Gemeinsam evangelisch!

Erfahrungen, theologische Orientierungen, EKD-Text 119, Hrg. EKD, 2014, ISBN 978-3-87843-033-9

5 Empfehlungen für die EKD und ihre Gliedkirchen

1. Gemeindeformen weiterentwickeln

Die Kirche Jesu Christi lebt in unterschiedlichen Sozialgestalten. Diese haben sich über die Zeiten hinweg immer wieder verändert und weiter entwickelt. Neben Parochialgemeinden gibt es bereits die Rechtsform von Anstaltsgemeinden und Personalgemeinden. Es gibt Gemeinden, die sich an besonderen Orten (Hochschulgemeinden) bilden oder bestimmte Gruppen zusammenführen (Militärgemeinden). An solche Formen kann angeknüpft werden, wenn es um christliche Migranten geht. Dabei wird es notwendig sein, für unterschiedliche Situationen die jeweils entsprechende Lösung zu finden. Dies kann zum Beispiel bedeuten, dass eine Gemeinde anderer Sprache und Herkunft eine „eigene“ Gemeinde in einer Landeskirche bildet (Anstalts- oder Personalgemeinde) oder dass sie eine „Gemeindegruppe“ in einer bestehenden landeskirchlichen Parochie wird. Einige Möglichkeiten werden im Folgenden genannt, weitere Konkretionen finden sich im Anhang.

Dabei geht es vor allem darum, vonseiten der evangelischen Kirchen in Deutschland nach guten Modellen für ein Miteinander zu suchen und einladend auf Gemeinden anderer Sprache und Herkunft zuzugehen. Dies wird nicht in allen Fällen dazu führen, dass Gemeinden anderer Sprache und Herkunft diese Möglichkeiten auch nutzen - wichtig ist jedoch, dass ihnen Möglichkeiten eröffnet werden, wie sie mit einheimischen Gemeinden „gemeinsam Kirche sein“ können.

Maßnahmen:

  • Citykirchen oder Personalgemeinden werden von Anfang an international ausgerichtet. In solchen Gemeinden gibt es Gottesdienste mit mehrsprachigen Elementen oder Simultanübersetzungen als reguläres Angebot. In den Gestaltungselementen spiegelt sich der internationale und interkulturelle Ansatz wider.
  • Bestehende kirchenrechtliche Möglichkeiten in den Kirchenordnungen für Gemeindeformen jenseits der Parochie werden angewandt.
  • Die bestehenden Möglichkeiten, wie sie die Kirchenordnungen einzelner Landeskirchen einräumen (wie z. B. das Modell der Gemeindegruppe in Württemberg, EKHN-Anstaltsgemeinden sowie Personalgemeinden in Baden) werden EKD-weit kommuniziert und zur Nachahmung empfohlen.
  • In Ballungsräumen und Großstädten wird jeweils eine internationale Gemeinde unter landeskirchlicher Schirmherrschaft gegründet und betreut.

Erste Schritte:

  • Informationen über mögliche Gemeindeformen in den Landeskirchen werden unter Beteiligung der verschiedenen Ressorts (z. B. in Form von Handreichungen, Fortbildungen, Citykirchenkonferenz) verbreitet.
  • Die kirchlichen Grundordnungen werden auf Möglichkeiten für andere Gemeindeformen hin überprüft und bei Bedarf werden öffnende Klauseln durch Synodenbeschlüsse aufgenommen.
  • Kirchenkreise/Dekanate in Ballungsräumen entwickeln in Zusammenarbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft internationale Gottesdienste, die mehrsprachig abgehalten werden. Solche Gottesdienste können im monatlichen bzw. zweiwöchentlichen Rhythmus z. B. in einer Citykirche oder einer anderen größeren Gemeinde angeboten werden.
  • In Großstädten werden Pilotprojekte („Leuchttürme“) internationaler Gemeinden gegründet. Ihre Arbeit wird intensiv professionell begleitet und regelmäßig ausgewertet. Die Ergebnisse werden veröffentlicht.

