von Karl-Hermann Kästner/Martin Heckel/ Knut Wolfgang Jörr/Klaus Schlaich, Tübingen 1999, 159-177