"Redet Wahrheit"

Festvortrag von Prälat Dr. Stephan Reimers zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Berlin e.V.

Sehr geehrte Damen und Herren,

zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit in Berlin überbringe ich Ihnen herzliche Grüße und Segenswünsche der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Evan-gelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Für die Landeskirche grüßt Sie auch sehr herzlich Pröpstin Friederike von Kirchbach, die Stell-vertreterin von Bischof Huber, die ja unter uns ist. Und lassen Sie mich hinzufügen: Als langjähriges Mitglied der Christlich-Jüdischen Gesellschaft in Hamburg habe ich mich über die Einladung gefreut und ich bin sehr gern hier in Ihrem Kreis.

Meine Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,

an der Wahrheit scheiden sich die Geister. Friedrich Nietzsche meinte: Wir müssen lernen, ohne Wahrheit zu leben." Ganz anders der Ausspruch von Berthold Brecht: Wer die Wahrheit nicht weiß, ist ein Dummkopf, aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher." Diese Sicht ist in einem bestimmten Zusammenhang Teil unserer Rechtsordnung geworden: Am 15. Februar dieses Jahres wurde der 67-jährige Ernst Zündel wegen Leugnung des Holocausts zu fünf Jahren Haft verurteilt. Als einer der ersten Rechtsextremisten hat Zündel das Internet für seine nazistische und antisemitische Propaganda genutzt und den millionenfachen Mord an Juden als Geschichts-fälschung abgetan. Dass dieser vorsätzliche Lügner so deutlich bestraft wird, hat viele Menschen in Deutschland und weltweit mit Genugtuung erfüllt. "Wer die Wahrheit weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher."

"Redet Wahrheit" – Das Motto der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit ist ein Bibelzitat aus dem Sacharjabuch Kapitel 8, Vers 16: "Das ist aber, was ihr tun sollt; Rede einer mit dem anderen Wahrheit und richtet recht, schafft Frieden in euren Toren (17) und keiner ersinne Ärger in seinem Herzen gegen seinen Nächsten, und liebt nicht falsche Eide; denn das alles hasse ich", spricht der Herr.

"Redet Wahrheit" heißt auf Hebräisch: dabru ämät. Ämät wird an dieser und vielen anderen Textstellen mit‚Wahrheit’ übersetzt, aber seine Grundbedeutung ist Festigkeit im Sinne von Zuverlässigkeit und Gewissheit. Wir kennen den Wortstamm von Ämät in einer anderen Form als Abschluss unserer Gebete: Amen = So sei es gewisslich. Oft finden wir ‚Ämät’ mit dem Wort ‚chäsäd’ verbunden, was Gnade, Huld, Barmherzigkeit bedeutet . In solchen Verbindungen wird es dann in der deutschen Bibelübersetzung mit dem Wort ‚Treue’ wiedergegeben. Etwa Sprüche 3.3: "Gnade und Treue sollen dich nicht verlassen." Ämät beschreibt ein Gemeinschaftsverhalten, das Gott dem Menschen gewährt und das die Menschen miteinander teilen und bewahren sollen. Dieser Gedanke der Gemeinschaft und Gegenseitigkeit ist auch in dem Sacharjawort 8,16 ausgedrückt: "Rede einer mit dem anderen Wahrheit."

Geschichtlich stammt das Prophetenwort aus einer Epoche, die die Menschen in Jerusalem als einen neuen Anfang erlebten. Ein Teil der Verbannten kehrte damals aus dem babylonischen Exil zurück. Und durch die tolerante Religionspolitik der Perserkönige – den neuen Herren von Babel – schien sogar ein Wiederaufbau des zerstörten Tempels in greifbare Nähe gerückt. Gottes Zorn über die Taten der Väter hatte sich gelegt. Dessen ist sich der Prophet Sacharja gewiss. Er hat den Auftrag, eine bessere Zukunft anzukündigen. Doch um die neue Gnade nicht wieder aufs Spiel zu setzen, braucht es ein anderes Verhalten: "[...]das ist’s aber, was ihr tun sollt: Rede einer mit dem anderen Wahrheit und richtet recht, schafft Frieden in euren Toren."

