Predigt im Gottesdienst zur regionalen Eröffnung der 46. Aktion "Brot für die Welt" in St. Marien zu Berlin

Wolfgang Huber

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Beim Propheten Jesaja heißt es im 61. Kapitel:

Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Vergeltung unseres Gottes, zu trösten alle Trauernden. [Jes 61,1f]

Liebe Gemeinde,

auf der anderen Seite der Linden, nicht weit von unserer Marienkirche entfernt, hat der Deutsche Bundestag am Freitag den Sudan-Einsatz der Bundeswehr beschlossen. Bis zu 200 deutsche Soldaten sollen Transporthilfe für die Überwachungsmission der Afrikanischen Union in der sudanesischen Krisenregion Darfur leisten. Mit drei Transportmaschinen will die Bundeswehr Soldaten der Überwachungsmission aus Tansania nach Darfur fliegen.

Alle Fraktionen sind sich darin einig, dass Deutschland helfen müsse, den „Mördern das finstere Handwerk zu legen“. Die internationale Gemeinschaft dürfe dem "Völkermord in Zeitlupe" nicht zusehen.

In der Evangelischen Kirche in Deutschland hatten wir vor einigen Monaten Besuch aus dem Sudan. Eindringlich schilderten uns die Vertreter der Kirchen die massenhafte menschliche Tragödie, die sich in diesem flächenmäßig größten Land Afrikas – einem Land von der Ausdehnung Westeuropas – abspielt. Wir nahmen uns vor, als Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland dorthin zu fahren, um auch dadurch ein Zeichen der Solidarität zu setzen. Leider vereiteln die Umstände derzeit eine solche Reise. Das Mitleiden und Mitfühlen, das Eintreten für die Menschen im Sudan dürfen sie nicht vereiteln.

Wer sich auf eine Reise in den Sudan vorbereitet, muss gegen manche Krankheiten geimpft sein. Fleckfieber und Typhus gehören dazu. Spätestens bei dieser unter die Haut gehenden Vorbereitung wird jedem klar, dass es sich um eine Region unserer Welt handelt, in der die Elenden mit zerbrochenem Herzen von einem anderen Leben träumen. Die Hungernden und die Vertriebenen sehnen sich nach einem gnädigen Jahr des Herrn und wohl auch nach einem Tag der Vergeltung unseres Gottes. Die Trauernden sitzen in der Asche. Die Trümmer der früheren Existenz, die verwüsteten Orte, die notdürftig errichteten Flüchtlingslager, die Millionen von Menschen auf der Flucht: all das bestimmt die Realität.

Advent heißt Ankunft. Welche Ankunft wird erwartet? Wie viele Menschen werden wohl in der Region Darfur darauf hoffen, dass die internationale Gemeinschaft Soldaten entsendet, die den Bürgerkrieg beenden und die Reitermilizen entwaffnen?

Advent heißt Ankunft. Wie viele Menschen im Darfur, denen selbst Wasser und Brot fehlen, werden wohl auf Hilfslieferungen warten?

Liebe Gemeinde, mit diesem Gottesdienst eröffnen wir für unsere Region die 46. Aktion von „Brot für die Welt“. Brot für die Welt will dort helfen, wo die Hilfe am nötigsten ist. Zeichen der Hoffnung sollen errichtet werden – gerade dort, wo Hoffnungslosigkeit sich ausbreitet. Gute Botschaft für die Elenden, Heilung für die zerbrochenen Herzen, Freiheit für die Gefangenen, ein gnädiges Jahr des Herrn: das ist die Verheißung, unter der diese Arbeit geschieht. „Brot für die Welt“ – diese Aktion unserer Kirche trägt seit 46 Jahren den Charakter einer prophetischen Verschwörung. Die prophetische Botschaft hindert uns daran, vor dem Elend dieser Welt zu kapitulieren, den Waffen das letzte Wort zu überlassen, dem Völkermord im Zeitlupentempo tatenlos zuzuschauen. Was wir können, wollen wir tun, damit Menschen ihr Geschick selbst in die Hand nehmen können. Dabei denken wir in diesem Jahr besonders an den auf so schreckliche Weise gebeutelten Sudan, an die jahrzehntelange Zwietracht, die in diesem großen Land nicht nur Muslime und Christen, nicht nur Norden und Süden, sondern auch die Angehörigen derselben islamischen Religion, auch die Herrschenden in Khartoum und die Region Darfur voneinander trennt. Auch ihr Schicksal rücken wir in das Licht der Verheißung, dass Gott ein gnädiges Jahr für die Menschen will, dass er die Gerechtigkeit ins Recht setzt und die Trauernden tröstet.

