Predigt über 3. Mose 16 unter der Überschrift „Der Sündenbock“ in der Fastenpredigtreihe 2006 des Berliner Doms am 5. Sonntag in der Fastenzeit

Hermann Barth

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde!

Vielleicht nicht täglich, aber jedenfalls häufig kann man in der Zeitung über Sündenböcke lesen. Zum Beispiel im Sportteil. Vor einigen Wochen fand in Turin das Champions League-Rückspiel zwischen Juventus und Werder Bremen statt. Nach dem Hinspielergebnis hatte Werder gute Aussichten, die nächste Runde zu erreichen. Der Verlauf des Rückspiels gab diesen Hoffnungen weitere Nahrung - bis zu der ominösen 88. Minute, als Bremens Torhüter Tim Wiese schwer patzte und Turin das entscheidende 2:1 erzielte. Bremen schied aus, eine sportliche und finanzielle Pleite, und Tim Wiese war der Sündenbock.

Die Vorstellung und die Rede vom Sündenbock sind heutzutage zwar nicht Teil der Alltagssprache, aber durchaus gebräuchlich und verständlich. In der Ausländerdebatte ist es ein nur zu gut vertrautes Muster, daß an den Stammtischen und in der politischen Propaganda rechter Parteien die ausländischen Mitbürger und insbesondere die neuen Zuwanderer für alle möglichen gesellschaftlichen Probleme verantwortlich gemacht werden: Es ist zwar offenkundiger Unsinn - aber sie werden zu Sündenböcken für die hohe Arbeitslosenquote, für die Krise der sozialen Sicherungssysteme oder für die gestiegenen Aufwendungen in der Sozialhilfe erklärt. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere aus eigenem Erleben daran, daß auch in Schulklassen nicht selten Situationen entstehen, in denen entweder die Lehrer oder die Mitschüler nur zu rasch unter den Schülern einen Sündenbock suchen und finden. Die Psychologie beschreibt solche und ähnliche Prozesse unter dem Begriff des Sündenbock-Mechanismus.

Als Sündenbock in diesem Sinne gelten - wenn man es allgemein beschreiben will - Personen oder Personengruppen, die selbst ohne Schuld sind - allenfalls eine Teilschuld tragen -, auf die aber alles geschoben wird, denen also andere die gesamte Verantwortung anlasten. Der Kontrast zur Vorstellung vom Sündenbock, die uns im heutigen Predigttext im 16. Kapitel des 3. Buches Mose begegnet, könnte größer nicht sein. In den Vorgängen, die wir heutzutage mit der Sündenbockvorstellung verbinden, geht es allein um eine Zuschreibung - und zwar eine fälschliche Zuschreibung - von Schuld und Gesamtverantwortung. Die eigene Verantwortung und Schuld wird übergangen. Man sucht ein Opfer, dem man alles in die Schuhe schieben kann. Die eingetretenen oder noch drohenden schlimmen Folgen schlimmer Taten oder Versäumnisse selbst bleiben von dieser Zuschreibung von Schuld völlig unberührt. Im Predigttext hingegen geht es - so fremd uns Heutigen dieser Gedanke zunächst vorkommen mag - um die wirksame Aufhebung oder Bearbeitung der Folgen schlimmer Taten und Versäumnisse.

Das 16. Kapitel des 3. Buches Mose ist ein langer und schwieriger Text. Ich lese ihn in einer gekürzten Fassung:

