Luthers Arbeit an der Bibelübersetzung – Ein Beispiel reformatorischen Theologie-Treibens

Nikolaus Schneider

Vortrag im Rahmen der Tagung "Was Dolmetschen für Kunst und Arbeit sei" – Die Lutherbibel und andere deutsche Bibelübersetzungen in der Universitätskirche Rostock

1. Einleitung

Sehr geehrte Damen und Herren,

Jubiläen sind nicht ganz unproblematisch, denn: Jubiläen sind Gedenkfeiern und gedenken heißt zunächst zurückblicken, sich erinnern, um dann das Erinnerte für die eigene Gegenwart fruchtbar werden zu lassen. Leicht aber bleibt man hängen im Vergangenen, verklärt das Gewesene und scheut die Anstrengung einer sachangemessenen Vergegenwärtigung. Jubiläen können gegenwartsvergessen machen, wenn sie sich nur auf das in der Vergangenheit Geschehene beziehen.

So ist es gut, im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 nach Prozessen zu fragen, die mit der Reformation begannen, die bis heute aktuell sind und die auch für die Zukunft von Bedeutung sind. Ein solcher Prozess ist meines Erachtens Luthers Übersetzung der Bibel. Seine Arbeit an der Bibelübersetzung macht beispielhaft deutlich, welche Kriterien für ein "reformatorisches Theologie-Treiben" bis heute unverzichtbar sind.

Zuvor aber drängt es mich, explizit Luthers Sprachkraft zu würdigen. Seine Wortschöpfungen sind präsent wie eh und je. Weit über geflügelte Worte hinaus ist Luther in unsere Alltagssprache eingedrungen. Einige Beispiele seien genannt: Luther hat sich oft darüber beklagt, dass das Deutsche nicht genügend Wörter besitze, um in der Bibelübersetzung dem hebräischen Original angemessen zu entsprechen. So hat Luther selbst neue Wortgefüge gebildet wie Feuereifer, Sündenbock, Machtwort, kleingläubig, geistreich oder auch gottgefällig, gnadenreich, Glaubenskampf, und oft abwertend Winkelprediger, Bilderstürmer, Wortgezänk.

Erwähnt werden soll hier auch der Begriff "die Friedfertigen", zu dem Luther selbst erläutert: "Die Friedfertigen sind mehr denn Friedsamen, nemlich, die den friede machen, fordern vnd erhalten vnter andern" (WA – B, 6,27). Andere Beispiele für Luthers Wortschöpfungen sind die aus Adjektiven oder Verben gebildete Substantive wie Barmherzigkeit, Bosheit, Sicherheit, Verdammnis, aber auch Ordnung. Das mag an Beispielen für Luthers charismatische Sprachkraft genügen.

Die Luther-Bibel ist ein großes literarisches Werk. Luthers Arbeit an diesem Werk ist beispielhaft für das der Theologie und der Kirche aufgetragene Bemühen, das Wort Gottes zu allen Zeiten und an allen Orten lebendig werden zu lassen – es ins konkrete Leben zu ziehen.

Luther hat sich bei seiner Übersetzungsarbeit einiger methodischer Ansätze bedient, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Auf fünf von ihnen will ich im Folgenden eingehen.

2. Luthers Übersetzung der Bibel geschah in einem Prozess und initiierte einen Prozess, der bis in die Gegenwart reicht

Die Übersetzung der Bibel war und ist ein dynamischer Prozess. Die Vorstellung, Luther habe während seines Aufenthalts auf der Wartburg vom Mai 1521 bis zum März 1522 das Neue Testament in einem Zug übersetzt, liefert ein schönes Bild: Der Junker Jörg in seiner Studierstube hoch über Eisenach. Allein auf sich gestellt erschafft er in diesen Monaten die "Deutsche Bibel". Doch dieses Bild stimmt nicht mit dem überein, was wir von Luthers Arbeit an einer deutschen Bibelübersetzung wissen.

Am Anfang stand das Studium Luthers in Erfurt mit dem Abschluss als Magister Artium. Zu jener Zeit war der Humanismus auch an dieser Universität präsent. Einer der Schwerpunkte des Humanismus war die Forderung "ad fontes" ("zurück zu den Quellen"), die Rückbesinnung auf die 'alten' Sprachen. Selbstverständlich war die Beherrschung des Lateinischen Grundlage des Studiums. Doch mit dem Humanismus wuchs auch das Interesse an der Trilinguität, also an der Ausweitung der 'heiligen Sprachen' um Hebräisch und Griechisch.

Luther ging nach dem Lateinischen als nächste Sprache das Hebräische an. Und zwar mit Eifer. So besorgte er sich bereits kurz nach dem Erscheinen das 1506 von Johannes Reuchlin verfasste grundlegende Werk "De rudimentis hebraicis". Diese Kombination einer Grammatik mit einem Wörterbuch ermöglichte es, das Hebräische selbstständig zu studieren.[1] Er empfand allerdings seine weitgehend autodidaktisch erworbenen Hebräisch-Kenntnisse als unzureichend und hatte den Wunsch, auch Unterricht in der hebräischen Sprache zu erhalten.

Das Griechische kommt bei Luther dann im Rahmen seiner Lehrtätigkeit in den Blick. In seinen Vorlesungen über Römer-, Galater- und Hebräerbrief in den Jahren 1515 bis 1518 wird dies deutlich. Erst durch Melanchthon, im Jahr 1518 nach Wittenberg berufen, lernt Luther das Griechische intensiver.

