Xenotransplantation

2. Kulturgeschichtliche Aspekte

Das Heranziehen von Tieren als Organquelle ist nicht unproblematisch. Erhellend ist der Blick in die Geschichte und andere Kulturen. Die Beziehung von Tier und Mensch ist in allen Kulturen von zentraler Bedeutung - mit entsprechenden Folgen für den Umgang des Menschen mit der Natur sowie für sein eigenes Selbstverständnis. Entscheidend ist hierbei die Frage der Hierarchie der Seinsformen und ihres jeweils spezifischen ethisch-rechtlichen Gehaltes. Hat der Mensch ein Recht, über die "niedrigeren" Seinsformen zu seiner Erhaltung und Fortpflanzung zu verfügen, welche Grenzen sind ihm gesetzt, an welche Bedingungen muß er sich halten? Bei aller Differenz stehen Tierverzehr, Tierexperiment, Tiermedikament und Tiertransplantation in einem inneren Zusammenhang.

Für die gegenwärtige Situation der modernen westlichen Medizin ist die europäische Entwicklung mit den griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Wurzeln fundamental. Im Blick auf die multikulturelle Bevölkerung der westlichen Länder, die auch für die Herkunft der Patientinnen/Patienten, Pflegepersonen und Ärzteschaft charakteristisch ist, erweist sich die Beachtung anderer Kulturen mit ihren Traditionen allerdings als ebenso notwendig.

Die Beziehung und Verbindung von Mensch und Tier haben in allen Kulturen ihren realen und symbolischen Niederschlag gefunden. Tierverehrung, Tieropfer, Tierfetischismus, Zoophilie, Chimären und Verwandlung von Menschen in Tiere sowie von Tieren in Menschen sind unterschiedliche Stichworte, die auch für die Xenotransplantation Bedeutung besitzen und stets mit Gesundheit und Krankheit, Therapie, Prävention und Prophylaxe in einem Zusammenhang standen.

In der Bibel werden Vielfalt und Schönheit aller Naturformen gepriesen, gelten Pflanzen und Tiere als Vorbilder für den Menschen, spielt das Tieropfer eine große Rolle. Die Aufforderung in Genesis 1,28, sich die Erde untertan zu machen und über die Tiere zu herrschen, rechtfertigt keineswegs Ausbeutung und Zerstörung der Natur, sondern meint vielmehr Fürsorge und Verantwortung für die Natur. Recht auf Nutzung der Tiere und Pflicht zu ihrer Erhaltung und Pflege stellen eine grundsätzlich gültige Spannung und Herausforderung für den Menschen dar.

Die Geschichte der europäischen Neuzeit durchziehen Auseinandersetzungen über die Notwendigkeit und Berechtigung zu Tierversuchen, die auch für die Frage der Xenotransplantation von Belang sind. Zu antivivisektionistischen Bewegungen kommt es im 19. Jahrhundert. Mit dem Nutzen für den Menschen legitimiert der Physiologe und Mediziner Albrecht von Haller im 18. Jahrhundert die "grausamen" Versuche an lebenden Tieren. Entsprechende Diskussionen werden bereits im 17. Jahrhundert und auch schon früher geführt, in denen selbst wieder - im Sinne der Renaissance - auf antike Vorbilder oder Beispiele verwiesen wird.

Juristische Regelungen zum Schutz der Tiere unterscheiden sich in den europäischen Ländern. Das Reichstierschutzgesetz von 1933 markiert mit der Verpflichtung zum Schutz der Tiere in Deutschland eine wichtige Zäsur in einer Entwicklung, die sich mit weiteren Entscheidungen bis in die Gegenwart fortsetzt und einen bezeichnenden Ausdruck in der Wendung von der "Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf" (Tierschutzgesetz § 1) enthält.

In den medizinischen Eiden und Deklarationen der Vergangenheit und Gegenwart spiegelt sich diese Entwicklung wider. Der hippokratische Eid aus dem 4./5. vorchristlichen Jahrhundert äußert sich zum Umgang mit dem Tier nicht, mit der Ablehnung des Blasensteinschnitts wird aber eine Reserve des hippokratischen Arztes gegenüber jedem chirurgischen Eingriff manifest, die sich auch auf das Tier beziehen läßt. Zugleich kann dieser Eid keine Repräsentativität für die Antike beanspruchen; Ärzte jener Epoche folgen auch anderen theologischen und philosophischen Orientierungen. Im übrigen setzt sich dieser Eid für die Übergabe dieses chirurgischen Eingriffs an jene Männer ein, "die dieses Handwerk ausüben". Das Mittelalter hat mit der theologisch-religiös fundierten Distanz gegenüber dem Blutvergießen die hippokratische Tradition der allgemeinen chirurgischen Zurückhaltung fortgeführt. Nach den weltweit gültigen Deklarationen von Helsinki (1964) und Tokio (1975) ist der Tierversuch legitim und stellt eine notwendige Voraussetzung zum Versuch am gesunden wie kranken Menschen dar. Explizite Aussagen zur Xenotransplantation finden sich in diesen Texten zur Ethik der Forschung nicht, wohl aber zum Umgang mit dem Tier: "Auf das Wohl der Versuchstiere muß Rücksicht genommen werden." Die Geschichte der Xenotransplantation selbst setzt zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Übertragung von Nieren ein, erlebt ihre wirkliche Entwicklung aber erst in den 60er Jahren.

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