Predigt im Gottesdienst der ELKRAS am 16. Sonntag nach Trinitatis (Joh 11, 1+3f + 6f +17 + 20-28 + 33f + 38-45)
04. Oktober 2003, Moskau
Die Auferweckung des Lazarus
1 Es lag aber einer krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf Marias und ihrer Schwester Marta.
3 Da sandten die Schwestern zu Jesus und ließen ihm sagen: Herr, siehe, der, den du lieb hast, liegt krank.
6 Als er nun hörte, dass er krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war;
17 Als Jesus kam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grabe liegen.
20 Als Marta nun hörte, dass Jesus kommt, geht sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen.
21 Da sprach Marta zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.
22 Aber auch jetzt weiß ich: Was du bittest von Gott, das wird dir Gott geben.
23 Jesus spricht zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen.
24 Marta spricht zu ihm: Ich weiß wohl, dass er auferstehen wird - bei der Auferstehung am Jüngsten Tage.
25 Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt;
26 und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?
27 Sie spricht zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.
28 Und als sie das gesagt hatte, ging sie hin und rief ihre Schwester Maria heimlich und sprach zu ihr: Der Meister ist da und ruft dich.
33 Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, ergrimmte er im Geist und wurde sehr betrübt
38 Da ergrimmte Jesus abermals und kam zum Grab. Es war aber eine Höhle und ein Stein lag davor.
39 Jesus sprach: Hebt den Stein weg! Spricht zu ihm Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen.
40 Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?
41 Da hoben sie den Stein weg. Jesus aber hob seine Augen auf und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast.
42 Ich weiß, dass du mich allezeit hörst; aber um des Volkes willen, das umhersteht, sage ich's, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast.
43 Als er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus!
44 Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löst die Binden und lasst ihn gehen!
45 Viele nun von den Juden, die zu Maria gekommen waren und sahen, was Jesus tat, glaubten an ihn.
Liebe Gemeinde,
die Botschaft des Evangeliums zum 16. Sonntag nach Trinitatis sagt an, was uns die lebendige Hoffnung verkörpert.
Im zweiten Brief an Timotheus (1,10) ist das in einem Satz zusammengefasst:
"Christus Jesus hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht - durch das Evangelium".
Dieses Bekenntnis spiegelt ein Bild, das auch durch den Tod nicht verkommt.
Dabei ist die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus für unsere kritische Vernunft eine arge Zumutung. Ein wiederbelebter Leichnam ist ein anstößiges Bild.
Es ist nicht mit dem Erklärungsversuch abzumildern, es könne sich um einen Scheintoten gehandelt haben. Denn ausdrücklich wird gesagt, der Leichnam läge nun schon vier Tage, und er habe schon gestunken.
Auch hilft uns zur Erleichterung nicht der Glaube an eine unsterbliche Seele, denn es wird ja der Leichnam des Lazarus ins Leben zurückgeholt. Das will unser Verstand nicht fassen.
Aber diese Erzählung ist dennoch eine schöne Geschichte, die wie ein Bild in uns Betrachtern etwas auslösen kann.
1. Sie möchte uns trösten, wenn wir vom Tode eines lieben Menschen getroffen sind. Sie möchte uns Mut zusprechen, wenn wir am Bett eines Sterbenden sind.
Die Geschichte kann, wie das Sakrament, in uns Wirken und eine heilende Kraft entfalten.
Viele von uns haben Erfahrungen mit dem Sterben, dem Tod und der Trauer, von der die Erzählung zunächst berichtet.
Da ist einer schwer krank, man sendet zu Jesus. "Komm, besuche ihn, er ist doch dein Freund. Er braucht deine Nähe. Es geht zuende mit ihm, komme rasch!"
Dann heißt es: Jesus lässt zwei Tage verstreichen. Er kommt zu spät - Lazarus ist gestorben.
Die Angehörigen weinen. Und der Vorwurf ist nicht zu überhören: Marta, die Schwester des Lazarus spricht es aus: "Herr, wärest du hier gewesen, er wäre nicht gestorben".
Sie hatte ja recht, er hätte sich doch beeilen können; von jedem Arzt erwartet man das, wenn er zum Kranken gerufen wird.
Die Klage um den lieben Bruder ist auch eine Klage über eine vermutlich verpasste Gelegenheit.
Was überlegen wir uns oft, wenn jemand gestorben ist! Wäre ich doch eher, hätte ich doch deutlicher ... Hätten wir doch einen Arzt noch schneller gerufen! Wäre doch dieses oder jenes Medikament zur Verfügung gewesen ... Das Ereignis des Todes ist aber unabwendbar.
Mit dem Kopf wissen wir das. Der Tod ist unausweichlich. Bestimmt für alle und für jeden einzelnen. Aber für den Zeitpunkt machen wir oft genug jemanden haftbar.
Dann das Trostwort Jesu: "Dein Bruder wird auferstehen". "Ja," sagt die Schwester, denn so hat sie es gelernt! "Am jüngsten Tage" - Aber dieses fromme Bekenntnis tröstet sie nicht in ihrem unmittelbaren Schmerz, wie es niemanden tröstet, der von einem geliebten Menschen getrennt wird.
Die Tränen fließen, der Schmerz ist tief. Und unter Tränen geht es zum Grab.