Mit dem Übersetzen biblischer Texte beginnt Luther, als ihm der Dienst des Predigers an der Wittenberger Stadtkirche St. Marien übertragen wird. Hier hatte er die Aufgabe, im Rahmen seiner Predigt den zugrunde liegenden Bibeltext aus der Vulgata in das dort gesprochene Deutsch zu übertragen. Dies vollzog sich wohl so, dass Luther zunächst den lateinischen Predigttext aus der Vulgata las und ihn dann ins Deutsche übersetzte.
 
Eine Tätigkeit als Prädikant an der Stadtkirche bedeutete, mehrmals wöchentlich zu predigen, in Fest- wie Fastenzeiten wohl täglich, an Sonn- und Feiertagen wohl auch zwei- bis dreimal. Luther musste also schon lange, bevor er auf der Wartburg an einer vollständigen Übersetzung des Neuen Testaments arbeitete, intensiv Texte der Bibel ins Deutsche übersetzt haben. Allerdings entstanden diese Übersetzungen eben im Zusammenhang mit seinen Predigten. Es ging in ihnen also weniger um eine philologisch korrekte Übertragung, als vielmehr um ein Dolmetschen des Textes vom Evangelium her. Von der "Guten Nachricht" her, wie sie Luther ergriffen und wie er sie begriffen hatte.

Im Jahr 1520 wurde in Wittenberg erstmals über eine vollständige Übersetzung der Bibel ins Deutsche nachgedacht. Den letzten Anstoß für die Umsetzung des Planes gab dann Melanchthon. Er drängte Luther, die Zeit auf der Wartburg zu nutzen, eine einheitliche Übersetzung anzufertigen. Luther arbeitete auf der Wartburg ohnehin an einer Weihnachtspostille, an Auslegungen der weihnachtlichen Epistel- und Evangelientexte mit einer Übersetzung dieser Texte ins Deutsche. Luthers Arbeit an der Auslegung von Texten und an einer Übersetzung des Neuen Testaments beeinflussten sich dann wohl gegenseitig. Luther sah in seiner Übersetzung keinen Wert in sich, sondern sein Übersetzen ist geprägt von der Absicht, das Evangelium zu verkündigen.
 
Die Stationen der weiteren Arbeit an der Bibelübersetzung sind bekannt: Die Übersetzung des Alten Testaments brauchte zwölf Jahre. Es war von Anfang an klar, dass diese Übersetzung in ihrer Gesamtheit nicht in einem Band würde erscheinen können. Zudem hatte der geradezu reißende Absatz der Drucke des Neuen Testaments – allein im Jahr 1523 erschienen 12 Nachdrucke – deutlich gemacht, dass es einen großen Bedarf für Übersetzungen weiterer Bibeltexte gab. Es sollten also zeitnah Teile des Alten Testaments und der Apokryphen veröffentlicht werden. Luther selbst vermerkt dazu "denn zu einer derartigen Aufteilung und allmählichen Herausgabe zwingt die Rücksicht aus Größe und Preis der Bücher"[2]. So erschienen bis zum Oktober 1524 zunächst die Übersetzungen des Pentateuch, der historischen und der poetischen Bücher. Dann allerdings brauchte es noch zehn Jahre, bis im September 1534 die erste vollständige hochdeutsche Bibel in der Übersetzung Luthers bei Hans Lufft in Wittenberg gedruckt werden konnte.

Mit dem Erscheinen der ersten Vollbibel in der Übersetzung Luthers war die Übersetzungsarbeit an der Lutherbibel jedoch nicht beendet. Schon im Jahr 1529 arbeiteten Luther und Melanchthon an einer gründlichen Revision des Neuen Testaments. Sie erschien im Frühjahr 1530 in Wittenberg bei Hans Lufft. Im Frühjahr 1531 wurde der Psalter in einer Arbeitsgruppe grundlegend revidiert. In Vorbereitung der Vollbibel wurde im Februar/März 1534 der gesamte Text noch einmal durchgesehen. Und eine letzte Durchsicht, die allerdings die Apokryphen aussparte, wurde in den Jahren 1539 bis 1541 vorgenommen. Luther selbst arbeitete an der Übersetzung bis zu seinem Tod. Die letzte zu seinen Lebzeiten gedruckte Wittenberger Bibel war die von 1545; 1546 folgte eine Ausgabe, die noch auf Luther selbst zurückgehende Korrekturen enthielt.

So ist, seit am 21. September 1522 Martin Luthers Übersetzung des Neuen Testamentes erstmalig erschien, fortlaufend an den Texten der Lutherbibel gearbeitet worden. Dies geschah – zu Lebzeiten Luthers – konsequent und systematisch. In der Folgezeit wurden Veränderungen und Verbesserungen eher unsystematisch angegangen, oft spielten Zufälle oder willkürliche Entscheidungen von Druckern, Setzern und Herausgebern eine Rolle. Dies führte im Lauf der Zeit zu einer Vielzahl unterschiedlicher Übersetzungen der "Bibel nach Martin Luther". Erst im 19. Jahrhundert setzte sich die Erkenntnis durch, dass es wichtig sei, zu einer einheitlichen, allgemeinen "Luther-Bibel" zu kommen. Anlass war das dreihundertjährige Jubiläum der Lutherbibel – genauer: der letzten von Luther selbst herausgegebenen Ausgabe seiner Bibelübersetzung – im Jahr 1845.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kursierten ca. elf verschieden bearbeitete Fassungen der Lutherbibel Ausgabe letzter Hand von 1545. So sollte zunächst ein genauer Abdruck der Bibel von 1545 und auch eine umfassende Darstellung der Entwicklung dieses Textes und einzelner seiner Stücke herausgebracht werden. Bei diesen Arbeiten wurde deutlich, dass es nicht möglich war, eine solche Neuauflage der Lutherbibel von 1545 als 'Volksbibel' herauszubringen.

