Ökumenischer Gottesdienst im St. Kilians-Dom zu Würzburg anlässlich der Eröffnung der bundesweiten Woche für das Leben 2008

Wolfgang Huber / Heinrich Mussinghoff

Thematische Hinführung von Wolfgang Huber


1.

Am Beginn der Woche für das Leben 2008 gilt mein Dank allen, die diese Woche vorbereitet haben und ihr in den nächsten Tagen Gestalt geben.

Meine eigene Überlegung zum Thema dieser Woche stelle ich unter ein biblisches Motto: „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt“. Diese Zeichen nennt Jesus dafür, dass er als der Messias Israels erkannt werden kann. Den Schülern Johannes des Täufers wird diese Antwort gegeben.

Das gehört zum Kern der biblischen Botschaft insgesamt: Menschen, die vergessen und an den Rand gedrängt waren, Menschen, die sich selbst aufgegeben hatten, kommen auf die Beine und kehren in die Gemeinschaft zurück. Verstoßene zeigen sich wieder im Tempel. Stumme beginnen zu reden. Die Ordnung des Lebens wird neu.

Die Heilungstaten Jesu stellen die bis dahin geltende Norm in Frage: Die Schuldzuweisung, nach welcher der Kranke selber schuld ist. Die Stigmatisierung behinderter Menschen. Die Zweiteilung der Gemeinschaft in Reine und Unreine. Die Auszeichnung der Leistungsstarken und Demütigung der Hilfsbedürftigen.

Jesus widerspricht solchen Denkweisen und stellt sich auf die Seite der Leidenden, bis hin zu seinem Tod am Kreuz, am Ort der Ausgestoßenen. Wer sich trotzdem in solchen Denkweisen einrichtet, dem sagt er: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Gerechten.“

2.

Das Eintreten Jesu für die Kranken und seine Teilnahme am Leiden der Menschen haben die Welt verändert. Krankenhäuser und Hospize, Leprastationen und Aidshilfeeinrichtungen, Wohngemeinschaften für Behinderte oder an Demenz erkrankte Menschen sind Zeichen dafür. Wir sind dankbar für die Anstöße zur Barmherzigkeit, die auf dem Boden des christlichen Glaubens gewachsen sind.

Chronische und tödliche Krankheiten gibt es nach wie vor. Neue Krankheiten entstehen, gegen die noch kein Mittel gefunden ist. Aber die Möglichkeiten zur Hilfe wachsen in ungeahnter Geschwindigkeit. Wissenschaft und Forschergeist machen das möglich. Ärztliches und pflegerisches Personal setzen sich ein, oft bis an die Grenzen ihrer Kraft.

Keiner soll die Hoffnung verlieren: dieser Impuls geht vom Evangelium aus. Dies gilt bei uns in Europa wie in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern, Dort bezeugt die ärztliche Mission mit ihrem Handeln, was wir glauben. Sie erinnert uns an den Zusammenhang von Heil und Heilung. In unserem reichen Land haben wir diesen Zusammenhang weithin vergessen.

3.

Wir können uns auf ein weit ausgefächertes Gesundheitssystem stützen. Zehn Prozent des Bruttosozialprodukts werden für diesen Bereich ausgegeben – mit steigender Tendenz. Gesundheit und Wohlbefinden sind in den Rang eines höchsten Gutes eingerückt. „Hauptsache gesund“ heißt es bei der Geburt eines Kindes. „Vor allem: Gesundheit!“ Das wünschen Gratulanten dem Geburtstagskind. Gesundheit soll das Leben prägen; mehr soll nicht nötig sein.

Gesundheit ist wichtig, keine Frage. Das Gesundheitsbewusstsein ist gewachsen – und das ist nötig. Denn noch immer gibt es krasse Fehlentwicklungen. Die einen sind zu dick, andere leiden unter Magersucht. Aber kommt Gesundheit wirklich „vor allem“? Ist das alles, worauf es im Leben ankommt?

Die Werbung redet uns das ein. Ihre Botschaft heißt: Gesundheit ist machbar – für den, der sie bezahlen kann. Manche Erwartungen an die medizinische Forschung laufen in eine ähnliche Richtung. Chronische Krankheiten sollen heilbar sein; alternde Organe lassen sich erneuern. Immer länger soll ein Leben in Gesundheit dauern. Die denkbare Lebensspanne soll ausgeschöpft werden.

An solchen Versprechungen wollen wir alle nippen. Es ist ja auch völlig richtig, Sport zu treiben und sich gesund zu ernähren. Aber es ist nicht richtig, die Gesundheit zum Idol zu machen. „Gesundheit – höchstes Gut?“ Mit diesem Motto der „Woche für das Leben“ stellen wir den Gesundheitswahn unserer Tage in Frage. Wir weisen darauf hin: Krankheit und Tod gehören zum Menschsein dazu.

