Predigt über 1. Petrus 4,7-11, am 9. Sonntag nach Trinitatis in Zeiskam
Hermann Barth
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Als Predigttext ist für den heutigen 9. Sonntag nach Trinitatis ein Abschnitt aus dem 1. Petrusbrief im 4. Kapitel vorgesehen:
(7) Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge. So seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet.
(8) Und vor allen Dingen habt untereinander beständige Liebe; denn "die Liebe deckt auch der Sünden Menge".
(9) Seid gastfrei untereinander ohne Murren.
(10) Und dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes:
(11) wenn jemand predigt, dass er's rede als Gottes Wort; wenn jemand dient, dass er's tue aus der Kraft, die Gott gewährt, damit in allen Dingen Gott gepriesen werde durch Jesus Christus. Sein ist die Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
Herr, heilige uns in deiner Wahrheit. Dein Wort ist die Wahrheit. Amen.
Liebe Gemeinde!
Der Name Zeiskam und die Kirchengemeinde Zeiskam haben in meiner Familie einen guten Klang. Von 1920 bis 1932 war mein Großvater Otto Gottschall hier Pfarrer, und er und seine Frau haben nie den geringsten Zweifel aufkommen lassen, welche Gemeinde ihnen von allen Orten, wo sie als Pfarrersleute gewesen sind, die liebste war: nicht Maxdorf mit seiner vorderpfälzischen Direktheit, auch nicht Jettenbach mit seiner nordpfälzischen Bescheidenheit, schon gar nicht Oggersheim, woran sich die Erinnerungen an Krieg und Nachkriegsnot festmachten, sondern eben Zeiskam, wo sie schließlich auch auf dem Friedhof ihre letzte irdische Ruhestätte fanden.
I
Mein Großvater steckte voller Erinnerungen, Geschichten und Anekdoten. Eine von ihnen, die freilich nicht in Zeiskam, sondern in Jettenbach spielt, eignet sich wunderbar als Hinführung zum heutigen Predigttext. Bis ins hohe Alter hinein gab mein Großvater sie gern zum Besten. Das hat gewiss auch damit zu tun, dass aus ihr nicht nur viel Menschenkenntnis spricht, sondern dass sie auch etwas über sein persönliches Wesen verrät. Die Geschichte geht so:
Das Pfarrhaus in Jettenbach wurde im wesentlichen mit Holz beheizt. Mehrmals im Jahr brachte ein Fuhrwerk eine Ladung Holz und lud sie vor dem Pfarrhaus ab. Dort wartete der Haufen, bis der Pfarrer oder ein Helfer Zeit fanden, die großen Stücke zu spalten und handlich zurechtzumachen. Eines schönen Tages – ein solcher Haufen Holz lag noch unangetastet da – klingelte an der Pfarrhaustür die Glocke. Mein Großvater öffnete: "Was wünschen Sie?" Vor ihm stand – früher hätte man gesagt: - ein Landstreicher und bot seine Dienste an: Ob er sich wohl etwas Geld und eine stärkende Suppe verdienen könne? Da liege ja noch das Holz. Er könne gut mit Axt und Säge umgehen. Mein Großvater ließ sich das nicht zweimal sagen, und die beiden wurden handelseinig. Vom Amtszimmer aus hörte er, wie Axt und Säge ihr Werk taten. Er achtete aber nicht auf Einzelheiten, er hörte es nur so nebenbei. Nach geraumer Zeit klingelte die Glocke wieder. Man sah dem Mann an, dass er körperlich geschafft hatte. Mit Heißhunger machte er sich über die Suppe her, erhielt den vereinbarten Lohn und zog dann seine Straße. Mein Großvater betrachtete voller Befriedigung den Haufen handlicher Scheite. Das Aufsetzen würde auch noch viel Arbeit sein, aber die Hauptsache war schon erledigt. Doch welch unangenehme Überraschung erwartete ihn, als er Tage später daranging, das gespaltene Holz aufzuschichten: Die oberste Schicht war zwar ordentlich bearbeitet, aber darunter – darunter war überhaupt nichts angerührt. Der "Landstreicher", nein: der Nichtsesshafte hatte ihn fein hereingelegt.
In seinen späteren Lebensjahren, als mein Großvater im Altersheim lebte, Tür an Tür mit einem ehemaligen Bankdirektor, da pflegte er die Geschichte als eine Art Gleichnis für das Wesen eines Bankdirektors und eines Pfarrers - man könnte auch sagen: für das Wesen der Welt und das Wesen des Himmels - zu erzählen. Und ihr Schlusssatz hieß jetzt: "Das genau ist der Unterschied zwischen den beiden – der Bankdirektor muss den Menschen misstrauen, bis er vom Gegenteil überzeugt ist, ich aber, ich darf von der Liebe nicht nur große Worte machen, ich muss die Liebe zum Nächsten leben und den Menschen vertrauen, bis ich vom Gegenteil überzeugt bin." Und mein Großvater wusste natürlich: Die Liebe lässt sich nicht so schnell widerlegen, sie steckt Enttäuschungen weg und investiert – manchmal gegen alle Hoffnung und Prognose – wieder Vertrauen.
