Gemeinsam evangelisch!

Erfahrungen, theologische Orientierungen, EKD-Text 119, Hrg. EKD, 2014, ISBN 978-3-87843-033-9

4 Theologisch-ekklesiologische Orientierungen

„...die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“

Viele Gliedkirchen der EKD haben Perspektivprozesse eingeleitet, in denen sie die Herausforderungen für ihren Auftrag angesichts veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen reflektieren und Konsequenzen für die Wahrnehmung des kirchlichen Auftrags ziehen. Die Entwicklung hin zu einer immer stärker multikulturell und religiös plural geprägten Gesellschaft spielt dabei eine wichtige Rolle. Gleichzeitig wird danach gefragt, wie das Evangelium in einer solchen Situation so ausgerichtet werden kann, dass es immer noch „alles Volk“ erreicht.[3]

Zu dem Volk, das heute in Deutschland lebt, gehören auch Migranten aus vielen Teilen der Welt. Die Universalität des Auftrags der Kirche, wie Barmen VI sie beschreibt, bedeutet daher für die Kirchen in Deutschland, diesen Teil des Volkes - der insbesondere in Ballungsräumen bereits einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmacht - in ihrer Verkündigung und Seelsorge, in ihrem missionarischen und ökumenischen Engagement sowie ihrer kulturellen Vielfalt ernst zu nehmen und einzubeziehen. Es gilt gleichzeitig, das Engagement von christlichen Migranten und deren missionarischen Anspruch in die eigenen Überlegungen einzubeziehen. Der Auftrag, „Zeugnis zu geben von der Hoffnung, die in uns ist“ gilt für die EKD und ihre Gliedkirchen in gleichem Maße wie für Christen, Gemeinden und Kirchen aus unterschiedlichen Traditionen, Sprachen und kulturellen Hintergründen. Dies setzt ein Verständnis von Volkskirche voraus, das der kulturellen Vielgestaltigkeit und Internationalität der Gesellschaft in Deutschland gerecht wird.

Die Kirche, die wir im Glaubensbekenntnis bekennen, ist unteilbar

Der dritte Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses (die heilige christliche Kirche ...) hat die „geglaubte Kirche“ zum Gegenstand, über die wir nicht verfügen und die wir nicht gestalten können. Aber dürfen wir nicht darauf hoffen, dass mitten in unserem Leben, in den unterschiedlichen Gestalten von Kirche, in den verschiedenen „Christentümern“ aus vielen Ländern und Kulturen etwas von dieser einen Kirche aufscheint, die universal ist und unsere Vorstellung weit übersteigt?

Kirche-Sein nach evangelischem Verständnis:
Vielfalt leben von Anfang an

Das theologische Stichwort von der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ ist trotz aller auch bestehenden Anfragen zu einem Charakteristikum innerprotestantischer Ökumene in Europa und darüber hinaus geworden. Bislang sind es jedoch vorwiegend in Europa beheimatete Kirchen, die sich etwa in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa oder der Konferenz Europäischer Kirchen (wobei es durch die Kommission der Kirchen für Migranten in Europa eine wesentlich deutlichere Wahrnehmung von Gemeinden anderer Sprache und Herkunft gibt) beteiligen können.

Viele Texte des Neuen Testaments bezeugen transkulturelle Übergangsprozesse in der Phase der Verbreitung des christlichen Glaubens. Insbesondere die Briefe des Paulus sind geprägt davon, die jüdische Tradition im Kern zu wahren und doch im Licht des Glaubens an Jesus Christus neu zu verstehen und auf alle Völker zu beziehen; er hat sich mit Philosophien und Weltanschauungen aus der hellenistischen Welt auseinandergesetzt und sie da, wo es ihm möglich erschien, aufgenommen. Immer wieder erkennen wir im Neuen Testament die Frage, welche religiösen Grundsätze und Bräuche erhalten werden müssen und wo - gerade durch das Hinzukommen der „Anderen“, der „Heiden“ - Traditionen und theologische Überzeugungen sich öffnen und neu interpretiert werden können. Diver-sität ist demnach nicht ein zum Entstehen des Christentums hinzukommender Faktor, sondern eine Essenz der werdenden Kirche!