(1) Und der Herr redete mit Mose ...
(2) und sprach: Sage deinem Bruder Aaron ...
(3) Er soll ...
(4) das heilige leinene Gewand anlegen ...
(6) Und Aaron soll einen Stier, sein Sündopfer, darbringen, daß er für sich und sein Haus Sühne schaffe,
(7) und danach zwei Böcke nehmen und vor den Herrn stellen an der Tür der Stiftshütte
(8) und soll das Los werfen über die zwei Böcke: ein Los dem Herrn und das andere dem Asasel,
(9) und soll den Bock, auf welchen das Los für den Herrn fällt, opfern zum Sündopfer.
(10) Aber den Bock, auf welchen das Los für Asasel fällt, soll er lebendig vor den Herrn stellen, daß er über ihm Sühne vollziehe und ihn zu Asasel in die Wüste schicke.
(17) Kein Mensch soll in der Stiftshütte sein, wenn er hineingeht, Sühne zu schaffen im Heiligtum, bis er herauskommt. So soll er Sühne schaffen für sich und sein Haus und die ganze Gemeinde Israel.
(18) Und er soll hinausgehen zum Altar, der vor dem Herrn steht, und ihn entsühnen und soll vom Blut des Stieres und vom Blut des Bockes nehmen und es ringsum an die Hörner des Altars streichen
(19) und soll mit seinem Finger vom Blut darauf sprengen siebenmal und ihn reinigen und heiligen von den Verunreinigungen der Israeliten.
(20) Und wenn er die Entsühnung des Heiligtums vollbracht hat, der Stiftshütte und des Altars, so soll er den lebendigen Bock herzubringen.
(21) Dann soll Aaron seine beiden Hände auf dessen Kopf legen und über ihm bekennen alle Missetat der Israeliten und alle ihre Übertretungen, mit denen sie sich versündigt haben, und soll sie dem Bock auf den Kopf legen und ihn durch einen Mann, der bereit steht, in die Wüste bringen lassen,
(22) daß also der Bock alle ihre Missetat auf sich nehme und in die Wildnis trage; und man lasse ihn in der Wüste.
(23) Und Aaron soll in die Stiftshütte gehen und die leinenen Kleider ausziehen, die er anzog, als er in das Heiligtum ging, und sie dort lassen,
(26) Der Mann aber, der den Bock für Asasel hinausgebracht hat, soll seine Kleider waschen und sich mit Wasser abwaschen und erst danach ins Lager kommen.
(29) Auch soll euch dies eine ewige Ordnung sein: Am zehnten Tage des siebenten Monats sollt ihr fasten und keine Arbeit tun, weder ein Einheimischer noch ein Fremdling unter euch.
(30) Denn an diesem Tage geschieht eure Entsühnung, daß ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Herrn.
(31) Darum soll es euch ein hochheiliger Sabbat sein, und ihr sollt fasten. Eine ewige Ordnung sei das.
(34) ... Und Aaron tat, wie der Herr es  Mose geboten hatte.

I.

In diesem Text tritt eine Welt vor uns, die von unseren modernen Vorstellungen und Lebensverhältnissen weit entfernt ist. Vieles wirkt auf uns fremd, ja befremdlich: die Tieropfer, die Blutriten, die Reinigungshandlungen, nicht zuletzt die Vorgänge um den „Sündenbock“, der mit den Sünden der Israeliten beladen wird und sie gewissermaßen in die Wüste davonträgt.