"Die Kritik und die Sprache der Lutherschen Textes erlaubt dies nicht; die Kritik schon darum nicht, weil in Luthers Bibel viele Verse fehlen; die Sprache nicht, weil sie nicht mehr verständlich für unsere Zeit ist", schreibt Carl Mönkeberg im Jahr 1885 in seiner Schrift "Beiträge zur würdigen Herstellung des Textes der Lutherschen Bibelübersetzung"[3]. Und er fährt fort: "Darum haben sich Alle, die sich einen echt Lutherschen Text zu geben bestrebt haben, doch zu Änderungen und Abweichungen bequemen müssen, und der Unterschied in den verschiedenen Ausgaben entsteht aus dem mehr oder weniger."

Durch die Existenz dieser verschiedenen Ausgaben drohte die Lutherbibel ihren Charakter als die in deutschen Landen volkstümliche Übersetzung zu verlieren. Auch ihre Verwendung in Schule und Unterricht machte eine einheitliche Fassung erforderlich. Daher wurden in den Jahren 1861 und 1863 nach Vorarbeiten der Bibelgesellschaften Grundsätze für die Feststellung eines einheitlichen Bibeltextes vereinbart. Die Eisenacher Kirchenkonferenz (ein damaliger Zusammenschluss evangelischer Kirchen in deutschen Landen) beschloss dann im Jahr 1863, eine Revision der Lutherübersetzung durchzuführen und beauftragte zunächst zehn Theologen mit der Revision des Neuen Testaments. Ziele dieser Revision waren: 

  • die Anpassung des Luthertextes an den aktuellen Sprachgebrauch (Ersetzung veralteter und nicht mehr verständlicher Wörter, Anpassung des Satzbaus, Einführung der modernen Orthografie);
  • Korrektur einiger von Luther fehlerhaft übersetzter Stellen und von Druckfehlern in der Ausgabe von 1545;
  • Festschreibung des Luthertextes in der neuen Form als einheitlicher Text des deutschen Protestantismus.

1867 wurde probeweise ein Neues Testament herausgegeben; das Neue Testament war 1870 endgültig fertiggestellt. Jedoch gab es erst 1883 eine "Probebibel" der Gesamtausgabe. 1892 wurde die erste "kirchenamtliche" Revision (Durchsicht) für abgeschlossen erklärt.

Bereits im Jahr 1905 aber wurde auf der Konferenz der Bibelgesellschaften der Antrag gestellt, die Bibel von 1892 noch einmal sprachlich zu überarbeiten. So erschien im Jahr 1912 die zweite Revision. Doch schon im Jahr 1921 gab es erste Überlegungen für eine weitere Revision des Bibeltextes. Wieder wurde als ein Grund die Gefahr genannt, dass die Lutherbibel den Charakter der Volksbibel verliere. Begonnen mit den Arbeiten wurde dann im Jahr 1928. Dies geschah allerdings erst nach langwierigen und schwierigen Abstimmungen zwischen den Bibelgesellschaften einerseits und dem Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss andererseits über Verfahrensfragen und Zielsetzungen.

Ein erstes "Probetestament" (Neues Testament und Psalter) erschien im Jahr 1938. Die weiteren Arbeiten verzögerten sich zwar, doch lag bei Ende des Zweiten Weltkriegs ein vollständiges Revisionsexemplar vor. Es wurde dann in drei Abteilungen gedruckt: 1949 das Alte Testament, 1955 das Neue Testament und 1956 die Apokryphen – aber alles nur als Probedrucke. Erst im Jahr 1964 erschien das Alte Testament in der als dritte Revision anerkannten Form, im Jahr 1970 dann die Apokryphen. Die Ausgabe des Neuen Testaments von 1975 musste auf heftigen Protest zurückgezogen werden. Sie wurde noch einmal überarbeitet. Die gesamte Lutherbibel wurde dann im Jahr 1984 endgültig als dritte kirchenamtliche Revision festgestellt. Mit leichten Überarbeitungen 1999 und der Anpassung an die aktuelle Rechtschreibung im Jahr 2006 besteht die Lutherbibel bis heute aus den drei zu unterschiedlichen Zeiten erschienenen Revisionsteilen.

Die bloßen Jahreszahlen dieser letzten Revision lassen nur erahnen, welche Konflikte sich dahinter verbergen. Schon das "Probetestament" von 1938 wurde heftig kritisiert. Den Kritikern ging es um einen möglichst getreuen Erhalt des Luthertextes. Bei einem späteren Probedruck wurde dann beanstandet, dass er die Urtexte zu wörtlich wiedergebe und dabei von Luthers Deutsch abweiche. Die daraufhin erarbeitete Textversion von 1956 fiel vielen dann zu konservativ aus. So wurde das Alte Testament schließlich 1964 in einer Form vorgelegt, die allgemein akzeptiert wurde bzw. gegen die sich nicht allzu lauter Protest erhob. Die Revision der Apokryphen wiederum wurde, obwohl offenbar schon im Geiste der Revision von 1975 erarbeitet, nicht Gegenstand der Kritik. Diese allerdings meldete sich umso lauter im Jahr 1975 zu Wort, als man mit dem Text des Neuen Testaments die Revisionsarbeit offiziell für abgeschlossen erklärte. Es erhob sich erheblicher Widerstand aus den unterschiedlichsten Kreisen des deutschen Protestantismus.