Katastrophe und Neuanfang - Das sind Erfahrungen, die auch wir gemacht haben und bezeugen können. Der Neuanfang ist in unserem Lande und dieser Stadt weit fortgeschritten. In diesem Jahr wird mit der amerikanischen Botschaft die letzte Baulücke am Pariser Platz geschlossen. Wie viele Kuppeln und Türme haben sich in Berlin im letzten Jahrzehnt neu in den Himmel gereckt. Eine Frage schwebt über der wiedererstandenen Weltstadt: Wozu der Prunk? Wohin der Aufbruch? Was ist das Ziel? Werden wir in einer globalisierten Welt der uns aus der Katastrophe zugewachsenen Verantwortung gerecht, Wahrheit zu reden und Frieden zu schaffen? Von einer Erfahrung, die mich ermutigt hat, möchte ich Ihnen berichten:

Im Januar diesen Jahres haben mein katholischer Kollege Prälat Dr. Jüsten und ich an der Konferenz ‚Partnerschaft mit Afrika’ teilgenommen, zu der Präsident Prof. Köhler in Verbindung mit der Zeitstiftung nach Ghana eingeladen hatte. Der Präsident hat in einem eigenen Redebeitrag ‚good governance’ – also ein solides Regieren nach Recht und Gesetz und ohne Korruption – als Schlüssel einer nachhaltigen Entwicklung der afrikanischen Staaten beschrieben. Den darin enthaltenen Vorwurf an die Adresse afrikanischer Eliten und Politiker verband Präsident Köhler sogleich mit dem selbstkritischen Hinweis, dass auch deutsche Firmen - soweit erkennbar, allen voran der Siemens-Konzern – massiv Bestechungsgelder eingesetzt haben, um sich Aufträge zu sichern. Genauso deutlich hat der Präsident die Fischereiabkommen der EU mit den westafrikanischen Staaten angeprangert. Sie erlaubten den europäischen Fischfangflotten für geringe Beträge die Küstengewässer vor Afrika leer zu fischen. Müsse man sich wundern, wenn dann arbeitslos gewordene Menschen auf ihren zerbrechlichen Booten sich auf den Weg zu den Kanarischen Inseln machten. Auch das Klimathema wurde auf der Konferenz in all seiner Bedrohlichkeit angesprochen: Schon jetzt sind die Länder der Sahelzone von Dürre und dem Wachsen der Wüste bedroht. Was wird aus diesen überbevölkerten Staaten bei der sprunghaft anwachsenden Erwärmung der Erde in diesem Jahrhundert?

"Rede einer mit dem anderen Wahrheit" – So war der Geist dieser Konferenz, die hoffentlich zu Taten antreibt. Mögen die Beschlüsse des europäischen Gipfels am vergangenen Freitag den Einstieg in eine nachhaltige Klimapolitik bedeuten, die diesen Namen verdient.

Am Sonntag, dem letzten Tag dieses Dialogs, hatten Prälat Jüsten und ich die Delegation zu einem Gottesdienst vor Tagungsbeginn eingeladen. Wir standen auf Dünengras unter Palmen am Ufer des Meeres. Da passte es vom Thema und der Sache her gut, dass ich ein Gedicht von Nelly Sachs bei mir hatte, in dem sie das Lauschen nach Wahrheit beschreibt:

Lange haben wir das Lauschen verlernt!
Hatte Er uns gepflanzt einst zu lauschen
wie Dünengras gepflanzt, am ewigen Meer,
wollen wir wachsen auf feisten Triften,
wie Salat im Hausgarten stehn.

Wenn wir auch Geschäfte haben,
die weit fort führen von Seinem Licht,
wenn wir auch das Wasser aus Röhren trinken,
und es erst sterbend naht
unserem ewig dürstenden Mund –

Wenn wir auch auf einer Straße schreiten,
darunter die Erde zum Schweigen gebracht wurde
von einem Pflaster –

Verkaufen dürfen wir nicht unser Ohr,
o, unser Ohr dürfen wir nicht verkaufen.

Auch auf dem Markte, im Errechnen des Staubes,
tat manch einer schnell einen Sprung auf der Sehnsucht Seil,
weil er etwas hörte,
aus dem Staub heraus tat er den Sprung
und sättigte sein Ohr.

Presst, o presst an der Zerstörung Tag
an die Erde das lauschende Ohr,
und ihr werdet hören,
durch den Schlaf hindurch
werdet ihr hören
wie im Tode
das Leben beginnt.

