Gemeinsam evangelisch!

Erfahrungen, theologische Orientierungen, EKD-Text 119, Hrg. EKD, 2014, ISBN 978-3-87843-033-9

2 Aktuell erkennbare Herausforderungen

Das christliche Gesicht der Migration

Die genaue Zahl christlicher Migranten in Deutschland ist nicht bekannt, da in den Statistiken des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die religiöse bzw. konfessionelle Identität bei der Zuwanderung nicht erhoben wird. Daran wird sich auch mittelfristig nichts ändern. Nimmt man jedoch den Hessischen Integrationsmonitor von 2010 zur Grundlage, dann ergibt sich ein erstaunlich klares Bild: Von den in Hessen lebenden „Menschen mit Migrationshintergrund“ waren im Jahr 2010 rund 67 % christlichen Glaubens erfasst - im Vergleich zu 20 % muslimischer Religionszugehörigkeit. Abgesehen davon, dass diese Zahlen die in der deutschen Integrationsdebatte dominierende Wahrnehmung widerlegen, bei den Zuwandernden handele es sich in erster Linie um Muslime, werden dadurch die etablierten christlichen Kirchen herausgefordert. Bereits heute hat ein Drittel aller Kinder in deutschen Großstädten einen Migrationshintergrund. Die demografische Entwicklung wird dafür sorgen, dass dieser Anteil stetig größer wird und somit die Vielfalt an Kulturen, Konfessionen und Religionen zunimmt. Die beschriebenen Entwicklungen machen deutlich, dass eine intensive Beschäftigung der EKD und ihrer Gliedkirchen mit Gemeinden und Christen anderer Sprache und Herkunft notwendig ist.

Innerkirchliche Nischen
 
In vielen Fällen sind der Kontakt und das Gespräch mit Gemeinden und Christen anderer Sprache und Herkunft noch die Sache einiger weniger hoch engagierter und spezialisierter Experten in der EKD und ihren Gliedkirchen. In der Ausbildung von Pfarrern, Gemeindepädagogen, Religionslehrern und Kirchenmusikern spielt die Vielfalt christlichen Lebens in Deutschland praktisch keine Rolle. Gemeinden anderer Sprache und Herkunft werden häufig pauschal als »die Anderen« wahrgenommen, zu denen man sich als deutsche Kirchengemeinde verhält - oder auch nicht. Oft herrscht eine eher abwartende Haltung vor. Wenn sich eine Gemeinde anderer Sprache und Herkunft nach der Möglichkeit der Nutzung von Kirche oder Gemeindezentrum erkundigt, wird diesem Wunsch oft auch unter Abschluss eines entsprechenden Mietvertrages entsprochen. Doch es ist noch nicht selbstverständlich, dass eine landeskirchliche Ortsgemeinde von sich aus Kontakt zu christlichen Migranten und ihren Gemeinden sucht.

Gemeindlich ungebundene Einzelpersonen
 
Christliche Migranten, die sich nicht (oder nicht von vornherein) einer bestimmten Gemeinde anderer Sprache und Herkunft zugehörig fühlen (wollen), sind bei den bisherigen Überlegungen und Veröffentlichungen kaum wahrgenommen worden. Zu ihnen gibt es also eine Art „Nicht-Verhältnis“. Die EKD und ihre Gliedkirchen wissen wohl, dass es insbesondere in Ballungsräumen viele Menschen christlichen Glaubens gibt, die oft zeitlich begrenzt (Arbeitsaufenthalte) in Deutschland leben; jedoch gibt es kaum erkennbare Initiativen, auf diese Menschen zuzugehen. Auf die Integration einzelner Menschen mit Migrationshintergrund sind deutsche Kirchengemeinden wenig vorbereitet. Sie misslingt darum oft selbst dann, wenn beide Seiten guten Willens sind.
 
Trotz einzelner guter Beispiele wie etwa in manchen diakonischen Bereichen kann generell gesagt werden, dass christliche Migranten kaum präsent sind in den regulären Arbeitsverhältnissen von Kirche und Diakonie, sowie in allen Mit-wirkungs- und Entscheidungsprozessen der evangelischen Kirchen in Deutschland - vom Kirchenvorstand/Presbyterium bis hin zur EKD-Synode. Die grundsätzliche Frage, ob und wie diese Einzelpersonen und ihre Gemeinden Mitglieder deutscher Landeskirchen sein können, ist weithin offen.