Einer der schärfsten Kritiker war Walter Jens, aus dessen Rede am 1. Mai 1980 ich zitiere: "… [es geht] um die eindeutige Herausstellung des Tatbestands, dass es unmöglich ist, zwei Herren gleichzeitig dienstbar zu sein: dem Bibelübersetzer Martin Luther und der ‘gehobenen’ Schriftsprache unserer Zeit […] und eben dies wird heute verlangt, wobei, sieht man genauer hin, freilich zwischen beiden Herren ein Subordinations-Verhältnis besteht. Eigentlicher Regent ist die Gegenwartssprache, die deutsche Mittelstandsdiktion des Jahres 1975, der sich die Lutherische Rede anzupassen hat: in Dienst gestellt und, unter dem Aspekt der Verständlichkeit, beliebig zu transformieren. Eingängigkeit um jeden Preis, heißt die Parole; Zurücknahme des Fragwürdig-Fremden; rigoroses Ausmerzen des Emotionalen, Singulären und Individuellen; statt dessen glättende Gleichmacherei, die selbst die dramatischsten Dissonanzen […] zugunsten einer spannungslosen Einerlei-Rede, der Koine der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nivelliert […] Da wird eindimensional, was komplex ist; da wird Fremdes, in dudendeutscher Rede, als selbstverständlicher Besitz ausgegeben [ …] Pedantendeutsch statt rhythmischer Prosa!"

Die Kritik von allen Seiten führte schließlich dazu, dass der Text des Neuen Testaments noch einmal durchgesehen wurde und dabei auch das Alte Testament in den Blick genommen wurde. Erst im Jahr 1984 erschien die Lutherbibel in der Textgestalt, in der sie heute – allerdings nun mit der Anpassung an die geltende Rechtschreibung – vorliegt.

Fazit:

Der Blick zurück macht deutlich, dass die Arbeit an der Lutherbibel im Jahr 1984 ebenso wenig abgeschlossen ist wie sie es im Jahr 1534 war, als die erste Vollbibel in der Übersetzung Luthers erschien: Luthers Übersetzung der Bibel geschah in einem Prozess und initiierte einen Prozess, der bis in unsere Gegenwart reicht und sich auch zukünftig fortsetzen wird. Luther selbst war es wichtig, immer neu zu prüfen, ob in seiner Übersetzung das Auslegungsprinzip der ganzen Schrift, der zentrale hermeneutische Zugang, deutlich wird: "was Christum treibet".

In den Kirchen der Reformation kann eben dieser hermeneutische Zugang in seinen Konkretionen nicht lehramtlich festgeschrieben werden. So werden theologische Diskurse und kritische Infragestellungen auch im Blick auf die Angemessenheit von Revisionen der Lutherbibel nicht aufhören. Entscheidend für unser reformatorisches Theologie-Treiben aber bleibt, dass wir Gottes Geist zutrauen, auch in der Vielfalt und in der Vielstimmigkeit unserer Revisionsprozesse "Christum zu treiben."

Für alle Revisionsprozesse ist zu fragen, wie das Verhältnis von Urtexten, Luthersprache und der Sprache der heutigen Zeit zu bestimmen ist.

3. Luther war beim Übersetzen um Genauigkeit und sachliches Verständnis bemüht, er befragte Fachleute und betrieb nichttheologische  Studien

Luther wollte wissen, was sich hinter Begriffen, die in der Bibel genannt sind, und hinter Vorgängen, die dort geschildert werden, verbarg. In seinem Streben nach Sachkenntnis und Genauigkeit steht Luther in der Tradition des Humanismus.

So empfiehlt Erasmus – wohl im Anschluss an Augustin[4] –, dass angehende Theologen – vorsichtig und maßvoll und auf eine bestimmte Zeit beschränkt – in den gebildeteren Wissenschaften (elegantiores disciplinae) unterrichtet werden: Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Musik und Naturkunde (rerum naturalium cognitio).[5] Für letzteres 'Fach' nennt er auch einzelne Bereiche: Sterne, Lebewesen, Bäume, Edelsteine und (biblische) Orte. Durch die Genauigkeit in der Benennung von Gegenständen und Zusammenhängen soll das Gelesene "nachvollziehbarer, verständlicher, lebendiger und vergnüglicher" werden. Außerdem sei dann der Leser von schlechten Wörterbüchern unabhängig. Ohne Kenntnis der Naturkunde (res naturalis) könne nicht sachgerecht disputiert werden.

Das Besondere ist nun, dass Luther ein solches "den Dingen auf den Grund gehen" in seine Übersetzungsarbeit mit hineinnimmt. Die Beispiele dafür sind zahlreich. Bekannt ist, dass er sich – wohl vermittelt durch Lukas Cranach – Edelsteine aus dem Besitz des Kurfürsten Friedrich auf die Wartburg bringen und sich die Namen erklären ließ, um die in der Bibel genannten Edelsteine richtig übersetzen zu können.

Johannes Mathesius[6] vermerkt in seiner XIII. Predigt – er hielt 17 über Luthers Leben – dass Luther sich "etlich Schöps (Schafe) abstechen ließ, damit ihn ein Deutscher Fleischer berichtet, wie man ein jedes im Schaf nennete." Hintergrund des Interesse Luthers sind die in 3.Mose/Lev geschilderten Opferhandlungen.

Ein Beispiel für Luthers bewussten Rückgriff auf naturkundliches Wissen findet sich in der Auslegung zu Ps 7,10: "Las der Gottlosen bosheit ein ende werden / Vnd fördere die Gerechten / Denn du gerechter Gott prüfest hertzen vnd nieren."