2. Integration von Gemeinden anderer Sprache und Herkunft vor Ort stärken

Viele Gemeinden anderer Sprache und Herkunft - insbesondere neupfingstlicher Prägung aus Afrika - verstehen sich nicht als Kirchen(gemeinden), sondern als ministries, d. h. Dienstgemeinschaften mit einem besonderen ethnischen Zuschnitt. Es wäre denkbar, dass evangelische Kirchengemeinden in Stadtteilen mit einem höheren Anteil von Christen aus einer bestimmten Herkunftsregion entsprechende ministries als Bestandteil ihrer eigenen Gemeindearbeit erachten, sie als solche integrieren und sie mit dem leitenden Pastor ein Beschäftigungsverhältnis etwa auf Honorarbasis eingehen. Gleichzeitig würden die Mitglieder der Gemeinde anderer Sprache und Herkunft dazu eingeladen, einer evangelischen Landeskirche beizutreten.

Maßnahmen
:

  • Ei nmal im Monat predigt der Pastor/Gemeindeleiter aus einer Gemeinde anderer Sprache und Herkunft im deutschen Gottesdienst; umgekehrt predigt der deutsche Pfarrer einmal monatlich in der Gemeinde des Gastpredigers.
  • Choraustausch: Ein Chor aus einer Gemeinde anderer Sprache und Herkunft gestaltet den deutschen Gottesdienst mit; der Chor der deutschen Gemeinde erwidert den Besuch und gestaltet den Gottesdienst in einer Gemeinde anderer Sprache und Herkunft.
  • Jugendliche beider Gemeinden bereiten sich zusammen auf die Konfirmation vor.


Erste Schritte:

  • Kirchengemeinden suchen Kontakt zu den in ihrer Nachbarschaft oder in ihrem Stadtteil lebenden Gemeinden anderer Sprache und Herkunft.
  • Menschen aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft werden eingeladen, im Konfirmandenunterricht über ihr Leben und ihren Glauben zu erzählen. Die Konfirmandengruppe wird eingeladen, gemeinsam mit ihren Eltern einmal den Gottesdienst der Gemeinde anderer Sprache und Herkunft zu besuchen. Dieser Besuch wird durch das Konfirmandenunterrichts-Team der deutschen Gemeinde vor- und nachbereitet sowie begleitet.
  • Gemeindegruppen und Kreise laden Menschen aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft ein, eine Veranstaltung gemeinsam zu gestalten

3. Geistliche anderer Sprache und Herkunft gewinnen, theologische Ausbildung reformieren, Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen im Ausland vereinfachen und interkulturelle Dimensionen in Studium und Ausbildung abbilden

In der EKD und ihren Gliedkirchen gibt es bislang kaum Pastoren anderer Sprache und Herkunft, die ihren Dienst gleichberechtigt mit einheimischen Kollegen tun. Hoch sind die Hürden für die Anerkennung von ausländischen Examina und Ausbildungsabschlüssen. Im Gespräch mit Theologen aus anderen Ländern und Kulturen konnte sich die Ad-hoc-Kommission davon überzeugen, wie langwierig und kompliziert der Weg für diejenigen ist, die sich für den Dienst in einer Gliedkirche der EKD interessieren. In vielen Fällen werden ihre Examina und Berufserfahrungen nicht anerkannt, weitere Aus- oder Fortbildungen empfohlen, die dann wiederum dennoch nicht zur Anerkennung und Aufnahme in den Pfarr-dienst führen. Oft gehen zehn Jahre und mehr ins Land, bis der Dienst in einer Landeskirche möglich wird. Faktisch werden so viele qualifizierte Personen abgeschreckt, die den Pfarrdienst bereichern könnten und die das Bild einer evangelischen Kirche als einer für alle in Deutschland lebenden Christen offenen Kirche glaubhaft machen würden. Eine erhebliche Zahl der Theologen anderer Sprache und Herkunft wendet sich daher Angeboten von Frei- und Pfingstkirchen zu.

