Morgenandacht (EG 495, 1 - 6)

Professor Dr. Richard Schröder

Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Gemeinde, ich lese manchmal lieber im Gesangbuch als in der Bibel.

Die Bibel, das ist ein ehrwürdiges Buch, die Urkunde des Glaubens. Die Lieder unseres Gesangbuchs sind Antworten des Glaubens, meistens aus den letzten 500 Jahren. Im Vergleich mit der Bibel sind das fast Zeitgenossen. Ich habe die seltsame Erfahrung gemacht, dass mir die Lieder aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert näher sind als die aus dem 19. Jahrhundert. Ganz weit oben in meiner persönlichen Hitliste ist das Lied, das Sie eben mit seinen Strophen gesungen haben, von Johann Heermann, es ist im Dreißigjährigen Krieg entstanden.

In unserem Gesangbuch ist es unter der Rubrik „Arbeit“ eingeordnet. Das trifft es nicht ganz, denn von der Arbeitswelt ist eigentlich nur in den Strophen zwei und drei kurz die Rede. Es ist ein Lied vom guten Leben, nicht Dolce Vita, sondern wie es bei den Griechen heißt, eǔ zen, ein Leben, wie wir es wünschen sollten nach dem Spruch: „Lebe, wie du, wenn du stirbst, wünschen wirst, gelebt zu haben.“ Aber Johann Heermann macht nicht solche Verrenkungen mit „wie du, wenn du“. Er bittet ohne Schnörkel um ein „gutes Leben“ und lässt uns dabei sehen, was er darunter versteht. Er nennt Gott den „frommen“ Gott, weil das Wort „fromm“ damals noch die alte Bedeutung von „tüchtig“ hatte.

Wünsche für ein gutes Leben, das will auch gekonnt sein. Manche verpfuschen ihr Leben durch das falsche Wünschen. Es gibt viele Märchen und Geschichten vom verkehrten Wünschen. Zur Erheiterung will ich eine von Johann Peter Hebel erzählen: Die berühmte Fee kommt zu einem armen Ehepaar und gewährt ihm drei Wünsche. Sie wollen nichts übereilen und überlegen und überlegen und überlegen und werden dabei hungrig. Da rutscht der Frau der Wunsch raus: „Eine Bratwurst, das wäre jetzt etwas schönes.“ Prompt war die Bratwurst da. Der Mann gerät in Zorn und sagt: „Deine blöde Bratwurst, sie soll dir an der Nase kleben.“

Damit war der zweite Wunsch erfüllt und der dritte war notwendig zur Reparatur des zweiten.

Johann Heermann wünscht intelligenter, nämlich zuerst Gesundheit des Leibes und der Seele und ein reines Gewissen. Aber, lieber Bruder Heermann, der Wunsch nach einem reinen Gewissen ist etwas missverständlich. Ein unverwüstlich reines Gewissen ist nämlich meistens ein ledernes Gewissen. Wünsch dir lieber ein waches Gewissen und ein getröstetes Gewissen, das nicht vor lauter Skrupeln lähmt.

Dann bittet er um Erfolg im Beruf. Nun achten Sie einmal darauf, wie er das macht. Er bittet nicht um den Traumberuf, auch nicht um die Traumkarriere. Er sieht das so: Gott habe ihn an einen bestimmten Ort in der Welt gestellt – diesen Ort nennt er „Stand“ –, und der ist ein Bündel von Aufgaben, die danach rufen, getan zu werden. „Beruf“ und „Stand“ sagt man damals sehr oft, wobei das Wort „Beruf“ noch den Beiklang von „Berufung“ hat, aber eben nicht ins Kloster, sondern in den Alltag der Welt.

Heermann wird noch deutlicher. Er spricht von „Gottes Befehl“, der ihm seinen Arbeits- und Aufgabenkreis zuweist. Bei „Befehl“ gehen wir gleich innerlich auf die Barrikaden, weil wir an die verheerenden Folgen von blindem Gehorsam denken. Geschichtliche Erfahrungen machen aber leider nicht immer klug. Manchmal machen sie auch blind und erzeugen auch pawlowsche Reflexe. Befehl – die Lampe geht an – das Denken geht aus.