Auch christliche Solidarität ist von Anfang an grenzüberschreitend, worauf die von Paulus initiierte Kollekte der „Heidenchristen“ für die „Judenchristen“ hinweist. Die Schärfe der Differenzen zwischen Christen aus unterschiedlichen Traditionen wird im Neuen Testament nicht unterschlagen oder verschwiegen. Gleichzeitig aber besteht für Paulus kein Zweifel, dass die einen wie die anderen gleichberechtigt zum Leib Christi gehören.

Sobald jemand sich zu Christus bekennt, kann es nach der Vorstellung des Paulus keine Ausgrenzungen geben (Gal 3,28). Es mag zwar zu theologischen Differenzen kommen (wie zwischen Petrus und Paulus) und zu innergemeindlichen Machtkämpfen, wie Paulus sie mit vielen Schmerzen erlebt hat; es mag ungebührliches und diskriminierendes Verhalten geben (wie im Streit um die Mahlpraxis) - und das muss auch Konsequenzen haben: Da muss Klarheit geschaffen werden, da wird mit Leidenschaft gestritten und geklagt. Da kämpft Paulus um den Bestand und die Einheit der Gemeinden, auch um sein eigenes Ansehen und seine Stellung. Bei all dem aber bleibt es der eine Leib Christi, in dem so viele verschiedene Aufgaben und Fähigkeiten integriert sind, dass alle aufeinander angewiesen bleiben.

Kirche als Gemeinschaft der Herausgerufenen

Die Bibel ist ein Buch voller Migrationsgeschichten: Am Beginn der Geschichte Gottes mit seinem Volk steht nichts anderes als der Ruf zur Migration. Abrahams Berufung zur Auswanderung aus Ur in Chaldäa ist kein Zufall, sondern charakterisiert das Gottesvolk des Alten und des Neuen Testaments. Es besteht aus Menschen, die in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ekklesia aus geografischen, familiären und kulturellen Bezügen herausgerufen wurden und die zu einem neuen Land unterwegs sind.

Auch die Geschichte des Volkes Israel beginnt mit Flucht und Migration. Der Exodus, der Auszug aus Ägypten, ist die zentrale, identitätsstiftende Gotteserfahrung der Israeliten. Auch wenn schon längst sesshaft, soll das Volk sich stets daran erinnern (vgl. Dtn 26, 5-9).

Im Neuen Testament setzt sich diese Linie fort. Jesus selbst erlebte nach der Überlieferung des Matthäusevangeliums als Kind Flucht und Exil. Auch als Erwachsener war er nicht sesshaft: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“ (Mt 8,20 und Lk 9,58)

Die Ausbreitung des Evangeliums nach Pfingsten geschieht durch Migration. Die Apostelgeschichte (Apg 11,19ff) beschreibt, wie diejenigen, die aufgrund von Auseinandersetzungen Jerusalem verlassen mussten, zum ersten Mal auch außerhalb jüdischer Kreise von Christus predigten.

Das ganze Neue Testament spricht schließlich davon, dass der Glaube Menschen in Bewegung setzt und sie zu Heimatlosen macht, die nicht mehr länger zum Ort ihrer Herkunft gehören: „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebr. 13,14) Die Kirche versteht sich als Gemeinschaft der Herausgerufenen, als wanderndes Gottesvolk.

Schon 1961 schrieb der holländische Theologe de Jong: „Ein Glaubender ist ein Migrant. Zahlreich sind die Anspielungen auf diese Wahrheit im Neuen Testament und in der frühen Kirche. Aber als die Kirche sich etablierte, wurde das nicht mehr länger betont. Das Schicksal der Millionen Flüchtlinge heute sollte die Kirche aufwecken, dieses essentielle Kennzeichen ihrer Existenz wieder zu entdecken.“[4]

Die Einwanderung von Christen in unser Land ist der Anlass, uns daran zu erinnern, dass Christen in theologischer Hinsicht allesamt Heimatlose sind. Wir sind nicht länger zuallererst Bürger unseres Landes, sondern haben unser „Bürgerrecht im Himmel“ (Phil. 3,20), wie Paulus schreibt, und sind damit Fremde in dieser Welt - egal ob wir noch dort leben, wo wir geboren sind, oder ob wir in ein neues Land eingewandert sind.