An Tage der Zerstörung ist heute Morgen in dieser Kirche erinnert worden. Der Gottesdienst und die Predigt von Bischöfin Margot Käßmann würdigte das Leben von Helmut James Graf von Moltke, der heute vor 100 Jahren auf dem Familiengut in Kreisau, in Niederschlesien, geboren wurde. Am 10. Januar 1945 verurteilte ihn der Volksgerichtshof zum Tode. Aus den vielen Jahren seines politischen Widerstandes nur ein Beispiel:

Am 7. November 1941 protestierte Moltke in einer Sitzung im Auswärtigen Amt energisch gegen die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz, die den Entzug der deut-schen Staatsbürgerschaft sowie die Beschlagnahme des Vermögens der zur Deportation bestimmten deutschen Juden vorsah. Seine entschiedene Intervention bewirkte ein Veto des Oberkommandos der Wehrmacht. So war es möglich, wie er später schrieb, für einige Tage - dem "Rad der Judenverfolgung - zumindest hemmend - ein wenig in die Speichen zu fahren." An seine Frau schreibt Moltke: "Wer um den äußeren Frieden zu erhalten Schwarz Weiß sein lässt und Böse Gut, der verdient den Frieden nicht, der steckt den Kopf in den Sand. Wer aber jeden Tag weiß, was gut ist und was böse, und nicht irre wird, wie groß auch der Triumph des Bösen zu sein scheint, der hat den ersten Stein zur Überwindung des Bösen gelegt."

In einem Brief aus der Haft hat Moltke für seine beiden Söhne seine Motivation zum Widerstand begründet: "Seitdem der Nationalsozialismus zur Macht gekommen ist, habe ich mich bemüht, seine Folgen für seine Opfer zu mildern und einer Wandlung den Weg zu bereiten. Dazu hat mich mein Gewissen getrieben – und schließlich ist das eine Aufgabe für einen Mann."

Vorbilder sind wichtig, gerade in bedrängender Zeit, wenn die Wahrheit etwas kostet. Ein Vertreter des American Jewish Committee berichtete mir von einer Untersuchung seiner Organisation. Sie galt der Frage, aus welchen Motiven Menschen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus halfen, obgleich sie dadurch ihre eigene Existenz aufs Spiel setzten. Die Untersuchung fand einerseits ein negatives Resultat: Es gab keine Gruppenzugehörigkeit, die ein solches Ausnahmeverhalten erzeugte. Die Mutigen, die sich engagierten, gehörten weder einheitlich einer bestimmten Religion, Partei oder Bildungsschicht an. Doch diejenigen, die man noch befragen konnte, erzählten ziemlich übereinstimmend: Ich kannte einen Menschen, der hätte es genauso gemacht. Das waren im Einzelnen sehr unterschiedliche Personen, die dann genannt wurden: Mutter, Vater, ein Lehrer oder ein naher Verwandter. Persönliche Vorbilder ermutigten und ermöglichten jenes Schwimmen gegen den Strom und die Annahme des Risikos. Oder wie es heute Bischöfin Margot Käßmann in ihrer Predigt sagte: "Wir müssen die Worte anderer kennen, wenn es uns selbst die Sprache verschlägt."

Vorbilder appellieren in der Entscheidungssituation an unser Gewissen. Dafür, dass es wach und aufmerksam wird, können wir aber auch selbst etwas tun. In dem wun-derschönen Brief, den der Dichter und Theologe Matthias Claudius an seinen Sohn Johannes schrieb, heißt es:

Scheue niemand so viel, als Dich selbst. Inwendig in uns wohnet der Richter, der nicht trügt, und an dessen Stimme uns mehr gelegen ist, als an dem Beifall der ganzen Welt und der Weisheit der Griechen und Ägypter. Nimm es Dir vor, Sohn, nicht wider seine Stimme zu tun; und was Du sinnest und vorhast, schlage zuvor an Deine Stirne und frage ihn um Rat. Er spricht anfangs nur leise und stammelt wie ein unschuldiges Kind; doch, wenn Du seine Unschuld ehrst, löset er gemach seine Zunge und wird Dir vernehmlicher sprechen."

O, unser Ohr dürfen wir nicht verkaufen, schreibt Nelly Sachs.