II
Genau darum geht es, wenn es im Predigttext heißt: "Vor allen Dingen habt untereinander beständige Liebe". Merke: "vor allen Dingen" – nichts anderes ist wichtiger als die Liebe, und zwar "beständig" – nicht ausnahmsweise einmal, sondern beharrlich, gewissermaßen unbelehrbar. Mein Großvater hat sich zweifelsohne geärgert, so hintergangen worden zu sein. Aber "die Liebe deckt auch der Sünden Menge zu." Ja, wenn schon der schöne Schein der obersten Holzschicht "der Sünden Menge zudeckt" – wieviel mehr eine Liebe, die langmütig ist und freundlich, die sich nicht erbittern lässt, die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft?
So hat es bekanntlich der Apostel Paulus gesagt: Diese Liebe gibt niemals auf. Wer wollte und könnte ihm widersprechen? Dennoch kann ich die Frage nicht ganz unterdrücken, ob das eigentlich menschenmöglich und menschendienlich ist und ob – konkret – mein Großvater wirklich nicht damit gerechnet hat, dass sein Vertrauen vom Gegenteil überzeugt werden könnte. Ich gestehe jedenfalls ein, dass ich den Geschichten, die mir an der Haustür erzählt werde, nicht grenzenlos Vertrauen schenke.
Der Predigttext reiht mehrere Stichworte auf wie Perlen auf einer Schnur: Auf die beständige Liebe untereinander folgen die Gastfreiheit füreinander und der wechselseitige Dienst aneinander. Der rote Faden, der diese drei Stichworte zusammenbindet, ist das Füreinander-Dasein. Was für eine Wohltat ist es, gastlich aufgenommen zu werden! Seit altersher bemisst man die Kultur eines Landes daran, wie Gäste geschützt und aufgenommen werden. Ich persönlich kann, wenn ich in die Pfalz komme, nicht klagen: Auch beim jetzigen Besuch in der alten Heimat genieße ich Gastfreiheit, großzügigste Gastfreiheit. Und wenn es nicht in Lingenfeld bei Marianne und Rainer Wütscher wäre, dann könnte es genausogut bei Heike und Jürgen Krebs in Bellheim sein. Gäste aufzunehmen kostet zumindest Zeit und Mühe. Da wäre es nur zu natürlich, wenn ein Gastgeber ab und an leise murren und aufseufzen würde. Früher gab es in Norddeutschland die Redensart: "Besuch und große Wäsche sollen nicht länger als drei Tage dauern." Diese Grenze habe ich ja auch eingehalten. So dürfen wir für ein weiteres Mal sagen: Wir sind "gastfrei untereinander ohne Murren". Aber jeder von uns weiß auch: Wenn es über das "untereinander" hinausgeht, dann sind einige objektive und subjektive Schwierigkeiten zu bewältigen.
"Dient einander!" Was steckt in diesem Satz aus lediglich zwei Wörtern nicht alles drin - man braucht am Feierabend und am Samstag nur durch unsre Dörfer zu gehen und sich anzuschauen, wie Eigenheime erstehen. Ein entscheidender Faktor ist die wechselseitige Hilfe. Ohne sie könnten viele Familien sich niemals ein neues Haus bauen. Hilfst du mir, so helf ich dir. Und das gilt nicht nur beim Bauen, sondern ist ein Grundgesetz des menschlichen Zusammenlebens. Ein jüdisches Sprichwort bringt es auf die Formel: "Gefährten oder Tod". Wir Menschen haben nur die Alternative: Entweder wir sind einander Gefährten und helfen einer dem anderen zu leben, oder wir bereiten uns den Tod.
III
Man kann die Aufforderung, einander zu dienen, vom Ergebnis her begründen: Wenn wir jeder für sich dahinwurschteln und jeder allein auf sein Interesse bedacht ist, dann werden wir die Herausforderungen des Lebens und der Welt nicht bewältigen. "Gefährten oder Tod." Man kann den Aufruf, einander beizustehen, aber auch von dem her begründen, was wir mitbekommen haben: Jeder hat Gaben aus der reichen, bunten Gnade Gottes erhalten, doch jeder andere, darum sind wir aufeinander angewiesen. Dieser zweite Gedanke ist einer der schönsten in der ganzen Bibel. Darum ist der betreffende Vers des Predigttextes in der Lutherbibel auch fett gedruckt, und nicht wenige können ihn auswendig:
Dient einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes!
