"Zahl der Spätabbrüche verringern"

Stellungnahme zur Vermeidung von Spätabtreibungen

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) unterstützt jedes Bemühen um eine Verringerung der Zahl der Spätabbrüche von Schwangerschaften im Interesse des Schutzes des ungeborenen Lebens. Sie sieht die Notwendigkeit, die Wirksamkeit der Vorschriften zur Vermeidung von Schwangerschaftsabbrüchen zu überprüfen und gegebenenfalls nachzubessern. Insbesondere muss auf die veränderten Rahmenbedingungen reagiert werden, die sich durch die Fortentwicklung pränataler Diagnostik ergeben.

Zu den einzelnen Vorschlägen der Fraktionen nimmt die EKD wie folgt Stellung:

Klarstellung in § 218 a Abs. 2 StGB, dass die Behinderung des Kindes allein kein Grund für eine medizinische Indikation ist

Die Aufnahme der embryopathischen Indikation in die medizinische Indikation hat verbreitet den Irrtum hervorgerufen, die Behinderung/Krankheit eines ungeborenen Kindes stelle einen Fall der medizinischen Indikation dar. Selbst wenn die gesetzgeberische Intention klar davon ausging, dass nur der Gesundheitszustand der Schwangeren entscheidend ist, sollte dieses auch im Gesetzeswortlaut klargestellt werden. Die Anforderungen an eine medizinische Indikation werden sowohl der Schwangeren als auch dem Arzt, der die Indikation feststellt, eindeutig dargelegt. Ohne eine Verschärfung der Rechtslage kann so der Schutz des geschädigten ungeborenen Lebens besser gewährleistet werden.

Ausbau von psychosozialen Beratungsangeboten auch vor PND. Hinweis des Arztes vor Untersuchung auf Beratungsmöglichkeit

Vor einer pränataldiagnostischen Untersuchung ist ein Hinweis des Arztes auf die möglichen Ergebnisse und den Anspruch auf eine der Entscheidung über einen eventuellen Abbruch vorausgehende psychosoziale Beratung erforderlich. Es erscheint sinnvoll, einen Hinweis darüber hinaus im Mutterpass aufzunehmen.

Bei pathologischem Befund gesetzlich vorgeschriebene psychosoziale Beratungspflicht

In den Fällen eines pathologischen Befundes spät im Verlaufe der Schwangerschaft besteht aufgrund der großen Konfliktsituation ein gesteigerter Beratungsbedarf für die Schwangere. Nur auf der Grundlage einer Entscheidung der Schwangeren gegen das Kind kann überhaupt eine medizinische Indikation im oben genannten Sinne festgestellt werden. Bei dieser Entscheidung muss der Frau jede mögliche Unterstützung zur Seite gestellt werden, die ihr hilft, sich trotz einer Behinderung oder Krankheit ihres Kindes für das Leben zu entscheiden. Ein bloßer Hinweis auf ein psychosoziales Beratungsangebot erscheint angesichts der Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens in diesem Fall nicht ausreichend. Vielmehr erfordert ein pa-thologischer Befund eine gesetzliche Pflicht zur Beratung jedenfalls dann, wenn ein Abbruch erwogen wird.

Bei pathologischem Befund und wahrscheinlicher extrauteriner Lebensfähigkeit Beratung von Arzt und Schwangerer/Eltern durch interdisziplinäres Fachkollegium

Der Schwangerschaftsabbruch aufgrund medizinischer Indikation ist nicht an eine Frist gebunden, wie dies zuvor bei der embryopathischen Indikation (22. Schwangerschaftswoche) der Fall war. Verschiedene Behinderungen lassen sich erst nach diesem Zeitpunkt und damit gegebenenfalls bei extrauteriner Lebensfähigkeit des Kindes erkennen. Die Zahl der außerhalb des Mutterleibes lebensfähigen Kinder, die abgetrieben werden (dürfen), steigt damit zumindest potentiell.

