Bildung und Jugend nach 2006

Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu der Konsultation "Die künftige Entwicklung der Programme der EU in den Bereichen allgemeine und berufliche Bildung und Jugend nach 2006"

Vorwort

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) begrüßt ausdrücklich, dass die Europäische Kommission vor der Neugestaltung ihrer Bildungsprogramme eine breite öffentliche Konsultation eingeleitet hat. Bildung ist seit der Reformationszeit ein zentrales Thema für die evangelische Kirche. Anfang des Jahres hat der Rat der EKD diesbezüglich die Denkschrift "Maße des Menschlichen" - Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft vorgelegt, von der eine Zusammenfassung in thesenform als Anlage dieser Stellungnahme beigefügt ist. (1) Die EKD beteiligt sich an dem Konsultationsprozeß in dem Bewußtsein, dass die derzeitigen Bildungsprogramme seit Jahren für Akteure im Bereich der formalen und non-formalen Bildung von großer Bedeutung sind. Insgesamt sind wir der Auffassung, dass bei der Erarbeitung einer neuen Programmgeneration der Bedeutung von Werten und religiöser Identität in Europa ein stärkeres Gewicht eingeräumt werden sollte. Wir sind bereit, uns dieser Mitverantwortung zu stellen.

Die vorliegende Stellungnahme nimmt die konkreten Erfahrungen auf, welche die EKD als Trägerin zahlreicher Bildungseinrichtungen sowie im Religionsunterricht der Schule gesammelt hat und berücksichtigt dabei insbesondere die Beiträge der evangelischen Jugendverbandsarbeit, Jugendsozialarbeit und Jugendbildungsarbeit in Deutschland. Die Struktur der Stellungnahme entspricht der Gliederung des Fragenkatalogs der Kommission.

  1. Art der Maßnahmen

    Zu Frage A.1

    Aus Sicht der EKD sollten sich alle zukünftigen Programme an folgenden Kriterien orientieren:

    • Bildung und Orientierung

      Bildung ist mehr als Wissen. Bildung betrifft den einzelnen Menschen als Person, seine Förderung und Entfaltung als "ganzer Mensch" und seine Erziehung zu sozialer Verantwortung für das Gemeinwesen. Das Ziel von Lissabon (2000), Europa zu einem "wissensbasierten Wirtschaftsraum" zu machen, impliziert die Gefahr einer einseitigen Ausrichtung der Bildungsprozesse an ökonomischen oder funktionalen Interessen. Einer solchen "Verzweckung" der Bildungsprogramme treten wir entschieden entgegen. Wir setzen uns dafür ein, dass das Orientierungswissen mit dem Verfügungswissen Schritt hält. "Bildung" fragt nach der Substanz und den Zielen von Wissen und Lernen und ermöglicht damit erst verantwortunsbewußtes Handeln. Deshalb sollte Bildung in einem umfassenden Sinn als Befähigung zu eigenbestimmter Lebensführung, als Aneignung von Selbstbildungsmöglichkeiten verstanden werden. Das schließt nach unserer Überzeugung die Herausbildung einer religiösen und ethischen Urteilsbildung mit ein, an der sich das menschliche Maß im Lernen, Wissen, Können und Handeln orientieren kann.

    • Partizipation

      Entsprechend dem Weißbuch "Neuer Schwung für die Jugend Europas" ist die Partizipation junger Menschen und der zivilgesellschaftlichen Strukturen für die weitere europäische Integration von entscheidender Bedeutung. Partizipation setzt jedoch voraus, dass:

      • die jungen Menschen in allen sie betreffenden Lebensbereichen (Schule, Freizeit, Verwaltung, Politik) lernen, nicht als Objekte zu reagieren, sondern als verantwortliche Subjekte zu agieren.

      • die Jugendlichen in die Lage versetzt werden, die Chancen Europas zu nutzen, um die weitere politische Entwicklung mitzugestalten und den Risiken begegnen zu können, die z.B. mit der Mobilität verbunden sind.