Bevor wir uns den „Sündenbock“-Ritus noch etwas genauer ansehen,  soll wenigstens mit ein paar Hinweisen der Text im ganzen gekennzeichnet und erläutert werden. Der Form nach handelt es sich bis auf den Schlußsatz um Worte, mit denen sich Gott an Mose wendet und ihn beauftragt, seinem Bruder Aaron bestimmte Anweisungen zu übermitteln. Der Schlußsatz stellt lapidar fest: „Und Aaron tat, wie der Herr es Mose geboten hatte.“ Der Sache nach geht es in den verschiedenen Handlungen, die Aaron aufgetragen werden, wesentlich um dies eine: Sühne zu schaffen, Sühne für Aaron selbst „und sein Haus“, nämlich die Priesterschaft, Sühne für das Heiligtum, namentlich die Stiftshütte und den Altar, schließlich Sühne für „die ganze Gemeinde Israel“. Im israelitischen Festkalender gehören diese Sühneriten zum Versöhnungstag, der im Jom Kippur des heutigen Judentums fortlebt und nach wie vor am zehnten Tag nach dem jüdischen Neujahrsfest begangen wird. Man darf sich generell den Werdegang biblischer Texte nicht so vorstellen, daß sie in einem Zuge entstanden und sozusagen am Stück niedergeschrieben worden sind. Vielmehr sind sie Produkt eines längeren, über Jahrhunderte währenden Wachstumsprozesses und tragen die Spuren dieser fortschreitenden Anreicherung und Veränderung noch deutlich an sich. Nicht anders verhält es sich mit dem 16. Kapitel des 3. Buches Mose. Es gibt in seiner jetzigen Gestalt die kultischen Ordnungen Israels, konkret: die Ordnung für den Versöhnungstag, wieder, wie sie sich vermutlich in der Zeit nach dem babylonischen Exil ausgebildet haben. Aber zugleich zeichnen sich in ihm deutlich Bausteine und Traditionen ab, die wesentlich älter sind und nicht von vornherein in den Zusammenhang des Versöhnungstages gehörten. Ohne Zweifel gilt dies für den „Sündenbock“-Ritus. Seine Wurzeln müssen in eine Epoche zurückreichen, in der einem mit der Wüste verbundenen göttlichen Wesen namens Asasel Opfer dargebracht wurden. Der „Sündenbock“-Ritus beginnt damit, daß von zwei Ziegenböcken einer dem Asasel zugelost wird. Auf seinen Kopf soll Aaron „seine beiden Hände ... legen und über ihm bekennen alle Missetat der Israeliten und alle ihre Übertretungen, mit denen sie sich versündigt haben“. Er soll die Sünden der Israeliten gewissermaßen „dem Bock auf den Kopf legen“. Dann soll er „ihn durch einen Mann, der bereit steht, in die Wüste bringen lassen, daß also der Bock alle ihre Missetat auf sich nehme und in die Wildnis trage“.

Was sollen wir mit einem solchen Text anfangen? Je genauer man hinschaut, desto ferner scheint er uns zu rücken. Eine Menge von Fragen drängt sich auf:

Was sollen wir uns unter Sünde vorstellen? Ist sie noch etwas anderes als eine moralische Fehlentscheidung? Kann sie wie ein Ding, wie eine Last aufgeladen und weggetragen werden?

Und wie geschieht Sühne? Wir haben uns daran gewöhnt, sie mit dem Tragen einer Strafe in Verbindung zu bringen: Der Täter sühnt seine Untat, indem er die ihm auferlegte Strafe verbüßt. Hier dagegen wird Sühne für den Täter, dem Täter zugute geschaffen.

Aber wie soll das gehen? Muß nicht jeder selbst für seine Schuld aufkommen? Ist bei der Sühne so etwas wie Stellvertretung möglich?

II.

Ich lasse die Fragen für einen Moment stehen und stelle dem biblischen Text - im Sinne eines Kontrastprogramms - das Ergebnis einer kürzlichen Umfrage an die Seite. Das evangelische Magazin „chrismon“ hat für seine März-Ausgabe sieben Menschen aus sieben unterschiedlichen Berufen erzählen lassen, was die drei Begriffe Schuld, Sühne und Vergebung in ihrem Alltag bedeuten. Einer der sieben ist Pastor im Unfallkrankenhaus Hamburg-Boberg. Und so hat er sich geäußert:

Schuld - in dem Wort steckt für mich etwas Archaisches und zugleich sehr Menschliches. Es ist ja schon alt und bedeutet ursprünglich, dass da ein Mensch einem grundlegenden moralischen Anspruch nicht genügt. Genauso fühlen sich viele Unfallverursacher, die häufig selber schwer verletzt sind und hier ins Krankenhaus eingeliefert werden. Wer einen Unfall verursacht, erfährt unmittelbar die eigene Fehlerhaftigkeit. Hinzu kommt bei einem Unfall das schlimme Erlebnis eines totalen Kontrollverlustes: „Ich habe versagt und kann das nicht mehr rückgängig machen.“ Da wird dann vielen erst bewusst, wie brutal unser Alltag sein kann und wie groß die Bedrohungen sind. Nur eine Sekunde unaufmerksam sein, das kann unwiderrufliches Leid über einen anderen Menschen bringen und auch das eigene Leben komplett verändern.