Sehr geehrte Damen und Herren,

"Redet Wahrheit" – Der erste Teil meiner Überlegungen galt der Sphäre von Politik und jüngerer Geschichte. Im Kommenden möchte ich gemeinsam mit Ihnen über Wahrheit im interreligiösen Dialog nachdenken. Aus aktuellem Anlass steht der christlich-islamische Dialog dabei im Vordergrund. Seit zwei Jahren finden regelmäßig Treffen zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und islamischen Spitzenverbänden gegenüber im EKD-Haus statt. In der jeweiligen Begegnung zum Jahresanfang wurden Themen für Studientage in den folgenden Monaten verabredet. So sollte auch am 6. Februar dieses Jahres verfahren werden. Aber der Termin wurde von der islamischen Seite überraschend abgesagt. Als Grund wurde die neue, im November 2006 vorgestellte Handreichung der EKD zum Thema ‚Christen und Muslime in Deutschland’ genannt. Zunächst – so erklärten verschiedene Sprecher – wollten die Verbände gemeinsam diese Schrift analysieren. "Wir waren sehr überrascht, als wir die Handreichung lasen", sagte einer von ihnen. Dies sei keine Absage des Dialogs. Man brauche ein bisschen Zeit und werde dann seinerseits die EKD einladen.

Bischof Huber hatte schon beim letzten Treffen auf eine Gegeneinladung gewartet. So trägt der Disput auf jeden Fall dazu bei, mehr Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl auf muslimischer Seite zu stiften. – Wie ist nun die neue Handreichung aus EKD-Sicht einzuordnen? Sie folgt sehr rasch auf eine vorangehende Schrift aus dem Jahr 2000: Zusammenleben mit Muslimen. Im Vorwort zur neuen Handreichung begründet der Rat der EKD den kurzen Zeitabstand:

"Neue Entwicklungen und Fragestellungen haben aber eine erneute Beschäftigung mit diesem Thema notwendig gemacht. Zu denken ist an die Terroranschläge in den USA am 11. September 2001, denen Anschläge in anderen, auch europäischen Ländern folgten; in solchen Zusammenhängen beriefen sich die Täter auf den Islam; eine neue Beunruhigung über radikale Entwicklungen im Islam hat sich in deren Folge gezeigt. Zu denken ist ebenso an die Diskussion in Deutschland über das Kopftuch im Schuldienst und die gesellschaftliche Integration von Muslimen oder an die Debatte um die Aufnahme von Beitritts-Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, bei der die Frage des Verhältnisses von europäischer Kultur und Islam sehr grundlegende Fragen aufwarf. Hinzuweisen ist aber auch auf verstärkte Bemühungen um eine Verankerung des Islams in unserer Gesellschaft, um eine verstärkte Zusammenarbeit innerhalb der muslimischen Verbände und um neue Projekte christlich-muslimischer Kooperation. Nach der Entwicklung eines islamischen Religionsunterrichts wird heute genauso gefragt wie nach der künftigen Ausbildung von Imamen für Moschee-gemeinden in Deutschland; das Bild von der Familie im Islam wird ebenso zum Gesprächsgegenstand wie insbesondere die Stellung von Frauen. Manche dieser Entwick-lungen konnten in der Handreichung von 2000 noch gar nicht oder nicht mit dem heute nötigen Gewicht behandelt werden. Deshalb haben wir im Rat der EKD uns zu einer erneuten Aufnahme dieser Fragen entschlossen. Denn viele Menschen erwarten von der evangelischen Kirche Klärung und Orientierung."

Deshalb heißt die neue Handreichung auch: "Klarheit und gute Nachbarschaft – Christen und Muslime in Deutschland". Sie spricht viele wichtige Fragen der aktuellen Debatte an, z.B.:

  • die Rolle der Religion im säkularen Rechtsstaat
  • das Verhältnis des Islams zur Demokratie
  • das Verhältnis der Generationen
  • die Geschlechterrollen und – wie erwähnt - auch
  • das Kopftuch im Schuldienst.

Besondere Aufmerksamkeit und Widerspruch auf der islamischen Seite hat aber der Abschnitt ausgelöst, der die Überschrift trägt: "Die Wahrheit und die Toleranz der christlichen Mission."