Zu "Herzen und Nieren" formuliert Luther eine längere Erläuterung: "Die Naturkundigen sagen, dass die beiden Nieren an den Lenden hangen, und diese seien die Werkzeuge der Unkeuschheit und der Wollust, ebenso wie das Herz der Sitz der Furcht und der Zuversicht, die Milz des Lachens und der Fröhlichkeit, die Leber der Liebe und des Hasses. Daher wollen sie auch, dass Niere (ren) von dem griechischen Wort ρεω herkomme, welches fließen bedeutet, weil aus den Nieren die schändliche Feuchtigkeit der Unkeuschheit fließe."[7]  Luther weist in diesem Zusammenhang noch auf weitere Schriftstellen hin kommt dann zu dem Schluss: "Es ist also klar, dass unter 'Nieren' die Ergötzungen und Lüste verstanden werden, welche Gott geopfert werden müssen durch die Tötung nach dem Kreuz."[8]

Auch bei der Übersetzung neutestamentlicher Texte lassen sich Beispiele dafür finden, wie wichtig es Luther war, Naturwissenschaften heranzuziehen, um Aussagen und Darstellungen der Bibel zu verstehen. Im Galaterbrief etwa stößt er im 4. Kapitel auf das Problem, dass nach dem Text der Berg Sinai sowohl im jüdischen Land als auch in Arabien liegt. Es geht in diesem Abschnitt des Briefes um die beiden Söhne Abrahams bzw. ihre Mütter, Hagar und Sarah, und um die mit ihnen begründeten Bundesschlüsse.

Gal 4,25: Denn Agar (Hagar) heisset in Arabia der berg Sina / vnd langet bis gen Jerusalem / das zu dieser zeit ist / vnd ist dienstbar mit seinen Kindern.

Für eine sachangemessene Lösung des geographischen Problems zieht Luther hier Jacobus Faber Stapulensis heran, den französischen Theologen und Humanisten, dessen Name vor allem mit "La Sainte Bible en français" (1523–30), der ersten vollständigen französischen Übersetzung der Bibel, verbunden ist. Luther schreibt:

"Stapulensis, der der Bedeutung des griechischen Wortes nachforscht, sagt, es sei so zu verstehen, dass Sinai ein aneinander hängender Gebirgszug ist, das heißt, er geht und reicht in einer Art Gebirgskette, oder um einen kosmographischen Ausdruck zu gebrauchen, erstreckt sich bis Jerusalem; was schlechterdings nicht anders verstanden werden kann, als dass der Berg Sinai durch das Land, in dem er liegt, mit dem Lande verbunden wird, in dem Jerusalem liegt, gleichwie Wittenberg bis an Leipzig reicht, jenes in Sachsen an dieses in Meißen."[9]

In der Revision der Lutherbibel von 1984 wird der Einsicht Rechnung getragen, dass es hier gar nicht um eine geographische Angabe geht. Hier wird die Übersetzung des griechischen συστοιχέω mit "entsprechen/für etwas stehen/ein Bild sein für" zugrunde gelegt. Jetzt heißt es hier:

Gal 4,24f: Denn die beiden Frauen bedeuten zwei Bundesschlüsse: einen vom Berg Sinai, der zur Knechtschaft gebiert, das ist Hagar; denn Hagar bedeutet den Berg Sinai in Arabien und ist ein Gleichnis für das jetzige Jerusalem, das mit seinen Kindern in der Knechtschaft lebt.

Das mag an Beispielen genügen. Es wird deutlich, dass die Übersetzung für Martin Luther auch eine enzyklopädische Arbeit war. Es ging ihm darum, wirklich zu verstehen, was im Text steht, und zwar möglichst exakt und anschaulich.

Fazit:

Luther hatte keine Skrupel, auf die Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften zurückzugreifen. Er erhoffte sich durch diese Erkenntnisse eine größere Genauigkeit und sachliches Verständnis bei seinen Übersetzungen.

Gerade dieser methodische Ansatz aber macht deutlich, dass es keinen zeitlosen Übersetzungstext geben kann. Denn die wissenschaftlichen Erkenntnisse – im Besonderen die der Naturwissenschaften – erweitern und verändern sich.

Und doch bleiben für ein reformatorisches Theologie-Treiben das Gespräch und der Austausch mit anderen Wissenschaften unverzichtbar. Unser Arbeiten an der Bibel und unser Arbeiten mit der Bibel brauchen "fachfremde" Einsichten und Kenntnisse, um das Wort Gottes heute lebendig werden zu lassen und es in das Alltagsleben der Menschen zu ziehen. 

4. Luthers Bibelübersetzung ist Teamarbeit

Das wird besonders deutlich in der schon genannten XIII. Predigt des Johannes Mathesius[10]. In dieser Predigt wird geschildert, dass die Initiative für eine Teamarbeit an der Bibel von Luther ausgeht:

"Als nun erstlich die gantze Deutsche Bibel außgangen war … nimmet D. Luther die Biblien von anfang wider für sich, mit grossem ernst, fließ und gebete, und ubersihet sie durchauß". Die Gruppe, die nun den Text der Bibel revidieren soll, wird im Vertrauen auf Mt 18,20 "Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen" zusammengerufen. Luther setzt sozusagen eine Kommission ein: "verordnet D. M. Luther gleich einen eygen Sanhedrim". Die Gruppe kommt wöchentlich "etliche Stunden vor dem Abendessen in Doctors Kloster zusammen".

Luther bestimmte zwar, um welche Texte es gehen sollte. Er moderierte dann aber eher das Gespräch, als es autoritär zu leiten. Es geht um eine kollegiale Beratung; Mathesius spricht ausdrücklich von "rathschlagen". Die Beiträge mussten nicht über Luther laufen, sondern kamen von allen Beteiligten: "Wunder schöne und lehrhafftige reden sollen bey dieser arbeyt gefallen sein …".