Gleichzeitig sind die verfassten evangelischen Landeskirchen in Deutschland dabei, für das Theologiestudium und den Pfarrdienst zu werben. Die Gliedkirchen stehen bereits vor einer Konkurrenzsituation, in der Theologiestudierende umworben werden und die Gefahr besteht, dass nicht alle zur Verfügung stehenden Pfarrstellen auch qualifiziert besetzt werden können. Auch deshalb müssen die evangelischen Kirchen in Deutschland ein vitales Interesse an der Gewinnung von Pfarrern aus anderen Ländern und Kulturen haben. Dabei wird eine solide akademische Ausbildung vorausgesetzt.

Die Gesellschaft in Deutschland ist längst geprägt vom Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft, Religion und Kultur. Sowohl die interkulturelle Kompetenz der in Deutschland aufgewachsenen Geistlichen als auch die Integration von Gemeindeleitern aus anderen Kontexten kann den evangelischen Kirchen in Deutschland helfen, ihre gesellschaftliche Rolle angemessen wahrzunehmen.

Im Rahmen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa hat ein internationaler Verständigungsprozess über die „Ausbildung zum ordinationsgebundenen Amt“ begonnen. Dieser kann genutzt werden, um die Fragen einzutragen und zu klären, die aus der Perspektive von Theologen anderer Sprache und Herkunft bedeutsam sind.

Jeder Schritt in die hier vorgeschlagene Richtung wird auch die evangelischen Landeskirchen in Deutschland selbst, ihre Ausbildung und ihre Pfarrerschaft verändern. Deshalb müssen Maßnahmen zur Gewinnung und Integration von Theologen aus anderen Kontexten begleitet sein von einer Förderung der interkulturellen Kompetenz aller Geistlichen und der Schaffung von Orten gemeinsamer theologischer Reflexion im Austausch unterschiedlicher kultureller Traditionen.

Es bedarf einer klaren Willensbildung und konkreter Schritte, damit Geistliche aus anderen Ländern und Kulturen künftig erkennbar zum Profil der EKD und ihrer Gliedkirchen gehören.

Maßnahmen:

  • Werbung um Theologen anderer Sprache und Herkunft;
  • Finanzielle und ideelle Unterstützung (Stipendien, Begleitung) von Abiturienten aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft beim Zugang zum Studium der Evangelischen Theologie;
  • Klärung von Ausnahmeregelungen im Hinblick auf Personen, deren akademische und/oder praktische theologische Ausbildung nicht den in Deutschland geltenden Voraussetzungen entspricht;
  • Zugänge zum Pfarramt durch Angebote des Zweiten Bildungsweges ausbauen (wie beispielsweise in Württemberg), eventuell auch berufsbegleitend (wie das Angebot der Philippsuniversität Marburg);
  • Angebote für Pastoren von Gemeinden anderer Sprache und Herkunft zur Fortbildung in Homiletik, Seelsorge, Pädagogik, Verwaltung (auch unabhängig von dem Ziel, in den Dienst einer Landeskirche einzutreten);
  • Ordination von Pastoren aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft ins Ehrenamt nach entsprechender Fortbildung;
  • Zugang zu Prädikantenkursen für Personen aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, ggf. vorgeschaltete Vorbereitungskurse;
  • eigenen Pfarrern internationale/interkulturelle Erfahrungen ermöglichen (Auslandsstudium, Auslandspraktika, Auslandsvikariat, Spezialvikariat);
  • Anwerbung von Studierenden aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft für das Studium der Religionspädagogik und Möglichkeit zur Erlangung der vocatio für den Schulunterricht;
  • Erweiterung der Curricula in Theologiestudium, Vikariat und berufsbegleitenden Fortbildungen um (gemeinsames) ökumenisches und interkulturelles Lernen;
  • Ergänzung der Curricula und Ausbildungsprogramme für die unterschiedlichen Dienste der Kirchen, insbesondere im Kinder- und Jugendbereich, mit dem Ziel ihrer interkulturellen Öffnung;
  • Ausweitung der ACK-Klausel für Mitarbeitende in Kirche und Diakonie auf Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, die den Gliedkirchen der EKD, ihren Gemeinden und Dekanaten/Kirchenkreisen partnerschaftlich verbunden sind.