Der Sache nach war dieses Thema auch in der vorangehenden Handreichung aus dem Jahr 2000 angesprochen worden. Damals so:

"Wir bezeugen den dreieinen Gott, der in seinem schöpferischen, durch Jesus Christus versöhnenden und durch seinen Geist heiligenden Wirken das Heil aller Menschen will, auch unseren muslimischen Gesprächspartnern."

Im Text von 2006 wird dies weiter und deutlicher ausgeführt:

"Das Fundament der evangelischen Kirche ist das Evangelium von Jesus Christus, die frohe Botschaft von der gnädigen Zuwendung Gottes zu allen Menschen. Christen leben in der Gewissheit, dass Gott seine Gnade, die von Sünde und Schuld befreit, jedem Menschen ohne Bedingungen schenkt. Er bejaht alle Menschen als seine geliebten Geschöpfe. Die Kirche Jesu Christi ist gesandt, diese Botschaft zu bezeugen. Es ist ihre Mission, die Botschaft von Gottes Rechtfertigung aller Welt auszurichten.

Der entscheidende Gedanke dieser Sätze ist die Bejahung aller Menschen als geliebte Geschöpfe Gottes, auch wenn sie anderes denken und anderes glauben. Deshalb – so heißt es an einer anderen Stelle des Textes – werden wir uns für die "Respektierung der muslimischen Gemeinschaft einsetzen". Seit langem fordert die EKD z.B. die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an den Schulen. Als es noch wenige Moscheen in Deutschland gab, haben viele christliche Gemeinden ihre Räume für Feste und Zusammenkünfte von Muslimen geöffnet.

Wir wollen Muslimen die Liebe Gottes, an die wir glauben, aber nicht nur praktisch bezeugen, sondern im Dialog auch von unserem Glauben reden. Das ist mit Mission im Sinne von Auftrag gemeint: Ganz selbstverständlich vom eigenen Glauben zu erzählen und zu ihm einzuladen. So wie es in der Apostelgeschichte heißt: "Wir können es nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben." (4,20). Die Muslime machen es übrigens genauso: sie sind wie wir eine missionarische, eine einladende Religion. Der interreligiöse Dialog braucht standhafte Partner. Nur wer sich selbst klar beschreibt, kann für den anderen der Spiegel sein, in den dieser das Eigene besser erkennt. Dialogfähigkeit und Glaubenstreue gehören zusammen.

"Redet Wahrheit" – Diese Aufforderung – auf den Begriff Mission angewandt - bedeutet allerdings auch, von der Gewaltgeschichte zu sprechen, die die christliche Mission über lange Zeit begleitet hat. Juden und Muslime litten unter missionarischem Eifer und Zwang ebenso wie die Völker Afrikas und Amerikas. Sehr oft war Mission zudem mit politischen Herrschafts- und Eroberungszielen verschränkt. Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ist eine breite, selbstkritische Diskussion dieser Schattenseite der christlichen Kirchen in Gang gekommen. Viele Christen sind als Konsequenz zu der Überzeugung gelangt, man solle ganz auf das Wort Mission verzichten. Diese Sicht haben sich Synode und Rat der EKD nicht zu eigen gemacht. In der vorletzten Woche hat der bayerische Bischof Johannes Friedrich bei einem Vortrag in der Reihe "Treffpunkt Gendarmenmarkt" zum Thema Mission gesagt:

"Dieser Lernprozess war wichtig und wertvoll für uns als Kirche. Wir haben begriffen, dass Mission niemals mehr ein Akt gegen den freien Willen der Menschen sein darf. Zugleich haben wir gelernt, Mission wieder so zu verstehen, wie sie im Geist Jesu Christi gemeint ist und unverzichtbar zum Christsein dazu gehört. Und in diesem Sinne sprechen wir heute sehr bewusst von Mission und sagen klar, was wir damit meinen und was nicht."

Dass über Mission in der evangelischen Kirche neu nachgedacht wird, hängt vorrangig mit der Situation im eigenen Land zusammen. Die rückläufigen Mitgliederzahlen der Kirchen im Westen Deutschlands und die vom DDR-Staat betriebene Entkirchlichung der östlichen Länder haben uns mit der Notwendigkeit einer inneren Mission konfrontiert. Die EKD-Synode hat sich dem Thema 1999 in Leipzig gestellt unter der Überschrift: "Reden von Gott in der Welt – Der missionarische Auftrag der Kirche an der Schwelle zum 3. Jahrtausend".