In der ökumenischen Beziehung zu Gemeinden anderer Sprache und Herkunft geht es also darum, die Trennung zwischen „Einheimischen“ und „Zugewanderten“ aufzuheben. In unserer Art zu glauben und unseren Glauben zu leben sind wir alle durch unsere jeweilige Kultur, Herkunft und Geschichte geprägt. Doch ungeachtet aller Unterschiede sind Christen hineingetauft in eine weltweite Gemeinschaft, die jede politische, geografische und kulturelle Zuordnung unterläuft: Wir sind alle Fremde und Heimatlose in dieser Welt, aber Bürger des Reiches Gottes.

Auch nach evangelischem Verständnis ist die eine Kirche universal

„Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden, wie Paulus sagt: Ein Leib und ein Geist, wie ihr berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe (Eph 4,4.5).“

Mit den hier zitierten Worten der Confessio Augustana (CA VII) schlägt das Augsburger Bekenntnis den Bogen von der „geglaubten“ einen Kirche hin zur Präsenz dieser einen Kirche Jesu Christi in unserer Welt. Die Predigt des Evangeliums und die Feier der Sakramente „dem göttlichen Wort gemäß“ sind gleichzeitig Erkennungszeichen der wahren Kirche - und von Christen in aller Welt erfahrbar. Diese wahre Kirche überspannt die Zeiten - sie soll allezeit sein und bleiben - und sie überspannt die von Menschen gezogenen bzw. erlebten Grenzen. Die Kirche, die sich aus Gottes Wort speist, drängt auf die Verkündigung und Weitergabe dieses Wortes in Verkündigung und Sakrament. Die Kirche ist gemäß CA nur universal denkbar. Die klaren, wenigen Bedingungen, an denen in der CA die wahre Kirche gemessen und erkannt wird, deuten darauf hin, dass sie bereits auf eine Überwindung bestehender Grenzen zielt. Auch wenn wohl im 16. Jahrhundert nicht der „ganze bewohnte Erdkreis“ im Blick war, wie wir ihn heute wahrnehmen und verstehen, liegt es in ihrer Konsequenz, den weltweiten Horizont in den Blick zu nehmen.

Die Leuenberger Konkordie baut auf diesem Abschnitt der CA ihr Verständnis von Kirchengemeinschaft auf, das sich auf „die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und die rechte Verwaltung der Sakramente“ gründet. Die Leuenberger Konkordie hat damit eine theologische Grundlage geschaffen, die eine Verständigung bisher getrennter Kirchen ermöglichte und diese in die Kirchengemeinschaft hineinführte. Angesichts der Herausforderungen unserer Zeit ist daher weiter zu fragen, inwieweit die durch die Leuenberger Konkordie und dadurch möglich gewordenen Prozesse hin zur Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa heute helfen können bei der theologischen Verhältnisbestimmung zu christlichen Gemeinden anderer Sprache und Herkunft.

Auch wenn die Kirche nicht von dieser Welt ist, so lebt sie doch in dieser Welt - mit all ihren kulturellen, sprachlichen und sozialen Bedingungen. EKD und Gliedkirchen können aufgrund der CA in diesem Sinn auch die jeweils eigene Gestalt von Kirche und ihre „Zeremonien“ in ihrer Begrenztheit, ihrer Partikularität und kulturellen Determinierung entdecken. Hier haben womöglich die evangelischen Landeskirchen noch einen weiten Weg vor sich.[5] Für viele von ihnen ist es noch nicht selbstverständlich, die eigene kulturelle Gebundenheit bewusst wahrzunehmen. Der Diskurs darüber, wie sehr unser kultureller Kontext in Beziehung steht zu unserer Art, mit biblischen Texten und theologischen Ansätzen umzugehen, bedarf daher einer Intensivierung. Die mit der theologischen und kulturellen Verschiedenheit vieler Gemeinden anderer Sprache und Herkunft verbundenen Herausforderungen (z. B. durch ein dämonisches Weltbild) können eine solche Auseinandersetzung befördern.

Grundsätzlich liegen hier große Chancen für die verfassten Kirchen in Deutschland, da mit den christlichen Migranten auch Kirchen aus aller Welt in Deutschland präsent sind, die dabei helfen können, Auftrag und Dienst der eigenen Kirche neu zu bedenken und das eigene Verständnis des Evangeliums zu weiten - mit dem Wissen, dass auch das unsere kulturell geprägt ist.

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