In Fällen möglicher extrauteriner Lebensfähigkeit verschärfen sich die medizinischen und ethischen Konflikte des Schwangerschaftsabbruchs – auch für den behandelnden Arzt. Dieser Zeitpunkt soll in der Regel als zeitliche Begrenzung für einen Schwangerschaftsabbruch angesehen werden. Wenn in besonderen Ausnahmefällen von dieser zeitlichen Begrenzung abgewichen wird, kann es für einen Arzt unzumutbar sein, die medizinische Indikation alleine festzustellen. Auch um die Schutzwürdigkeit des Kindes zu betonen, ist es zu befürworten, dass in diesen Fällen ein Kollegium von Fachärzten hinzugezogen wird. Dieses soll die Eltern in ihrer Entscheidung für das Kind unterstützen und den Arzt, der die Entscheidung über das Vorliegen einer Indikation trifft, beraten. Es ist fraglich, die Feststellung der Indikation komplett in die Hände eines interdisziplinären Kollegiums zu legen.

Nach Feststellung der medizinischen Indikation mindesten drei Tage gesetzlich vorge-schriebene Bedenkzeit vor Abbruch

Eine dreitägige Bedenkzeit zwischen Feststellung der Indikation und Durchführung des Abbruchs sollte, sofern nicht das Leben der Schwangeren akut gefährdet ist, bei allen Fällen der medizinischen Indikation durch Aufnahme in das StGB verpflichtend sein. Dies sollte nicht auf einen Hinweis des Arztes, dass eine Bedenkzeit sinnvoll sei, beschränkt werden.

Sofern dies eine Verschärfung der derzeitigen gesetzlichen Situation darstellt, ist diese – parallel zu der Regelung in § 218 a Abs. 1 StGB – durch die Schutzpflicht des Staates gegenüber dem ungeborenen Leben gerechtfertigt.

Konkretisierung des Weigerungsrechts des Arztes, bei Schwangerschaftsabbruch mit-zuwirken (§ 12 Abs. 2 SchKG)

Ärztlichen Forderungen entsprechend ist das Weigerungsrecht des Arztes zu stärken, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Nur bei Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren und nicht anders erlangbarer Hilfeleistung ist ein Arzt zum Abbruch verpflichtet. Dies kann durch Ergänzung des § 12 Abs. 2 StGB klargestellt werden.

Verbesserung der statistischen Erfassung der Spätabbrüche

Die EKD unterstützt die Forderung nach einer detaillierten statistischen Erfassung der Spätabbrüche, um die Problematik in ihrer Komplexität besser erfassen und auch in Zukunft adäquat reagieren zu können.

Verbesserung der Rahmenbedingungen für ein Leben mit Behinderung

Der Ruf nach verbesserten Rahmenbedingungen insbesondere finanzieller Art für Behinderte und chronisch Kranke bleibt aktuell und wird von der EKD unterstützt.

Haftung des Arztes

Obwohl die vertragliche Haftung des Arztes für den Unterhalt des Kindes nur bei mangelhafter Diagnostik und nicht ordnungsgemäßer Aufklärung eintritt, ist zu befürchten, dass eine Tendenz in der ärztlichen Praxis besteht, im Zweifel einen Abbruch zu empfehlen, um der Gefahr einer Haftung zu entgehen. Anstatt hier – zu Lasten der Eltern, des Kindes und in letzter Konsequenz der öffentlichen Hand – über eine Haftungsbeschränkung auf grobe Fahrlässigkeit nachzudenken, wäre zu erwägen, ob bei Zweifeln über eine Schädigung des Kindes regelmäßig eine zweite Diagnose einzuholen ist. Wenn die Unsicherheit weiterhin besteht, so ist die Schwangere hierüber ebenso aufzuklären wie über die Wahrscheinlichkeit einer Schädigung. Auch in diesem Fall ist die Beratung der Schwangeren und des Arztes, der die Indikation feststellen muss, durch ein interdisziplinäres Kollegium sinnvoll. Nach einer derart erfolgten umfassenden Aufklärung der Schwangeren/Eltern kann eine Haftung des Arztes bei unterbliebener Abtreibung nicht mehr eintreten.

Es muss also strikt unterschieden werden zwischen Diagnosefehlern bzw. unzureichender Aufklärung bei pathologischem Befund und einem unsicheren Befund, der auf eine Schädigung hindeutet. Im ersten Fall ist eine Haftung des Arztes für den Unterhalt wegen Vertragsverletzung nach den allgemeinen Grundsätzen des Arzthaftungsrechts zu bejahen.


Berlin, 08. Februar 2005