Manchmal habe ich den Eindruck: Wo es früher noch um das Heil der Seele ging, geht es heute nur noch um den heilen Körper. Unsere Großeltern hofften auf die Erlösung; wir hoffen nur noch auf Gesundheit. Wenn das nicht klappt, fordert man ein schnelles Ende. Denn ein beschädigtes Leben gilt nicht mehr als sinnvoll. Ärzte sehen sich vor die Erwartung gestellt, ihre Patienten von Krankheit und Leiden zu „erlösen“. Ein ehemaliger Politiker hat gerade eine „Todesmaschine“ konstruieren lassen, mit der ein Kranker das selbst besorgen kann. Eine Schweizer Organisation macht aus der Hilfe zum Suizid ein Geschäft. Ich finde das erschreckend.

Leiden und Tod gehören zu unserem Leben. Wer das leugnet, verfehlt die Wirklichkeit. Es gibt keine Garantie ewiger Jugend. Und kein Mensch ist immerwährend gesund. An uns liegt es, der Lust am Leben mehr Bedeutung zu geben als der Sorge vor Krankheit. Es geht darum, dass wir glauben, hoffen und lieben. Auch an den Grenzen des Lebens.

4.

Denn eines soll nicht in den Hintergrund treten: Den Armen wird das Evangelium verkündigt. Was nützt der Fortschritt, wenn er am Ende doch wieder zur Teilung der Gesellschaft beiträgt? Was bedeutet es im Licht des Evangeliums, wenn die Lebensspanne im Westen stetig steigt, währen zugleich Tausende von Kindern täglich verhungern? Wenn die Erkenntnisse der vorgeburtlichen Diagnostik dazu genutzt werden, behindertes Leben abzutreiben oder abzutöten? Wenn Menschen sich an den Grenzen des Lebens lieber das Leben nehmen, als sich der Pflege anderer anzuvertrauen? Es ist Zeit, sich wieder an Jesus von Nazareth zu erinnern: „Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium gepredigt“.

„Hauptsache gesund“ – dies war nicht das Lebensmotto Jesu. Er wollte Menschen helfen, die heilsame Beziehung zu Gott neu zu entdecken. Er weckte die Bereitschaft zur Barmherzigkeit. Er brachte die Kultur des Helfens in unsere Welt. Gesund oder krank – jeder soll wissen, dass er von Gott geliebt ist. Wer das spürt, kommt in Bewegung und kann die Welt bewegen. Wir eröffnen diese „Woche für das Leben“ in der Hoffnung, dass vielen Menschen die Augen aufgehen und sie sich auf den Weg zu ihren Nächsten machen – Gesunden wie Kranken. Dazu gebe Gott seinen Segen.


Predigt von Heinrich Mussinghoff über Mk 10, 46-52

Die Heilung des blinden Bartimäus

Liebe Schwestern und Brüder,

„Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!“, so schrie er, der Blinde mit Namen Bartimäus, Sohn des Timäus, am Rande von Jericho. Er war zu diesem Leben verdammt. Geschlagen mit der Behinderung Blindheit, blieb ihm kein anderer Platz in der Gesellschaft als der eines Bettlers. Er saß wohl tagein, tagaus an seinem angestammten Ort und ging seinem Lebensunterhalt nach. Er war wahrscheinlich kaum in der Lage, dazu aus eigener Kraft etwas beizutragen. Vielmehr war er vollständig und umfassend angewiesen auf das Entgegenkommen seiner Mitmenschen. Das kann sehr würdelos sein, vollständig auf das Wohlwollen der anderen bauen zu müssen.

Doch dann, eines Tages spürt Bartimäus eine Chance. Er hatte sicher schon von diesem Rabbi gehört, der Wunder wirkend mit seinen Jüngern umherzog. Die Kunde von ihm hatte auch viele andere Menschen erreicht. Davon berichtet der Verfasser des Markusevangeliums, wenn er auf die große Menschenmenge hinweist, die Jesus aus Jericho hinausbegleitete. Jesus von Nazareth, der Rabbi, der Wunder tun und Menschen wieder gesund machen kann.

Diese Chance kann sich Bartimäus nicht entgehen lassen, und deshalb schreit er laut. So laut, dass es Ärger erregt bei den Leuten, die sich fragen, wer sich denn da so lautstark vordrängt. Doch Bartimäus ließ sich nicht abwimmeln und rief erneut und noch viel lauter: „Hab Erbarmen mit mir, Sohn Davids.“ Diesmal hat er Erfolg und Jesus wendet sich ihm zu mit einer Frage an den Bittsteller „Was soll ich dir tun?“ Die Frage weist auf den hohen Rang des Gebetenen hin. So verfahren Könige, wenn sie zu einer Audienz bitten: „Was ist dein Begehr?“ Bartimäus ergreift seine Chance und sagt mit Nachdruck: „Ich möchte wieder sehen können!“ – und in der Tat, er hat Glück. Der Rabbi aus Nazareth, der Wunder tun kann, hilft ihm. Das Evangelium berichtet, dass er wieder sehen kann.