Aus den Aufzeichnungen dieser Gespräche durch Georg Rörer wird deutlich, dass es sich bei diesen Treffen um eine kooperative und kommunikative Arbeit an den Revisionen handelte. Im Kreis waren ganz unterschiedliche Kompetenzen versammelt. Zum engeren Kreis gehörten Philipp Melanchthon, Professor der griechischen Sprache und Kenner des Hebräischen; Johannes Bugenhagen, Professor an der Universität und Pfarrer an der Stadtkirche Wittenberg, für das Latinische zuständig; Matthäus Aurogallus, seit 1519 Professor für die hebräische Sprache in Wittenberg; Caspar Cruciger, Theologieprofessor und ein guter Kenner der hebräischen und chaldäischen Sprache; Justus Jonas, ein ausgezeichneter Übersetzer aus dem und in das Lateinische und Georg Spalatin, hochgebildeter Humanist und Theologe, zeitweilig am Hofe des Kurfürsten und Luthers Verbindungsmann zu Friedrich dem Weisen.

Diese Männer waren nicht nur wichtig wegen ihrer Kenntnisse der lateinischen, griechischen, hebräischen und aramäischen Sprache. Sie brachten auch ihr Deutsch mit in die Arbeit am Bibeltext ein. Wie Luther gehörten Jonas und Cruciger dem ostmitteldeutschen Sprachraum an; der eine kam aus dem Harz, der andere aus Leipzig. Aurogallus war in Böhmen geboren worden, Rörer in Niederbayern und Melanchthon in der Kurpfalz. Spalatin stammte aus Spalt bei Nürnberg. So bestand schon im Kreis der engsten Mitarbeiter an der Bibelübersetzung die Möglichkeit, die Kenntnis landschaftlicher Sprachvarianten in die Diskussion einzubringen.

Wichtig ist überdies, dass die zu besprechenden Texte durch die einzelnen Teilnehmer vorbereitet worden waren: "Zuvor hatte sich jeder auf den Text gerüstet, davon man rathschlagen sollte, Greckische und Lateinische, neben den Jüdischen außlegern." Mit letzten sind die Bibelkommentare jüdischer Exegeten gemeint.

Diese Arbeit in einem Kreis von Übersetzern hatte schon in der Zeit zwischen 1525 und 1527 begonnen. Die entscheidenden Revisionssitzungen fanden dann in den Jahren 1531, 1534 und 1539 bis 1545 statt. Ihre Ergebnisse waren immer wieder verbesserte Textfassungen und erklärende Randbemerkungen bzw. Erläuterungen.

Das Hauptziel dieses Überarbeitens und Feilens an der Sprache war die Sicherung des von den griechischen oder hebräischen Originaltexten überlieferten Sinnes für die theologische Interpretation. Die Kenntnis der alten Sprachen wie der Muttersprache war dazu nur eine Hilfe, die man freilich für unentbehrlich hielt. Übersetzt wurde aus den Originalsprachen, das Alte Testament aus dem Hebräischen und das Neue Testament aus dem Griechischen. Die Humanisten hatten mit ihrem Zurückgehen auf die Quellen dafür wichtige Vorarbeiten geleistet. Ohne ihre textkritischen Ausgaben und Kommentare ist Luthers Übersetzungsleistung überhaupt nicht denkbar. Er und seine Mitarbeiter übernahmen aber auch die Methode der textkritischen Erschließung und nutzten sie für die neue Übersetzung.

Wer in den noch erhaltenen Protokollen Rörers über die Sitzung dieser Gruppe von Theologen, Philologen und Universalgelehrten liest, dem wird deutlich, dass die Lutherbibel dieser intensiven Zusammenarbeit ihre Besonderheit und Bedeutung verdankt. Männer aus unterschiedlichen deutschen Regionen, die an unterschiedlichen Orten wie Heidelberg, Tübingen, Greifswald, Leipzig und Erfurt studiert und gearbeitet hatten, brachten ihre Kenntnisse und Überlegungen in ein gemeinsames Werk ein, ohne das kenntlich gemacht wurde, wer welchen Gedanken in die Übersetzung eingebracht hatte und wer für welche Übersetzung letztendlich verantwortlich war.

Fazit:

"Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei", so heißt es als eine göttliche Grundbestimmung des Menschen in Genesis 2, 18. Das galt und das gilt auch für die Übersetzungsarbeit an der Bibel. Und das gilt auch ganz generell für unser reformatorisches Theologie-Treiben. Menschen erfahren dabei immer wieder neu: Gottes Geist ist Teil eines 'Teams' und öffnet unseren Menschen-Geist für eine von gegenseitigem Respekt und Vertrauen getragene Teamarbeit.

5. Luther war bei seiner Bibelübersetzung immer wieder offen für Korrekturen und Revisionen.

Über die grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Übersetzung, wenn sie "in der rechten art deutscher sprach"[11] geschehen sollte, hat sich Luther in Vor- und Nachworten zu seiner Bibelübersetzung, vor allem aber im Sendbrief vom Dolmetschen (1530) und in den Summarien über die Psalmen/Und Ursachen des Dolmetschens (1531/33) ausführlich geäußert. Die Übersetzung aus dem Hebräischen gestaltete sich als schwieriger und langwieriger als die aus dem Griechischen und Lateinischen. So berichtet Luther im Sendbrief vom Dolmetschen, im Hiob hätten er, Philipp Melanchthon und Matthäus Aurogallus "in vier Tagen zuweilen kaum drei Zeilen konnten fertigen".

Im Buch Hiob wie in den Psalmen waren in besonderer Weise sprachliche Bilder und Figuren enthalten. Bei der intensiven Korrektur- und Revisionsarbeit an der Bibelübersetzung ging es Luther und seinem Team deshalb oft darum, die Bilder der Texte nach ihrem Sinngehalt mit eigenen Sprachmitteln neu zu formen und der eigenen Erlebnis- und Vorstellungswelt anzupassen.