    • Interkulturelles Lernen

      Immer wichtiger werden in Europa Kompetenzen für ein gelingendes Zusammenleben verschiedener kultureller, ethnischer und religiöser Traditionen und Identitäten. Ein Ziel der Bildungsprogramme muss deshalb aus unserer Sicht das "interkulturelle Lernen" sein. Internationale Jugendbegegnungsmaßnahmen, der Europäische Freiwilligendienst, Auslandssemester und andere europäischen Bildungserfahrungen bieten den idealen Rahmen für solche Lernerfahrungen. Zu betonen ist aus Sicht der EKD dabei zweierlei:

      Erstens: Die kulturelle Identität von Menschen ist wesentlich mitbestimmt von ihrer religiösen Orientierung. Interkulturelles Lernen ist von einem interreligiösen Austausch nicht zu trennen. Wenn das Konsultationspapier davon spricht, dass die bisherigen Programme "auch zur Stärkung des Dialogs zwischen den Kulturen" beitragen (S. 24), ist es aus unserer Sicht dringend erforderlich, den Bereich der Religionen und der Werteerziehung im Rahmen schulischer Bildungsarbeit und Jugendarbeit in die Programme einzubeziehen. Dabei ist interreligiöses Lernen von großer Bedeutung sowohl in dem Bereich nicht-formaler Bildung (z.B. Jugendorganisationen) als auch im Bereich der formalen Bildung und bedarf deshalb konkreter Initiativen in den Schulen. Die "Unterstützung des Austauschs vorbildlicher Verfahren und Zusammenarbeit in Netzen" (S. 23) sollte auf den Bereich der Religions- und Weltanschauungsmeinschaften ausgedehnt werden, die mit ihren Aktivitäten zu Toleranz und gegenseitigem Verständnis beitragen.

      Zweitens: Interkulturelles Lernen findet nicht "von selbst" statt, sondern muss durch entsprechende methodische, personelle und didaktische Rahmenbedingungen initiiert und reflektiert werden. Eine qualifizierte Begleitung der Bildungserfahrungen sollte deshalb aus unserer Sicht zu den Förderkriterien gehören.

      Europäische Bildungsprogramme sollten hierfür geeignete Rahmenbedingungen schaffen, Initiativen zur Stabilisierung der eigenen kulturellen, ethnischen und religiösen Identität unterstützen und eine Beteiligung der Religionsgemeinschaften daran berücksichtigen, Kompetenzen für die Bewältigung komplexer, pluralistischer Heterogenität zu entwickeln.

    • Europäischer Mehrwert

      Der fortschreitende Integrationsprozess der EU ist auf die nötige Unterstützung in den Bevölkerungen der Mitgliedstaaten angewiesen. Umfragen zeigen, dass gerade junge Menschen für die "europäische Idee" neu begeistert werden müssen. Ihr Einverständnis kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt, sondern muss immer wieder neu gewonnen werden.

      Die europäischen Bildungsprogramme sollten daher Maßnahmen unterstützen, welche die Ausbildung einer europäischen Identität fördern, indem sie die gemeinsamen religiösen, kulturellen und historischen Wurzeln herausarbeiten.

    Zu Frage A.2

    Als neue Maßnahme schlagen wir deshalb ein übergreifendes Programm vor, das Bildungsinitiativen unterstützt, in denen die Vorstellung einer europäischen Identität durch die Rückbindung an gemeinsame europäische Wurzeln konkretisiert wird. Dieses Ziel läßt sich aus unserer Sicht allerdings nur erreichen, wenn die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in den Bildungsprozeß eingebunden werden. Dabei kommt dem Aspekt der religiösen Bildung in den Schulen Europas ein besonderer Stellenwert zu. Gerade hier geht es in den unterschiedlichen Ausrichtungen darum, das "Recht des Kindes auf Religion" in der Pluralität der Tradition Europäischer Kultur zu verwirklichen. Zusammenleben in der Verschiedenheit einer pluralen Gesellschaft setzt die Akzeptanz der Verschiedenheit, die Kenntnis der eigenen Herkunft und die Fähigkeit zum Dialog mit dem Anderen voraus. Dazu trägt der Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen Europas bei. Das vorgeschlagene Programm sollte innovative Ansätze im Blick auf Identitätsbildung und interreligiöse Verständigung für das Zusammenleben in Europa in besonderem Maße fördern. Auch wenn die nationalen Bildungssysteme in Fragen religiöser Bildung in den öffentlichen Schulen unterschiedliche Konzepte entwickelt haben, so bedarf es doch einer intensiveren Kooperation im Blick auf den Beitrag religiöser Bildung in dem sich entwickelnden Europa.

    Geografische Reichweite

    Die Reichweite der bestehenden Programme sollte neben den Mitgliedsstaaten, Beitrittsländern und -kandidaten vor allem auch Russland und die GUS-Staaten mit einbeziehen, da für einen Transformationsprozess hin zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Bildung ein entscheidender Faktor ist. Dabei sollte auch eine Beteiligung der Orthodoxen Kirchen am öffentlichen Bildungsdiskurs in Europa angestrebt werden.