Dieser prophetischen Verschwörung dürfen wir uns nicht entziehen. Das prophetische Wort der Kirche ist gefragt. „LebensMittel Wasser“ heißt das Thema der 46. Aktion von „Brot für die Welt“. So wichtig wie das Wasser für das physische Überleben eines Menschen ist die Gerechtigkeit für das soziale Zusammenleben. Das eine ist ein so elementares Lebensmittel wie das andere. Deshalb ist die Unterdrückung der Frauen so lebensfeindlich wie der Hunger, der Bürgerkrieg so verwerflich wie der Raub des täglichen Brots. Und umgekehrt: Dort wo Menschen Gerechtigkeit widerfährt, wo ihre Würde als Ebenbild Gottes wieder hergestellt und ihnen zu ihrem Recht verholfen wird, ist der Schalom Gottes nahe. So wenig wir ohne Wasser physisch überleben können, so wenig gelingt das Zusammenleben ohne Frieden und Gerechtigkeit.

Das ist der Grund, dessentwegen wir vor dem Unrecht, das uns umgibt, nicht kapitulieren. Immer wieder halten wir Ausschau nach den Möglichkeiten, die es gibt, dem Wasser der Gerechtigkeit eine freie Bahn zu schaffen – selbst wenn das im ersten Augenblick nur wie ein schmales Rinnsal oder gar wie ein Tropfen auf dem heißen Stein erscheint. Wir wissen dabei: Von der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, sind solche Bemühungen weit entfernt. Aber wir wollen die kleinen Schritte zur Gerechtigkeit und Gottes große Gerechtigkeit nicht gegeneinander ausspielen. Wir wissen: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Und wir bitten trotzdem im Vater unser um das tägliche Brot. Auch dies gehört zusammen.

Nach dem Maß, das Jesus uns lehrt, beurteilen wir die Lebensverhältnisse von Menschen aus der Perspektive der Schwächeren, der Ausgegrenzten. Die Adventszeit ist die Zeit im Jahr, in der wir uns für diese Perspektive öffnen wollen. Es ist die Zeit, in der wir uns auf die weihnachtliche Bescherung vorbereiten. Dabei geht es nicht darum, dass wir uns endlich die Wünsche erfüllen, die wir schon das ganze Jahr heimlich hegten. Es geht darum, dass wir mit anderen teilen, was uns mit Freude erfüllt: die Zusage, dass Gott mit uns Frieden schließt, dass er uns an seiner Gerechtigkeit teilhaben lässt, dass er mit Wohlgefallen auf uns schaut. Die Freude darüber können wir nicht für uns behalten, wir wollen sie mit anderen teilen. Die Geschenke, die wir anderen Menschen machen, sollen das zum Ausdruck bringen. Geteilte Freude ist ihr Sinn. Wie aber sollten wir ausgerechnet die Menschen von dieser Freude ausschließen, die unter ungleich schwierigeren Umständen leben als wir selbst? Die Menschen im Sudan brauchen unsere Hilfe. Deshalb wollen wir unserem Hören und unserem Nachdenken, unserem Singen und unserem Beten auch Taten folgen lassen.

Advent heißt Ankunft. Welche Ankunft erwarten wir? Wir erwarten das Kommen Jesu Christi. Von ihm erzählt das Lukasevangelium, dass er in seiner Heimatstadt Nazareth in der Synagoge am Sabbat vor der versammelten Gemeinde aus dem Buch des Propheten Jesaja vorlas. Er machte sich zum Teil der prophetischen Verschwörung und las:

Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn. Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.

Gebe Gott, dass dieses Wort offene Ohren findet bei uns.

Amen