Gerade die Psalmenübersetzung zeigt, wie von Auflage zu Auflage die Formulierungen auf der einen Seite klarer und verständlicher werden, andererseits dem poetischen Charakter der Psalmen stärker Rechnung getragen wird. Dies kann dann so weit führen, dass vom hebräischen Wortbestand nur noch wenig zu erkennen ist. Im Nachwort wies Luther selbst auf diesen entscheidenden Unterschied hin und plädierte dafür, die verschiedenen Übersetzungen nebeneinander stehenzulassen: "Doch lassen wir unsern vorigen deutschen Psalter (gemeint ist die Auflage von 1528) auch bleiben … Denn der vorige deutsche Psalter ist an viel Orten dem Hebräischen näher und dem Deutschen ferner; dieser ist dem Deutschen näher und dem Hebräischen ferner".[12] Mit den Korrekturen und Veränderungen wollte Luther zum einen also der "Art der deutschen Sprache" immer näher kommen, zugleich aber auch der sinnlich-konkreten Anschaulichkeit des hebräischen Originals mehr und mehr gerecht werden.

Ein beredtes Beispiel dafür sind die verschiedenen Fassungen des 23. Psalms von der eigenhändigen Niederschrift (1523) über den Erstdruck (1524) bis zur entscheidenden Überarbeitung von 1531 und der letzten Ausgabe von 1545. Schon die Handschrift weist etliche Korrekturen auf, von denen die letzten mit roter Tinte geschrieben sind.

In der ersten Druckausgabe von 1524 lautet die Übersetzung von Psalm 23:

"Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er lässt mich weiden, da viel Gras steht, und führet mich zum Wasser, das mich erkühlet.
Er erquickt meine Seele, er führet mich auf rechter Straße umb seins Namens willen.
Und ob ich schon wandert im finstern Tal, fürcht ich kein Unglück, Denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch gegen meine Feinde. Du machst mein Haupt fett mit Öle und schenkest mir voll ein.
Gutts und Barmherzigkeit werden mir nach laufen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar."

Ab 1531 aber finden wir den Text in einer uns bis heute vertrauten Form:

"Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele, er führet mich auf rechter Straße umb seins Namens willen.
Und ob ich schon wandert im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, Denn du bist bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.
Du bereitest vor mir einen Tisch gegen meine Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öle und schenkest mir voll ein.
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar."

Deutlich wird, dass der Text durch die Korrekturen anschaulicher und zugleich poetischer wurde. Das recht profane Bild "da, wo viel Gras steht" ist durch das poetische Bild "auf einer grünen Aue" ersetzt; ebenso die fremde Formulierung "du machst mein Haupt fett mit Öle" durch eine vertraute "du salbest mein Haupt mit Öle".

Nicht vorenthalten möchte ich Ihnen Luthers Anmerkung von 1531 zu Vers 5: "Und mein Kelch ist voll, die Becher stehen voll. Ich esse, dass ich guten Muts bin, du gibst mir zu essen, dass ich fröhlich werde, und schenkst mir einen frischen Trunk ein. Auf einem vollen Bauch steht ein fröhlich Haupt."

Wir wissen, dass an der Ausgabe des Psalters von 1531 Philipp Melanchthon, Caspar Cruciger und andere mitgewirkt haben. Melanchthon und Cruciger waren gute Kenner des Hebräischen. Möglicherweise haben sie Luther dahin beeinflusst, sich von der starken Orientierung am Hebräischen zu lösen und grundlegende Neuformulierungen zu wählen bis dahin, statt im Perfekt nun im Präsens zu formulieren.

Fazit:

Luther war immer wieder neu bereit, an seinen Übersetzungstexten umfangreiche Korrekturen vorzunehmen. Offensichtlich empfand er Korrekturen und Revisionen nicht als eine Schwächung seiner Autorität oder als eine Herabwürdigung seiner Arbeit. Die Freiheit, sich selbst und der eigenen Arbeit Korrekturbedarf zuzugestehen, gehörte für ihn zu der uns von Gott geschenkten "Freiheit eines Christenmenschen".

Und eben das gilt doch auch für alles reformatorische Theologie-Treiben: Unser Glaube schenkt uns die Freiheit, uns und einander zuzugestehen, dass alles unser Erkennen und Wissen nur "Stückwerk" ist (vgl. 1.Kor 13,9). Wir können freimütig korrigieren und uns großmütig korrigieren lassen.

6. Luther hatte bei seiner Bibelübersetzung den Mut, Dinge wegzulassen

Luther hat Bibeltexte gekürzt, wenn es ihm sinnvoll erschien. Ein schönes Beispiel findet sich in der Beschreibung der Stiftshütte in 2.Mose/Ex Kap 35 bis 38. Es geht um die Beschreibung der sechs Arme des Leuchters in Kap 37,19.

Diesen Vers[13] übersetzt wohl die Zürcher Bibel am genauesten:

37,19 Drei Kelche in der Form von Mandelblüten waren an dem einen Arm, aus Knauf und Blüte bestehend, und drei Kelche in der Form von Mandelblüten an dem nächsten Arm, aus Knauf und Blüte bestehend; so war es an den sechs Armen, die vom Leuchter ausgingen.

Die Septuaginta, die griechische Übersetzung des Alten Testament, kürzt schon ganz erheblich.[14] Ich zitiere nach der Septuaginta Deutsch:

38:15 an seinen Armen springen die Knospen hervor, drei an diesem und drei an diesem, völlig gleich einander.

Die Vulgata hält sich an den hebräischen Text. Doch Luther kümmert sich nicht darum. Er übersetzt:

37,19 Drei Kelche waren an jedem Arm mit Knäufen und Blumen.