  1. Aufbau und Durchführung des Programms

    Zu Frage C.1

    Der Ausgangspunkt der Entwicklung einer neuen Programmgeneration sollte eine gemeinsame konzeptionelle Grundorientierung und eine Abstimmung der politischen Ziele der unterschiedlichen Aktivitäten der EU im Sektor der Bildung sein. Alle Programmbereiche sollten dabei unter der programmatischen Klammer des lebensbegleitenden Lernens näher zusammengeführt werden. Konzeptionell sollten die Überlegungen an den oben beschriebenen Vorstellungen eines mehrdimensionalen Bildungsbegriffes anknüpfen. Politisch sollte der Bezugspunkt die Vision einer sozial gerechten, partizipativen, multiethnischen und -religiösen Gesellschaft auf der Grundlage von Toleranz und der Anerkennung von Pluralität sein.

    Die Architektur der neuen Programmgeneration sollte daher nach unserer Auffassung unter einem gemeinsamen konzeptionellen, institutionellen und politischen Dach die verschiedenen EU-Programme zum Themenbereich Jugend und Bildung getrennt belassen. Damit wäre auch weiterhin die Verantwortung einer Generaldirektion für dieses politische Handlungsfeld gewährleistet und gleichzeitig bestünde die Gelegenheit, im Horizont abgestimmter politischer und konzeptioneller Ziele differenzierte, eigenständige Programme im Hinblick auf unterschiedliche Lebenslagen und die verschiedenen biografischen Stationen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu gestalten.

    Zu Frage C.2

    Eine effiziente Ressourcenverwaltung und breite Beteiligung an den Programmen ist nach unseren Erfahrungen ganz wesentlich davon abhängig, wie die Frage der Abwicklung und Verwaltung der Programme gestaltet ist und in welcher Weise die vorhandenen zivilgesellschaftlichen, intermediären Organisationen in diesen Prozess einbezogen sind. Zukünftig sollten daher die in den zivilgesellschaftlichen Organisationen der Mitgliedsstaaten vorhandenen Kompetenzen stärker in die Abwicklung der Programme einbezogen werden. Wenn z.B. die freien Träger in Beiräte und Begleitgremien, in die Abstimmungsprozesse zwischen der EU und ihren Institutionen, den zuständigen Ministerien in den Mitgliedstaaten und den beauftragten Nationalagenturen einbezogen werden, könnte das die Übertragung von Erfahrungen maßgeblich befördern und Synergien zwischen nationalen und EU-Programmen herstellen.

    Im Sinne eines effizienten Einsatzes finanzieller Mittel ist auch zu prüfen, ob z.B. durch die bisherige Abwicklung des Programms Jugend in einigen Ländern überflüssige Doppelstrukturen geschaffen worden sind.

    Ein weiterer Schritt wäre eine grundlegende Vereinfachung der Antragsstellung und der Erstellung des Verwendungsnachweises, z.B. durch Vereinheitlichung nach bestimmten wesentlichen Grundparametern (Zielgruppen, Art des Projektes, Projektergebnis, beteiligte Organisationen). Dies wäre sowohl für die Auswahl der Projekte, die Gewinnung weiterer Projektpartner, als auch für die Ergebnissicherung und die Transparenz eine große Hilfe. Gerade im Feld der non-formalen Bildung sind eine Vielzahl von Volunteers tätig, für die die umfangreichen Formulare ein hohes Hindernis darstellen. In Verbindung damit könnte auch die Transparenz der Abwicklung der unterschiedlichen Programme und der Mittelvergabe auf den unterschiedlichen Ebenen verbessert werden.

    Schließlich ist aus unserer Sicht eine bessere Qualitäts- und Ergebnissicherung anzustreben. Dazu gehört u.a. auch die Förderung von Infrastrukturen für die Koordinierung und Begleitung der Programme auf der projektübergeordneten, intermediären Ebene. Um hier die Qualität und Kontinuität in der Projekt- und Programmumsetzung zu erhöhen, sind personelle und sächliche Ressourcen auf einer mittleren Ebene unerlässlich. Damit könnte gleichzeitig eine Lücke geschlossen werden, zwischen der lokalen und vereinzelten Projektebene und den nationalen und/oder europäischen Institutionen mit übergeordneten Aufgaben.

