Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I

Ein Orientierungsrahmen, EKD-Texte 111, 2011

1. Der Beitrag des Evangelischen Religionsunterrichts zur Allgemeinbildung

Im Rahmen seines Bildungsauftrags erschließt der Religionsunterricht die religiöse Dimension des Lebens und damit einen spezifischen Modus der Weltbegegnung, der als integraler Teil allgemeiner Bildung zu verstehen ist. Leitziel des Evangelischen Religionsunterrichts ist eine differenzierte religiöse Bildung. Im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen daher Fragen von existenziellem Gewicht, die über den eigenen Lebensentwurf, die je eigene Deutung der Wirklichkeit und die individuellen Handlungsoptionen entscheiden. Diesen Grundfragen und der Pluralität der religiösen Antworten in unserer Gesellschaft stellt sich der Religionsunterricht in der Schule. Aus Sicht der evangelischen Kirche erprobt der Religionsunterricht unter den unterrichtlichen Voraussetzungen der Schule als ein Angebot an alle die Sprach-, Toleranz- und Dialogfähigkeit christlichen Glaubens in der Gesellschaft. Er eröffnet damit einen eigenen Horizont des Weltverstehens, der für den individuellen Prozess der Identitätsbildung und für die Verständigung über gesellschaftliche Grundorientierungen unverzichtbar ist. Die Schülerinnen und Schüler eignen sich im Unterricht Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Haltungen an, die für einen sachgemäßen Umgang mit sich selbst, mit dem christlichen Glauben und mit anderen Religionen und Weltanschauungen notwendig sind.

Der Evangelische Religionsunterricht erschließt die religiöse Dimension des Lebens in der besonderen Perspektive, die auf die konkrete Gestalt, Praxis und Begründung des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Ausprägung bezogen ist. Er ist durch ein Verständnis des Menschen und seiner Wirklichkeit geprägt, das in der biblisch bezeugten Geschichte Gottes mit den Menschen gründet. Für dieses Verständnis ist eine Grunderfahrung konstitutiv, die in reformatorischer Tradition als Rechtfertigung allein durch den Glauben zu beschreiben ist. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Mensch den Grund, den Sinn und das Ziel seiner Existenz allein Gott verdankt. Gottes unbedingte Annahme enthebt den Menschen des Zwangs zur Selbstrechtfertigung und Selbstbehauptung seines Lebens. Sie stellt ihn in die Freiheit und befähigt zu einem Leben in Verantwortung. In der Gemeinschaft der Glaubenden ist ihm das Zeugnis für das Evangelium Jesu Christi aufgetragen. Diese Perspektive zur Geltung zu bringen ist der besondere und unvertretbare Beitrag des Evangelischen Religionsunterrichts zur schulischen Allgemeinbildung.

Evangelischer Religionsunterricht unterstützt durch seine konfessionelle Bestimmtheit die Identitätsbildung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen und fördert in einem wechselseitigen Prozess gleichzeitig die Fähigkeit zum Dialog mit anderen religiösen und weltanschaulichen Positionen. In diesem Spannungsfeld zielt der Evangelische Religionsunterricht auf eine religiöse Bildung der Schülerinnen und Schüler, die sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen, sozialen und persönlichen Lebens auswirkt und eine unverzichtbare Dimension humaner Bildung darstellt. Diese religiöse Bildung wird im Evangelischen Religionsunterricht durch vielfältige Lernprozesse gefördert:

  • Das dialogische Prinzip des Evangelischen Religionsunterrichts zielt darauf, eigene Überzeugungen im kommunikativen Austausch mit anderen zu gewinnen. Damit fördert der Unterricht soziales Lernen.
  • Das Phänomen Religion wird in seinen vielfältigen Erscheinungsformen und Facetten thematisiert. Durch einen offenen Dialog trägt das Fach zu einer differenzierten Urteilsfähigkeit und zu einer kritischen Toleranz gegenüber den Wahrheitsansprüchen der Religionen bei. Es unterstützt so interkulturelles und interreligiöses Lernen.
  • Im Dialog mit biblischen Grundlagen und den Traditionen des christlichen Glaubens einerseits und mit pluralen religiösen Lebensentwürfen und Weltdeutungen andererseits gewinnen Schülerinnen und Schüler Perspektiven für ihr eigenes Leben und die Orientierung in der Welt.
  • Die Kultur, in der wir leben, verdankt sich in vielen Hinsichten christlich begründeten Überzeugungen. Daher werden im Religionsunterricht zentrale Gehalte und Elemente christlicher Tradition im kulturellen Gedächtnis in Erinnerung gerufen, aufgedeckt und geklärt.
  • Wie in keinem anderen Fach können die Schüler und Schülerinnen hier über die Frage nach Gott nachdenken und deren Bedeutung für Grundfragen des menschlichen Lebens ausloten. In der Begegnung und der Auseinandersetzung mit dem Evangelium von der Menschlichkeit Gottes werden Grundstrukturen des christlichen Menschen- und Weltverständnisses aufgezeigt.
  • Das Fach bietet die Möglichkeit, an außerschulischen Lernorten Ausdrucksformen christlichen Glaubens und Lebens kennen zu lernen und damit einen eigenen Erfahrungshorizont für die unterrichtliche Arbeit zu gewinnen. Es eröffnet damit einen Raum, in dem Schülerinnen und Schüler die Tragfähigkeit des christlichen Glaubens erproben können.
  • Schülerinnen und Schüler setzen sich mit ethischen Herausforderungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie Kultur, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft auseinander und lernen das evangelische Verständnis eines freien und verantwortlichen Handelns im Alltag der Welt kennen. Dabei begegnen sie einem Ethos der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit.
  • Die Einübung elementarer Formen theologischen Denkens und Argumentierens ermöglicht es Schülerinnen und Schülern, am gesellschaftlichen Diskurs über Glauben und Leben argumentativ und sachkundig teilzunehmen.

Der Religionsunterricht ist nach evangelischem Verständnis konstitutiv auf die Theologie bezogen. Er bedient sich zugleich der Erkenntnisse und Verfahrensweisen anderer wissenschaftlicher Disziplinen, sofern sie zur Erschließung seiner Gegenstände und Themen beitragen. Das Fach ist offen für die fächerverbindende Vernetzung von Fragestellungen und Methoden. Im Religionsunterricht werden auch die Grenzen wissenschaftlicher Betrachtung und Analyse thematisiert und die spezifische Differenz zwischen Beherrschbarem und grundsätzlich Nicht-eherrschbarem, Verfügbarem und grundsätzlich Nicht-Verfügbarem beachtet.

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