Weihnachtspredigt am Heiligen Abend in der Kasseler Martinskirche (Lukas 2,14)

24. Dezember 2002

„Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ (Lukas 2,14) – so lautet die Weihnachtsbotschaft der Engel über dem Stall von Bethlehem. Es ist eine einzigartige Botschaft, die der Welt und der Menschheit Hoffnung gibt und Zukunft verheißt.

Botschaften gibt es viele. Tagtäglich sind wir einer nicht überschaubaren Zahl von Botschaften ausgesetzt: Zeitung, Radio, Fernsehen, Internet liefern sie uns frei Haus. Ihre Absender haben dabei höchst unterschiedliche Interessen. Wer kann sie überhaupt noch aufnehmen, gewichten, einordnen und verarbeiten? Wir sind – das ist meine Diagnose – mit Botschaften überfüttert, doch unsere Sehnsucht nach verlässlichem Wissen und tragfähiger Orientierung bleibt dabei ungestillt.

Das gilt nicht zuletzt für unser Land. Das Stimmungsbarometer ist in den hinter uns liegenden Wochen deutlich gesunken. Dafür gibt es Gründe: Vieles, was wir in den vergangenen Jahrzehnten schätzen und nutzen lernten - sicheres Auskommen im Alter, soziale Sicherheit im Fall von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit -, scheint jetzt in Frage gestellt. Es ist wahr: Dies sind ernste Probleme! Unser Land und unsere Gesellschaft stehen vor erheblichen Reformaufgaben.

Wir hören diese Botschaften tagtäglich. Doch wie gehen wir mit ihnen um? Auch wenn die genannten Probleme und Aufgaben nicht zu leugnen sind, sehe ich mit einiger Sorge auf einen sich mehr und mehr breitmachenden allgemeinen Erregungszustand. Daran sind nicht nur die Botschaften aus Politik, Wirtschaft und ihre Überbringer, die Medien, schuld. Es gibt in der Gesellschaft selbst die Neigung zu einer kurzatmigen Selbsterregung: Neben berechtigten Sorgen sind dazwischen bedenkliche Töne des Selbstmitleids und der Selbstbeschwichtigung zu hören: „Wir sind betrogen worden – von denen da oben“, heißt es nun. Stimmt das? Wer es wirklich wissen wollte, konnte schon vor Jahresfrist die Probleme erkennen, die sich  jetzt in aller Klarheit darstellen. Die Schuld nunmehr allein auf die politisch Verantwortlichen abzuschieben, erscheint mir zu billig.
 
Allerdings muss sich auch die Politik fragen lassen, welche Botschaften sie angesichts der drängenden Aufgaben bereithält: Wer heute nur auf parteipolitisches Kalkül setzt, wer leichtfertig die jetzige Situation etwa mit der späten Weimarer Republik in Verbindung bringt, dessen Botschaft schürt nicht nur fahrlässig Ängste, sondern der wird auch seiner politischen Verantwortung nicht gerecht.

Die Weihnachtsbotschaft von der Menschwerdung Gottes spricht zu Menschen mit Sorgen. Sie wurde schon damals in der Nacht zu Bethlehem in eine wenig friedliche, kaum gerechte Welt gesagt: Zuerst erging sie an die Hirten, eher Outcasts der damaligen Gesellschaft, die von den Engeln auf den Weg zur obdachlosen Heiligen Familie geschickt wurden.

Doch die Weihnachtsbotschaft lautet: „Fürchtet euch nicht.“ Das ist keine Beschwichtigungsformel, auch keine schlichte Vertröstung angesichts der Probleme, die unsere Welt auch anno 2002 nach Christi Geburt zu tragen hat. Wer würde das Leid, die Sorgen, die Not der Welt besser kennen als Gott?

Nein, die Weihnachtsbotschaft blendet die widersprüchliche Wirklichkeit unserer Welt nicht aus, doch gibt sie uns eine Perspektive: Christus ist geboren - Gott kommt in unsere Welt. Das erst schafft die Voraussetzungen, unter denen wir unseren Part in dieser Welt spielen können und sollen. Gottes Wohlgefallen an uns setzt die Kräfte frei, Lösungen für die Probleme unseres Landes zu suchen und um den richtigen Weg mit aller uns zu Gebote stehenden Vernunft zu ringen. Die Zusage Gottes hält uns davon ab, angesichts aller anstehenden Aufgaben zu verzagen oder gar zu resignieren.

Weil der Frieden auf Erden nicht allein uns gilt, richten wir unseren Blick über unser Land hinaus: Es gibt auch andere, die um Frieden, Gerechtigkeit und gesichertes Auskommen bangen. Von Weihnachten geht eine ökumenische, weltweite Botschaft aus, die uns in der Verheißung und in der Verantwortung mit allen Völkern dieser Welt verbindet.