    Zu Frage C.3

    Es sollte aus Sicht der EKD weiterhin gleichzeitig sowohl der "dezentrale", als auch der "zentrale" Ansatz bei der Programmumsetzung beibehalten werden. Nationalagenturen haben, insbesondere für kleinere Projekte, den Vorzug, Informationen schneller (und in der jeweiligen Muttersprache) weiterleiten zu können. Allerdings sollte die Anbindung und (vertragliche) Bindung zwischen den Projektträgern und den Nationalagenturen verbindlicher und im Geist einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit gestaltet sein. Eine klare Aufgabenbeschreibung der nationalen Agenturen und eine strukturelle Einbindung der Umsetzungspartner im Rahmen von Programmbeiräten u.a. sollte länderspezifisch unterschiedlich festgelegt werden - in Deutschland z.B. unter Berücksichtigung der anerkannten freien Träger der Jugendhilfe.

    Zu Frage C.5

    Die Flexibilität der aktuellen Programme leidet nach unseren Erfahrungen oftmals an einer unzureichenden Durchlässigkeit zwischen den Programmen, zu starren Zuständigkeitstrennungen und damit verbundenen organisatorischen Hemmnissen bei der Umsetzung variabler bzw. kombinierter Projektziele.

    Eine oben beschriebene Programmarchitektur von eigenständigen Programmen unter einem gemeinsamen konzeptionellen Dach würde eine bessere Verknüpfung der bislang doch relativ stark voneinander abgegrenzten Programme erlauben. Dadurch könnten z.B. die Aktivitäten im Bereich der "joint actions" intensiviert werden, ohne die Vorteile von getrennten Programmen aufzugeben, die auf differenzierte Lebenslagen, sowie auf spezielle Ziele und Situationen zugeschnitten sind. Eine solche Programmarchitektur böte auch hinreichend Raum für eine durch aktuelle politische Entwicklungen bedingte Flexibilität von Programmen.

    Ergänzend sind aus Sicht der EKD noch folgende Aspekte hinzuzufügen:

    • Programme, die auf differenzierte Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen zugeschnitten sind, müssten z.B. Fragen der sozialen und beruflichen Integration, die spezifische Situation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Genderaspekte, die Chancen gesellschaftlicher und politischer Partizipation, Orientierung in einer multiethnischen Gesellschaft oder die unterschiedlichen Zugänge zu gesellschaftlichen Wissensbeständen fördern. Gleichzeitig würde eine Berücksichtigung der verschiedenen biografischen Stationen im Leben von Kindern und Jugendlichen es ermöglichen, Programme zu konzipieren, die Kinder und Jugendliche in den vielfältigen Bereichen der formalen und non-formalen Bildung erreichen. Benachteiligte Jugendliche sollten nicht nur als Zielgruppe benannt und gefördert, sondern auch gezielt angesprochen werden.

    • Mit der Entwicklung einer neuen Programmgeneration stellt sich zudem die Frage nach Qualitätsstandards für die verschiedenen Aktivitäten sowie nach der Evaluation. Die Notwendigkeit der Einhaltung von Qualitätsstandards und einer umfassenden Evaluation der Programme ist unbestritten. Es fehlt jedoch an einer gemeinsamen Verständigung über grundlegende Standards der einzelnen Aktivitäten und über Verfahren, Kriterien und Transparenz der Evaluation. Nach unserer Überzeugung misst sich die Qualtität vor allem an folgenden Kriterien:

      Führt die geförderte Maßnahme

      • zu personaler und sozialer Kompetenz?
      • zu interkultureller und interreligiöser Kompetenz?
      • zum Verstehen europäischer und globaler Zusammenhänge?
      • Ist sie am Prinzip der Nachhaltigkeit ausgerichtet?
      • Ist sie am Konzept des Gender Mainstreaming orientiert?
      • Wird sie qualifiziert vorbereitet und begleitet?

    Im Bereich der Evaluation sollten aus Sicht der EKD einfache, aussagekräftige und transparente Verfahren eingesetzt werden. Für einen seriösen Umgang mit Verfahren und Ergebnisse der Evaluation der einzelnen Aktivitäten bzw. des Programms ist in diesem Zusammenhang unabdingbar, dass mit dem Anspruch der Evaluation und den Ergebnissen der Evaluation realistisch umgegangen wird. Erforderlich ist außerdem eine offene Diskussion über die Ergebnisse der Evaluation mit den verschiedenen Akteuren, die im Bereich der Programme tätig sind.

    Abschließend möchten wir betonen, daß die EKD und ihre an dieser Stellungnahme beteiligten Verbände (aej, BAG EJSA, Evangelische Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung) als Dialogpartner bei der Entwicklung der Programme jederzeit zur Verfügung stehen, sich ihrer Bildungsverantwortung stellen und die Entwicklung einer neuen Programmgeneration weiterhin konstruktiv begleiten werden.