Gemeinsames Zeugnis
 
Die EKD, ihre Gliedkirchen und die Gemeinden anderer Sprache und Herkunft werden bislang in der Öffentlichkeit nicht als gemeinsam glaubende und handelnde Christen wahrgenommen. Allerdings haben EKD und Gliedkirchen in den letzten Jahren begonnen, ihr Verhältnis zu christlichen Zuwanderern und ihren Gemeinden neu zu reflektieren. Sie wollen eine Perspektive dafür entwickeln, wie sie ihr Zeugnis und ihren Dienst zusammen mit christlichen Migranten verstehen und praktizieren können. Hierzu stehen zum einen theologische Klärungen an (s. u.), aber es fehlen bisher auch Überlegungen und Strategien, wie die durch die Geschwister aus anderen Teilen der Erde verkörperte Vielfalt christlichen Lebens in Deutschland gemeinsam interpretiert und gestaltet werden könnte. Dazu bedarf es der genauen Analyse und theologischen Reflexion.

Innerkirchliche Vielfalt

Die evangelischen Kirchen sind selbst von großer innerer Vielfalt geprägt. Ihre Stärke besteht darin, ganz unterschiedliche Theologien, Glaubensinhalte und christliche Ausdrucksformen zu integrieren. Mit Recht fragen z. B. charismatisch geprägte Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, warum sie nicht zu einer Landeskirche gehören können, wenn sie nichts wesentlich anderes predigen und praktizieren als das, was in der volkskirchlichen Bandbreite ohnehin vertreten ist.

Viele Gemeinden anderer Sprache und Herkunft repräsentieren aber auch andere Versionen des Christlichen als die in den Gliedkirchen der EKD anzutreffenden. Nordeuropäische Gemeinden (z. B. Finnen) stehen in ihrer Lehre für ein traditionelles Luthertum, während ein Großteil der Migrationsgemeinden aus dem globalen Süden charismatisch-pfingstlerische Prägungen mitbringt. Daher bilden diese Gemeinden einen stark anwachsenden Trend der Weltchristenheit ab. Gleichzeitig stellen sie notwendigerweise eigene kontextualisierte und in kultu-rierte Erscheinungs- und Ausdrucksformen von Kirche und Theologie dar. Dabei transportieren sie mitunter Erscheinungsformen wie „Spiritual Warfare“ oder Geistheilungen, die theologisches Konfliktpotential bergen und zur kritischen Auseinandersetzung förmlich herausfordern.

Diese Gemeinden durchlaufen im Übergang von der ersten zur zweiten Migrationsgeneration allerdings rapide und zum Teil schwierige Transformationsprozesse, die mitunter zu Gemeindespaltungen führen können. Die Begegnung und Zusammenarbeit mit ihnen vonseiten der evangelischen Kirche können für diesbezügliche Klärungsprozesse förderlich sein. Gleichzeitig können Gemeinden anderer Sprache und Herkunft für EKD-Gliedkirchen insofern bedeutsam werden, als hier neue Formen des Christ- und Kirche-Seins begegnen, die kritisch und ernsthaft darauf hin zu befragen wären, ob sie für Erneuerungsprozesse auch im Kontext der verfassten Kirche impulsgebend sein könnten.

Theologischer Dialog

Eine Neubestimmung des Verhältnisses der EKD und ihrer Gliedkirchen zu Gemeinden anderer Sprache und Herkunft erfordert mehr als bisher einen intensiven theologischen Dialog. Dabei ist es wichtig, dass unterschiedliche Prägungen in Theologie, Kultur und Frömmigkeit zur Geltung gebracht werden können. So wird gegenseitiges Verständnis wachsen können, auch wenn in einem solchen Dialog beide Seiten „dem Anderen“ - für sie oft Fremden - begegnen. Es wird keiner der Partner in Anspruch nehmen können, allein das wahrhaft „Evangelische“ zu repräsentieren; gleichzeitig gilt es nach Möglichkeiten zu suchen, das theologisch und bekenntnismäßig Gemeinsame zu beschreiben. Dies ist vor allem notwendig, wenn Gemeinden anderer Sprache und Herkunft sich einer evangelischen Kirche in Deutschland anschließen möchten. Im ökumenischen Kontext gibt es mit der Leuenberger Konkordie oder der Basisformel des Ökumenischen Rates der Kirchen Beispiele dafür, wie Trennendes überwunden werden kann bzw. wie Kirchen unterschiedlicher Bekenntnisse eine gemeinsame Basis beschreiben können.

Gesellschaftliche Wirkung

Im Falle eines gelingenden Miteinanders werden Kirchengemeinden - in konkreter Aktualisierung des Evangeliums von der grenzüberschreitenden Zuwendung Gottes zu allen Menschen - zu Modellen integrativen Zusammenlebens und interkulturellen Lernens werden. Insofern wird die evangelische Kirche vom Auftrag des Evangeliums her auch in diesem Zusammenhang wichtige Impulse in die zunehmend multiethnisch geprägte Zivilgesellschaft hinein senden und einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft leisten. Zugleich macht die evangelische Kirche damit konkret auch das möglich, was sie unter anderem in der bundesweiten Interkulturellen Woche im Blick auf gesellschaftliche Integration Jahr für Jahr thematisiert.

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