Drei Gesichtspunkte verdienen besondere Beachtung: Erstens wird die Gnade Gottes als vielfältig, reich und bunt charakterisiert. Gott ist kein Langweiler, er steht nicht für ein graues Einerlei, sondern für eine reiche Vielfalt. Jeder hat zweitens aus der bunten Gnade Gottes einen Anteil, seinen Anteil bekommen. Darum gibt es kein Glied am Leibe Jesu Christi, von dem nichts zu erwarten wäre. Jeder wird gebraucht, denn keiner ist unbegabt. Viele große Firmen geben heutzutage Hunderttausende von Euro aus, um im Umgang mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Kultur der Würdigung und der Ermutigung zu erreichen. Die Kirche kennt das schon seit 2.000 Jahren. Freilich – lebt und praktiziert sie sie auch? Dafür, dass die Gaben, die jemand von Gott empfangen hat, nicht versauern oder einrosten, ist drittens jeder selbst zuständig. Er soll ein guter Haushalter seiner Begabungen sein, sie pflegen und weiterentwickeln - ganz genau so, wie wir es im Gleichnis von den anvertrauten Talenten gehört haben. Darum ist es ziemlich töricht, wenn man einen Gegensatz konstruiert zwischen den Gaben, die Gott uns mitgegeben hat, und den Fähigkeiten, an deren Weiterentwicklung und Verbesserung wir arbeiten. Wenn jemand eine begnadete Sängerin ist - heißt das etwa, dass sie die Hände in der Schoß legen und die Fortbildung ihrer Stimme abbrechen soll? Das sei ferne!
Eine andere Sache ist es, dass wir uns davor hüten sollen, uns auf unsre Leistungen etwas einzubilden oder den Ruhm auf unser Konto zu buchen. Was wären alle unsere Beiträge ohne die Gnade Gottes? "Wenn jemand dient", so heißt es, tue er's "aus der Kraft, die Gott gewährt, damit Gott in allen Dingen gepriesen werde durch Jesus Christus."
IV
Wer den Predigttext gut kennt oder sich ihn vor dem Gottesdienst genau angesehen hat, der wird bemerkt haben, dass ich seinen Anfang übergangen habe - bisher:
Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge: So seid nun besonnen und nüchtern zum Gebet.
Für unsere Lebenserfahrung und unser Lebensgefühl ist dieser Gedanke in doppelter Weise fremd, ja befremdlich: Ankündigungen des Endes der Welt interessieren uns eigentlich nicht groß - gerade auch aus einem theologischen Grund: Jesus hat gesagt, dass wir Zeit und Stunde nicht wissen und der Tag des Herrn kommt wie der Dieb in der Nacht. Es ist demnach müßig, über das "Ende aller Dinge" zu spekulieren. Wenn sich aber jemand schon mit Weltuntergangsprophezeiungen ernsthaft beschäftigt, dann ist das, was im Predigttext steht, erstaunlich undramatisch und nüchtern. Man stellt sich die letzten Tage der Menschheit an sich aufgeregter vor.
Heute gibt es - vor allem im Zeichen des internationalen Terrorismus und des Klimawandels -
seriöse, halbseriöse und viele unseriöse Veröffentlichungen über Ereignisse, mit denen "nahe gekommen" sein könnte "das Ende aller Dinge". Schon die kühlen Abwägungen des gesunden Menschenverstandes warnen vor Panikmache und Hysterie. Der heutige Predigttext gehört zu den Zeugnissen der Bibel – es gibt allerdings auch andere -, die in die gleiche Richtung zielen und die Überspanntheiten eines Endzeitgefühls viel mehr dämpfen als bestärken. Drei Ratschläge werden gegeben:
"Seid besonnen!" Besonnenheit ist eine Tugend. Sie ist der klassische Begriff für eine Beruhigung des Geistes und der Seele. Bewahrt kühlen Kopf. Tut alles, um Panik zu vermeiden!
Zweitens: "Seid nüchtern!" Es darf keiner die Menschen verrückt machen. Weder ohne Alkohol noch erst recht mit Alkohol.
Und drittens: [Seid besonnen und nüchtern] "fürs Gebet"! Auch das Gebet soll kein Ausdruck seelischer Überspanntheit sein, sondern mit Sinn und Verstand geschehen.
Der große Theologe des vergangenen Jahrhunderts, mein Namensvetter - nicht verwandt und nicht verschwägert - Karl Barth, hat einmal geschrieben: "Der Heilige Geist ist ein Freund des gesunden Menschenverstandes." Dieses Lob des gesunden Menschenverstandes und die Warnung vor den Überspanntheiten eines Endzeitgefühls bedeuten freilich nicht, dass mit der Welt alles zum Besten bestellt ist und der Fortschritt unaufhaltsam voranschreitet. Im Gegenteil. Nur wenn wir uns und andere verrückt machen, wird noch nichts besser, eher schlechter. Halten wir es vielmehr mit den ersten Worten des Predigttextes:
"So seid nun besonnen und nüchtern" und beharrlich im "Gebet"!
Amen.