Schauen wir uns diesen Befehl oder Ruf einmal genauer an. „Gib, dass ich tu mit Fleiß, was mir zu tun gebühret ...“. Vor der Industrialisierung hatte das Wort „Fleiß“ noch nicht die Bedeutung von „sich abrackern“ oder Akkordarbeit, sondern die Bedeutung von Umsicht, Aufmerksamkeit – in Luthers Übersetzung: Herodes erkundet von den Weisen „mit Fleiß“, wann der Stern erschienen ist. Es geht also gerade nicht um den blinden, sondern um einen sehenden Gehorsam, und es geht um Verantwortung. „Gib, dass ich mich um den mir anvertrauten Bereich mit Umsicht kümmere in Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Das Wort „Verantwortung“ hat in unserer ehtischen Tradition keinen sehr hohen Ehrenplatz eingenommen, es ist wenig darüber reflektiert worden. Es kommt dort selten vor. Hans Jonas hat sich des Themas sehr gründlich angenommen, sich für das Prinzip Verantwortung eingesetzt und dabei erklärt, die elementarste Erfahrung von Verantwortung sei ein weinendes Kind. Wer nicht hartherzig ist, muss sich ihm zuwenden. Das ist wie ein Befehl, ein Muss. Aber niemand befiehlt es, das Kind schon gar nicht.

Es gibt aber natürlich noch eine andere Grenze der Freundschaft, wo jemand tut und denkt, was wir ganz und gar nicht gutheißen können und wo wir uns darüber nicht verständigen können. Da – so pflegen wir zu Recht zu sagen – hört auch die Freundschaft auf. Man muss sich deshalb nicht bekämpfen, aber man wird sich aus dem Wege gehen. Die Welt ist übrigens groß genug dafür. Auch das kann christlich sein.

Zum christlichen Glauben gehört noch eine andere Form der Intoleranz, eine andere auch als die, die als christliche Intoleranz in die Geschichte eingegangen ist. Luther sagte einmal: „Der Glaube ist intolerant, aber die Liebe ist tolerant.“ Mit der Intoleranz des Glaubens meint er das erste Gebot: Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.

Diese Intoleranz des Glaubens bezieht sich allerdings nicht auf andere Menschen, sondern auf andere Mächte. Man kann das als Ideologieverbot verstehen – lauf nicht hinter falschen Göttern her –, als Suchtverbot oder als die Warnung vor Aberglauben: Lasse nichts Weltliches über dich herrschen, verspiele nicht die christliche Freiheit. – Es hat nichts mit Intoleranz oder Gewalt zu tun, wenn jemand einen solchen exklusiven Halt im Leben und im Sterben hat. Aber – so fügt Luther  hinzu – die Liebe ist tolerant, denn – so steht es auch in 1. Korinther 13 – sie erträgt alles.

Die christliche Freiheit ist eine Freiheit aus Bindung, wie ein Diplomat im Gastland unantastbar ist, weil er einer anderen Macht untersteht. Die Bindung nach oben schafft Freiheit zur Seite.

Hermann hat noch mehr zu bieten, woran Christen zumeist nur mit schlechtem Gewissen denken: Ich könnte ja auch zu Reichtum und Vermögen kommen. Das ist eines der wenigen Gesangbuchlieder, die damit rechnen, dass ein Christ auch einmal reich sein könnte. Er sträubt sich nicht dagegen, er will auch das aus Gottes Hand nehmen, aber es soll kein unrecht Gut sein. Es ist ein Beweis von Großherzigkeit, anderen ihren Reichtum neidlos zu gönnen, und ich glaube, in allen Kulturen gilt der Neidische als verächtlich.

Übrigens will Reichsein offenbar auch gelernt sein, denn wir hören von nicht wenigen Lottomillionären, die mit den Millionen ihr Leben ruiniert haben und hinterher schlechter dastanden als vorher.

Also, lassen Sie uns über Reichsein mit Vernunft und Gemeinwohlinteresse nicht zu schlecht reden.

Und schließlich denkt er sehr realistisch an das Älterwerden. Geduld für die Beschwerden des Alters erbittet er. Er hat noch – das kann ich sehr gut nachempfinden – die Bitte, dass er sich im Alter nicht selbst zum Gespött macht. Ich glaube, je länger wir leben, je höher die Lebenserwartung steigt, umso deutlicher steht uns vor Augen, dass uns allen auch dies bevorstehen könnte.

Das ist ein Lied vom guten Leben, nicht als Programm oder Maxime, sondern als Gebet, denn – um aus dem übernächsten Lied unseres Gesangbuches zu zitieren: „Es steht in keines Menschen Macht, dass sein Rat wird ins Werk gebracht und seines Gangs sich freue. Des höchsten Rat, er macht’s allein, des Menschenrat gedeihe.“

Dies wollen wir nun auch zum Schluss unserer Andacht singen.

(Lied 497, Strophen 4 bis 6)