Sühne wird von Menschen, die einen schweren Unfall verursacht haben, häufig aktiv gesucht. Bei vielen Patienten im Unfallkrankenhaus gibt es eine Selbstbestrafungstendenz: „Ich würde alles geben, wenn ich diesen Augenblick ungeschehen machen könnte“, sagen sie. Die Menschen wollen sühnen, aber außer der juristischen Strafe gibt es dafür ja leider keine Form des Ausgleichs mehr. Bei meinen Gesprächen in den Krankenzimmern merke ich immer wieder, dass das Schlimmmste für viele das Gefühl ist, aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu sein. Häufig hat der Unfallverursacher auch das Bedürfnis, mit dem Opfer Kontakt aufzunehmen. Das unterstütze ich immer. Manchmal liegen die Beteiligten ja hier im Krankenhaus nur einige Zimmer voneinander entfernt. Ein Gespräch kann für beide eine große Hilfe sein. „Jetzt weiß ich, dass er ein Mensch aus Fleisch und Blut ist und mich kein Monster von der Straße gefegt hat. Das hat mir gut getan“, sagen selbst schwer verletzte Opfer. Manchmal wird ein Gesprächswunsch aber auch kategorisch abgelehnt: „Ich habe genug mit mir selbst zu tun. Mit seinen Schuldgefühlen und seiner Verzweiflung muss er allein zurechtkommen“, höre ich dann vom Opfer.

Vergebung bedeutet für mich die Erfahrung, geachtet zu werden, in der Gemeinschaft mit anderen leben zu können - trotz der Schuld, die man trägt. Menschen, die einen schweren Unfall verursacht zu haben, äußern oft den Wunsch nach einem Beichtgespräch, ohne dass sie es unbedingt so nennen. Sie haben einfach das Bedürfnis, freigesprochen zu werden. Das spüre ich auch in den Gottesdiensten sehr deutlich. Sie sind für viele Patienten ganz wichtige kleine Schutzhütten und heimliche Orte der Erneuerung auf dem häufig langen Weg, den sie gehen ...

III.

Zurück zu den Fragen, die der Predigttext in uns auslöst. Was der Pastor im Unfallkrankenhaus erzählt hat, war nicht die Antwort darauf, aber vielleicht eine Hilfe, die Gefühle der Fremdheit gegenüber dem Text abzubauen und uns für die Fragen zu öffnen, die er seinerseits an unsere modernen Denkgewohnheiten zu richten hat.

Was sollen wir uns unter Sünde vorstellen? Das war die erste Frage. Sicher - wir können die Vorstellung, die Missetaten eines Menschen oder eines ganzen Volkes ließen sich auf einem Tier abladen und weit weg in der Wildnis entsorgen, nicht einfach übernehmen. Aber wir würden es uns zu leicht machen, mit einem Lächeln - oder gar im hochmütigen Gefühl kultureller Überlegenheit - über diese archaische Vorstellung hinwegzugehen. Denn sie birgt ein Wahrheitselement, das nicht verloren gehen darf. Sünde ist weit mehr als eine böse Tat. In der biblischen Weltsicht gehören Tat und Ergehen eng zusammen. Mit der bösen Tat wird ein Böses in Lauf gesetzt, das sich früher oder später gegen den Täter oder seine Gemeinschaft wenden muß. Die Erwartung, eine böse Tat „erledige sich nach einiger Zeit gewissermaßen von selbst (weil wir uns an sie gewöhnen, sie vergessen oder verdrängen), ist trügerisch. Auch in dieser Hinsicht geht nichts verloren, sondern bleibt im Untergrund unserer Seele und unserer Gesellschaft als schleichend wirkendes Gift erhalten, solange sie nicht verarbeitet ist“ (W. Härle, Dogmatik, 1995, S. 325). Die Geschichte des deutschen Volkes im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert bietet Beispiele genug, wie sich längst vergangene Untaten nicht irgendwann von selbst erledigen, sondern ein weiterwirkendes Gift bilden. Ich denke aber auch an die Demütigung und Gewalt, der noch in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts Kinder und Jugendliche in Heimen und Erziehungseinrichtungen, auch kirchlichen, ausgesetzt waren und über die jetzt verstärkt berichtet wird. Manchmal wird gefragt: Warum kommt das jetzt erst hoch? Aber im Untergrund der Seelen war es immer da!