Im Zusammenhang dieser neuen Annäherung an den Missionsbegriff tauchte damals auch die Frage auf, wie unsere Kirche zur Judenmission steht. Der damalige Rats-vorsitzende Präses Manfred Kock hat in Leipzig festgestellt, dass die christliche Verkündigung öffentlich geschehe und sich an alle Menschen wende. Eine spezielle Ausrichtung dieser Verkündigung auf Juden etwa im Sinne einer auf Bekehrung zielenden organisierten "Judenmission" sei aus theologischen und historischen Gründen abzulehnen. Wörtlich hat er gesagt:

"Israel ist der erste Zeuge Gottes vor der Welt und seiner Bestimmung nach "Licht der Völker" (Jes 52, 6;49,6). Die Kirche hat ihre Sendung (Mission) an die Völker in Teilnahme und Teilhabe an dem Zeugendienst Israels vor der Welt zu verstehen. Israel und die Kirche sind gemeinsame Zeugen Gottes vor der Welt.

Die Beauftragung der Kirche zur Mission richtet sich nicht an Israel, sondern nach Mt 28 an die "Völker". Damit ist nicht Israel gemeint, damit ist Israel auch nicht mitge-meint. Deshalb ist die Sendung der 12 Jünger an Israel (Mt 10,4f) von der Mission an die Völker (Mt 28,16-20) zu unterscheiden. In der Sendung Jesu an Israel geht es um die Umkehr im Bund, die Umkehr im Vaterhaus. Davon ist zu unterscheiden die den Jüngern seit der Auferweckung des Gekreuzigten aufgetragene Mission an alle Völker. Judenmission würde fälschlich voraussetzen, Israel sei von Gott verworfen, auf die Stufe der "Völker" zurückgefallen."

Diese theologische Überzeugung: "Sie sind schon beim Vater" war dann Titel und Thema einer Podiumsdiskussion in dieser Kirche am 30. Mai 2000. Bischof Wolfgang Huber, der heutige Ratsvorsitzende der EKD, hat bei diesem Dialog ebenfalls Missionsversuchen gegenüber Juden eine klare Absage erteilt: Israel bleibe Gottes aus-erwähltes Volk.

Von jüdischer Seite ist ein ähnlicher Gedanke – wie Präses Kock ihn in Leipzig vor-trug – in einem berühmten Brief enthalten. Der jüdische Philosoph Franz Rosenzweig schreibt am 31.10.1913 an seinen zum Christentum konvertierten Vetter Eugen Roenstock, dass er ihm in dieser Entscheidung – obwohl erwogen – nicht folgen werde. Den entscheidenden Grund für seinen Entschluss nennt er mit den Sätzen:

"Was Christus und seine Kirche in der Welt bedeuten, darüber sind wir einig: es kommt niemand zum Vater denn durch ihn.

Es kommt niemand zum Vater – anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel (nicht des einzelnen Juden)."

Eine Geschichte aus New York sei zum Schmunzeln hinzugefügt. Dort gab es plötzlich auf vielen Autos den Aufkleber zu lesen: We found god – Wir haben Gott gefunden. Es war die Aktion einer evangelikalen christlichen Gemeinde. Nach einigen Tagen erschien auf anderen Autos der Aufkleber. We never lost him – Wir haben ihn nie verloren. Die Antwort der jüdischen Gemeinschaft. – Juden haben – so erlebte ich es oft – die wunderbare Begabung, Glauben und Lachen zusammenzuhalten.

Ich schließe mit einem Gedanken des evangelischen Theologen Heinz Zahrnt. In seinem Buch ‚Mutmaßungen über Gott – Die Summe meines Lebens’, (1996), schreibt er über die Wahrheit im interreligiösen Dialog:

"Am Ende der Religionsgeschichte steht nicht der Sieg des Christentums, sondern das Reich Gottes. ..... Darum wird der Dom, an dem alle Religionen bauen, niemals fertig. Und er darf niemals fertig werden, wenn es ein Dom sein soll, in dem Gott verkündigt und angebetet wird. Der Schlussstein im Gewölbe darf nicht gesetzt werden, wenn der Himmel dreinschauen soll."