Es geht sehr menschlich zu in dieser Erzählung. Die Rituale des Abschieds sind hilfreich, wenn sie auch formelhaft sind. Man ist erleichtert, wenn man keine eigenen Worte erfinden muss. Und auch dieses erleichtert: In der Trauer sind Menschen da, die Anteil nehmen.
2. Alles zielt in dieser Trauergeschichte auf die Botschaft vom Leben.
Die Erzählung spricht von dem, der das Leben ist. Der Schöpfer des Lebens tritt hier in Erscheinung. "Ich bin die Auferstehung und das Leben", sagt der Christus Gottes.
"Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben".
Ich sage diesen Vers bei jeder Beerdigung. Ich weiß genau: Niemand wird dabei aus dem Grabe aufstehen und wieder fröhlich vor unseren Augen springen. Die Ansage gehört zum Ritual bei den Beerdigungen - aber die Hoffnung wächst aus der Erfahrung mit Jesus. Die ersten Jüngerinnen und Jünger haben ihn so erlebt: Zeichen der Macht über den Tod haben sie ihm zugetraut. Diese Nachricht ist weitergegeben - bis heute.
3. Die Welt gibt wenig Anlass zur Hoffnung.
Der Zwiespalt zwischen Sterben, Leiden, Ungerechtigkeiten auf der einen Seite und dem Leben, das wir uns wünschen, dem Heil das wir uns erhoffen, auf der anderen Seite, ist unüberbrückbar für uns Menschen.
Jeder Tag hat seine eigene Plage. Menschen sterben an unbezwingbaren Krankheiten, im Straßenverkehr, am Hunger, in Kriegen und bei Attentaten; Menschen verschwinden - , werden ermordet. Das ist schrecklich, aber es kennzeichnet unsere gefallene Welt.
Zugleich wissen wir, wie die meisten Menschen in ihrem normalen Alltag diese Realität verdrängen - und leben, als ginge sie das Leiden nebenan nichts an und als ginge es mit ihnen selber ewig so weiter.
Ja - Gott sei Dank, gibt es immer mehr Menschen, die wieder lernen, dass der Tod ein Teil unseres Lebens ist. Dadurch lernen sie, mitzufühlen, mitzutrauern und menschliches Mitgefühl zu schenken. Sie erschrecken über die Nachrichten von Terror und Gewalt, und sie beteiligen sich an Protesten dagegen. Sie lernen vor allem, ihre eigene Sterblichkeit anzunehmen.
Aber es sind noch viel zu wenige. Die meisten leben, als ginge alles immer so weiter. Darum wirkt für viele die Aussage vom Sieg über den Tod so deplaziert.
Ja, es kommt sogar vor, dass die Wenigen, welche die Todesstrukturen der Welt beim Namen nennen, die Stimmung der Mehrheit stören. Dabei müsste der Sieg des Lebens über den Tod doch gegenwärtig Wirkungen haben!
Der Sieg ist vollbracht - gegen den äußeren Anschein. Was dem Lazarus geschah, ist nicht wiederholbar. Aber seine Geschichte kann neu geschrieben werden, für unser Leben.
"Ich bin die Auferstehung und das Leben," sagt Jesus. "Ja, du bist" antwortete Marta und geht und holt ihre Schwester, um sie auch zum Glauben zu holen. "Es ist der Christus, der Retter," sagt sie!
So findet das Leben statt. Der Glaube wird weitergegeben. Schon ehe das Wunder geschieht, weiß Marta, - wer das Leben ist.
Wir Menschen ziehen, wie die Handelnden in der Erzählung auch, ja nicht in ein anderes, verklärtes Leben, auch Lazarus nicht. Er bleibt sterblich.
Aber der Glaube bewegt das Leben in die Richtung der Hoffnung. Eine Gewissheit breitet sich aus über das Meer der Elenden und trägt an das andere Ufer.
So wünsche ich Euch allen hier in Moskau die Kraft des Lebens, denen die zur ELKRAS gehören und allen, die heute zu Gast sind. Die Gemeinde kann das ausstrahlen in die Umwelt hinein.
Ihr könnt hoffen und Hoffnung verbreiten, gegen die Resignation.
"Dem Tod ist die Macht genommen,
wer an Ihn glaubt wird leben, ob er gleich stürbe."
Lasst Euch nicht vertrösten mit einer Beschönigung des Todes durch allerlei Vermutungen von Seelenwanderung und Reinkarnation. Der Christus will und jetzt und hier verwandeln,
Zum Leben gegen die Lebensangst.
Zur Hoffnung gegen Lebensbedrohung.
Zum Mut gegen den Lebensüberdruss!
Ursprüngliches Leben ist ans Licht gekommen. Wir müssen nicht in Träume fliehen oder in Verzweiflung fallen.
Wir dürfen das Leben bestehen, wie es begegnet.
Zum Schluss ein Gedicht von Kurt Martis
Ihr fragt
wie ist
die Auferstehung der Toten?
Ich weiß es nicht.
Ihr fragt
wann ist
die Auferstehung der Toten?
Ich weiß es nicht.
Ihr fragt
gibt's
eine Auferstehung der Toten?
Ich weiß es nicht.
Ihr fragt
gibt's
keine Auferstehung der Toten?
Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur
wonach ihr nicht fragt:
die Auferstehung derer die leben
ich weiß nur
wozu ER uns ruft:
Die Auferstehung heute.