Das Wahrheitselement des „Sündenbock“-Ritus liegt auch darin, daß jede Gemeinschaft von Menschen angewiesen ist auf Entgiftung. Sie muß daran interessiert sein, das in ihr steckende, von Untaten oder Versäumnissen der Vergangenheit herrührende Gift loszuwerden, mit den Worten des Predigttextes: dafür Sühne zu schaffen. Der Predigttext kreist - wir haben das bereits registriert - von Anfang bis Ende um das Thema Sühne. Das Böse, das getan worden ist, droht auf Israel zurückzuschlagen. Es soll aufgehalten, abgewendet, beseitigt werden. Sühne ist hier nicht ein Strafgeschehen, sondern ein Heilsgeschehen. Aber wie geschieht Sühne? Das war die zweite Frage. Die Riten, die der Predigttext beschreibt, folgen allesamt demselben Grundgedanken: Ein anderes Lebewesen erleidet stellvertretend das Unheil, das als Folge böser Taten die Täter und die Gemeinschaft der Täter bedroht. Der Stier wird geopfert, um Sühne zu schaffen für Aaron und die ganze Priesterschaft. Der eine Ziegenbock wird geschlachtet, um mit dem Blut, das als Träger des Lebens gilt, das Heiligtum zu entsühnen. Der andere Ziegenbock bekommt die Missetaten aufgeladen und trägt sie weg aus der Gemeinschaft der Täter. Auch hier gilt: Niemand wird diese Art von Sühnehandlungen wieder aufnehmen und praktizieren wollen. Aber der Gedanke der Stellvertretung läßt einen nicht los.

Gewiß - er löst auch Vorbehalte und Widerstände aus. Die dritte Frage war: Wie soll das gehen mit der Stellvertretung? Muß nicht jeder selbst für seine Schuld aufkommen? Aber man sollte sich hüten, die Möglichkeit stellvertretender Sühne für grundsätzlich unvereinbar mit dem neuzeitlichen Lebensgefühl und Menschenverständnis zu erklären. Die Geschichte der „Aktion Sühnezeichen“ zeigt, daß auch heute stellvertretende Sühne möglich ist und akzeptiert werden kann. Was ist es am Gedanken der Stellvertretung, „das Menschen trotz ihrer Vorbehalte und Widerstände anrührt? Ich vermute, es geht hier um die (partiell gemachte und immer wieder erhoffte und benötigte) Erfahrung, daß wir nicht (alles) selbst ‚auslöffeln’ und abbüßen müssen, was wir uns eingebrockt und was wir angerichtet haben ... Es dürfte keinen Menschen geben, der nicht auf solche liebende - oder wenigstens solidarische - Stellvertretung angewiesen ist“ (Härle, a.a.O. S. 324f).

IV.

Der Predigttext war dem 3. Buch Mose entnommen und  hat uns ins Nachdenken gebracht über Sünde, Sühne und Stellvertretung. Aber am Horizont haben sich längst noch ganz andere biblische Texte abgezeichnet. Vom Gottesknecht heißt es in Jesaja 53:  „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen ... Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“. Und als Lesung haben wir gehört: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ Die Botschaft von der in Jesus Christus für alle Menschen bereits geschaffenen Sühne, der Gedanke der Stellvertretung und der Empfang dieses Heilsgeschehens in der Feier des Heiligen Abendmahls sind mit dem christlichen Glauben tief verwoben. Möge Gott uns diese Fasten- und Passionszeit, möge er uns diesen Gottesdienst zum Segen werden lassen, indem die Ordnung des Versöhnungstags und die Vorstellung vom „Sündenbock“ schon durchsichtig werden für den Trost des Evangeliums von Jesus Christus:

„Jesus ist kommen, ein Opfer für Sünden. Sünden der ganzen Welt träget dies Lamm. Sündern die ewge Erlösung zu finden stirbt es aus Liebe am blutigen Stamm. Abgrund der Liebe, wer kann dich ergründen? Jesus ist kommen, ein Opfer für Sünden.“

Amen.