Eine schöne Geschichte mit Happy End, kann man denken. Gesundheit ist doch zweifellos ein hohes Gut. Wie oft hören wir bei Geburtstagen: „Vor allem Gesundheit!“ oder auch zur bevorstehenden Geburt eines Kindes: „Hauptsache gesund!“ Da kommt in diesem Jahr die Woche für das Leben mit dem Thema „Gesundheit – höchstes Gut?“ Die Woche für das Leben bemüht sich – und das schon seit etlichen Jahren – darum, Themen des Lebensschutzes und der Menschenwürde in unserer Gesellschaft zu fördern und im Bewusstsein zu halten.

Wo sind denn bei dieser Thematik der Lebensschutz oder die Menschenwürde bedroht, mag man fragen, wo doch selbst die Bibel viele Heilungsgeschichten enthält. Eine davon haben wir ja eben im Evangelium gehört. Bartimäus war mit einem Handicap ausgestattet, hat seine Chance genutzt bei einem zufälligen Zusammentreffen mit dem für seine Wundertaten bekannten Jesus von Nazareth, um seine Heilung zu bitten – und sein Herzenswunsch ist ihm erfüllt worden. Also, setzen wir doch alles daran, eine gute Gesundheitsversorgung aufzubauen und zu erhalten. Dann hat die Geschichte auch für uns ein gutes Ende.

Doch ganz so einfach ist die Sache nicht, Bischof Huber hat eben schon darauf hingewiesen.

Bei näherem Hinsehen auf die Geschichte des Bartimäus wird auch bestätigt, dass es dabei um viel mehr geht als um die Wiederherstellung seiner Sehfähigkeit. Denn Jesus antwortet auf die Bitte des blinden Bettlers, ihn wieder sehend zu machen: „Geh! Dein Glaube hat dir geholfen.“ Die Geschichte des Bartimäus ist viel eher eine Glaubensgeschichte als eine Heilungsgeschichte. Keine der Heilungserzählungen, die das Neue Testament überliefert, ist eine Geschichte von einem wundertätigen Doktor, der körperliche und psychische Defekte wieder in Ordnung bringt. Es sind deswegen auch keine bloßen Gesundungsgeschichten, sondern Heilungsgeschichten. Heilungsgeschichten, die dort zustande kommen, wo sich Glaube gegenüber dem Repräsentanten des hereinbrechenden Gottesreiches, Jesus Christus, dem Gottessohn, zeigt. So ist es auch bei Bartimäus. Sein Glaube hat ihn geheilt. Und das Ende der Erzählung bestätigt, dass es um mehr geht, als um Wiederherstellung der Sehkraft des Bartimäus. Es wird nämlich nicht berichtet, dass er jetzt eine richtige Arbeit aufnehmen kann und unter menschenwürdigen Umständen sein Leben leben kann. Sondern da heißt es zum Schluss der Perikope: „…und er folgte Jesus auf seinem Weg“.

In dieser Geschichte finden sich alle Elemente, um die es in der Woche für das Leben mit dem Thema Gesundheit geht. Fitness und Wellness – gerne, aber es ist nicht alles. Achten wir darauf, dass wir nicht zu einem Menschenbild hindriften, das Leute wie Bartimäus aus der Gesellschaft ausgrenzt. Es ist der Mensch, den Gott liebt – gleich, ob mit oder ohne Behinderung. Die Heilungsgeschichten zeigen, dass Jesus die Menschen durch die Heilungen in die Mitte der Gesellschaft zurückführt. Soziale Aspekte spielen dabei eine wichtige Rolle. Wieder sehend, ist Bartimäus nämlich nicht mehr auf Gedeih und Verderb dem mildtätigen Wohlwollen seiner Mitmenschen ausgeliefert. Gesundheit und Krankheit wird immer auch in gesellschaftlicher Hinsicht definiert. „Stoßt Kranke nicht aus!“, sagt uns diese Geschichte auch.

Und sie sagt uns noch etwas anderes: Es ist eine Heilungsgeschichte. Heilung bedeutet sehr viel mehr als Gesundheit. Sie umschließt die Dimension des Heiles. Bartimäus folgte Jesus nach. Er war vom Heil erfasst worden. Ein solcher umfassender Begriff von Gesundheit liegt dem kirchlichen Verständnis zugrunde. Dann bekommen nämlich auch Krankheiten und Behinderungen einen anderen Stellenwert. Denn dann geht es um Heil und Heilung, um Geliebtwerden. So, wie das Drei-Jahres-Motto der Woche für das Leben lautet: „Gesund oder krank – von Gott geliebt“. Das meint die Geschichte von Bartimäus.