Ein anderes Beispiel findet sich in 1.Mose/Genesis, Kap 11, 11-26, im Geschlechtsregister von Sem bis Abram. Im Hebräischen wird dort in jedem Vers noch einmal der Name des erstgeborenen Sohnes, der im vorhergehenden Vers genannt ist, wiederholt. Also:

11,12f. Arpachschad war 35 Jahre alt und zeugte Schelach und lebte, nachdem er den Schelach gezeugt hatte, 403 Jahre und zeugte Söhne und Töchter.

Luther übersetzt "nachdem er den N. gezeugt hatte" schlicht mit "danach", und zwar in allen acht Versen. [15]

In der Lutherbibel lassen sich zahlreiche Stellen finden, an denen Luther gekürzt hat. Auch wenn bei manchen davon auszugehen ist, dass eine andere Textgrundlage vorlag, so ist doch sicher, dass Luther ganz bewusst – und ganz selbstbewusst – Textstellen nicht übersetzt hat, die ihm inhaltlich nicht erforderlich erschienen.

Fazit:

Luther hatte den Mut und die Fähigkeit, bei seiner Bibelübersetzung Sachverhalte zu verdichten und Unwesentliches zu vernachlässigen. Auch das, scheint mir, brauchen wir bei unserem reformatorischen Theologie-Treiben bis heute. Gerade wenn es Theologinnen und Theologen darum geht, in einem pluralen und säkularen Europa die Gottesfrage wachzuhalten und den Bedeutungsinhalt von "solus Christus" verständlich zu machen, dürfen sie sich nicht in Nebensächlichkeiten verlieren. 

Allerdings halte ich dieses 5. Methodische Kriterium im Blick auf Bibelübersetzungen für problematisch. Persönlich meine ich: das geht eigentlich gar nicht. Bibelübersetzungen sollen ja nicht nur "Christum treiben", sondern auch eine zutreffende Wiedergabe der Urtexte sein.

7. Schluss

Die Arbeit an der Übersetzung der Lutherbibel hatte schon vor dem 31. Oktober 1517 begonnen. Und sie ist bis heute weiter gegangen und wird wohl nicht zum Abschluss kommen. Sicher gab es Um- und Irrwege. Und sicher wird es bei aller weiteren Übersetzungs- und Revisionsarbeit auch in Zukunft Um- und Irrwege geben. Davor ist kein Theologie-Treiben sicher. Aber die fünf methodischen Ansätze, die für Luthers Arbeit wichtig waren, können bis heute helfen, zielführende Wege zu finden.

Reformatorische Kirchen treiben Theologie  

  • in einem Prozess, der auch über 2017 hinausgeht;
  • mit dem Mut und der Offenheit, andere Fähigkeiten und fremdes Fachwissen anzuerkennen und dort zu übernehmen, wo dies sinnvoll und zielführend ist; als Teamarbeit;
  • mit der Bereitschaft für Korrekturen von außen und von innen;
  • mit dem Mut und der Fähigkeit, Sachverhalt zu verdichten und Unwesentliches zu vernachlässigen.

Gedenken ist nach jüdisch-christlichem Verständnis kein Rückblick auf ein Geschehen, das abgeschlossen ist. Gedenken erinnert vielmehr an ein Geschehen, das über die Gegenwart in die Zukunft wirkt.

In diesem Sinn wollen wir 2017 an die Reformation gedenken und das Reformationsjubiläum feiern. Und in diesem Sinn habe ich der Arbeit an der Lutherbibel gedacht. Luthers Arbeit an der Übersetzung der Bibel wollte dem Wort und dem Willen Gottes auf der Spur bleiben. Und das will reformatorische Theologie bis heute. Sie will erkennen und sie will bekennen, "was Christum heute treibet". Oder um es mit Bonhoeffer zu sagen "Wer Christus heute für uns eigentlich ist"[16] .

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!


Fußnoten:

  1. vgl. Luther, Biblia 3, 43*
  2. WA Briefe Bd. 2, S. 614, 19-21
  3. Hamburg 1855, S.25 f.
  4. Augustinus, de doctrine Christiana 2,16,18,28-31.
  5. Erasmus, Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam, 184, 23-30.
  6. J. Mathesius, Historien, Nürnberg 1565, in der Ausgabe Nürnberg M.D.LXXX Bl 151.
  7. AWA (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers. Texte und Untersuchungen) 2,420,10-14.
  8. AWA 2,420, 17f.
  9. WA 2,553,6-11
  10. J. Mathesius, Historien, Nürnberg 1565, in der Ausgabe Nürnberg M.D.LXXX Bl 151.
  11. WA- B 8, 32.
  12. WA – B 101, 590
  13. שְׁלֹשָׁ֣ה גְ֠בִעִים מְֽשֻׁקָּדִ֞ים בַּקָּנֶ֣ה הָאֶחָד֮ כַּפְתֹּ֣ר וָפֶרַח֒ וּשְׁלֹשָׁ֣ה גְבִעִ֗ים מְשֻׁקָּדִ֛ים בְּקָנֶ֥ה אֶחָ֖ד כַּפְתֹּ֣ר וָפָ֑רַח כֵּ֚ן לְשֵׁ֣שֶׁת הַקָּנִ֔ים הַיֹּצְאִ֖ים מִן־הַמְּנֹרָֽה׃
  14. ἐκ τῶν καλαμίσκων αὐτῆς οἱ βλαστοὶ ἐξέχοντες τρεῖς ἐκ τούτου καὶ τρεῖς ἐκ τούτου ἐξισούμενοι ἀλλήλοις
  15. 1.Mose/Gen 11, 10 Dies ist das Geschlecht Sems: Sem war 100 Jahre alt und zeugte Arpachschad zwei Jahre nach der Sintflut 11 und lebte danach (statt „nachdem er Arpachad gezeugt hatte“) 500 Jahre und zeugte Söhne und Töchter.
  16. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Brief an Bethge vom 30.4.1944.