Erste Schritte:

  • Verständigung über die hier vorgeschlagenen Ziele und Maßnahmen in der Konferenz der Ausbildungsreferenten der EKD;
  • Klärung der regelhaften Zugangsvoraussetzungen zu Vikariat und Pfarrdienst entsprechend des von der GEKE-Studie „Ausbildung zum ordinationsgebundenen Amt“ vorgegebenen Rahmens;
  • Willensbildung im Rat der EKD und der Kirchenkonferenz, aktiv um Theologen aus anderen Kontexten zu werben.

4. Christliche Migranten als haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter gewinnen, fördern und in Entscheidungsprozesse einbeziehen

Auch wenn es im Bereich der Diakonie bereits zahlreiche Mitarbeitende mit Migrationshintergrund gibt, so sind bei EKD und Gliedkirchen bislang keine systematischen Bemühungen erkennbar, christliche Migranten als Mitarbeitende zu gewinnen. Dies gilt sowohl für den ehrenamtlichen als auch für den hauptamtlichen Bereich.

Dies führt dazu, dass diese Personengruppe in die Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse der Landeskirchen ebenso wenig einbezogen ist wie in deren Alltagsleben. Synodale anderer Sprache und Herkunft sind bundesweit die Ausnahme und meist nur durch Berufung durch die Kirchenleitungen zu diesem Ehrenamt gekommen. Es wird kaum überlegt, wie man Christen mit Migrationshintergrund zur ehrenamtlichen Mitarbeit, auch in Entscheidungsgremien gewinnen kann. Stattdessen werden christliche Migranten nur bei besonderen Anlässen wahrgenommen (Ökumenisches Pfingstfest, Gemeindefest, Internationale Konvente).

In Gemeinde- oder Dekanatsbüros oder Kirchenverwaltungen/Landeskirchenäm-tern trifft man Migrantinnen (denn es sind vor allem Frauen) selten an, am häufigsten noch als Reinigungskräfte.

Dabei könnten Gemeinden, Dekanate und Einrichtungen von Kirche und Diakonie von Mitarbeitenden mit einer anderen kulturellen und sprachlichen Herkunft stark profitieren. Als Gemeindepädagogen und Jugendreferenten, in kirchlicher/ diakonischer Sozialarbeit und vielen anderen Arbeitsfeldern würden sie ihre besondere Kompetenz als „Wandler zwischen den Welten“, vielleicht auch als

Brückenbauer, einbringen und gleichzeitig vermitteln, dass evangelische Kirche in sich vielfältig, ja international ist.

Im Blick auf viele andere kirchliche Tätigkeiten erweisen sich die sogenannte ACK-Klausel und solche an die Loyalitätsrichtlinie angelehnten Regelungen der Gliedkirchen faktisch noch immer als Hürden bei der Anstellung von Christen anderer Sprache und Herkunft, auch wenn sie teilweise von der Realität längst überholt sind. Um solche Geschwister, deren Gemeinden (noch) nicht der ACK angehören, für den kirchlichen Arbeitsmarkt zu gewinnen, sollten künftig weitere Kriterien zur Geltung gebracht werden, die sich z. B. auf verbindliche Mitarbeit und Erfahrungen in ökumenischen Beziehungen stützen (z. B. Mitgliedschaft der Gemeinde in einem Internationalen Konvent).

Maßnahmen:

  • Systematisches Bemühen um die Einbeziehung von Christen anderer Sprache und Herkunft als ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter;
  • Klärung der Präsenz/des Status/der Anerkennung von Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft im Rahmen der ACK;
  • Fortbildungs-/Förderangebote für Christen anderer Sprache und Herkunft öffnen;
  • Werbung von christlichen Migranten für das Studium der Gemeindepädagogik;
  • Einrichtung von Mentorenprogrammen und gezielten Stipendien.


Erste Schritte:

  • Verständigung über die hier vorgeschlagenen Ziele in bestehenden Gremien (z. B. Personalreferentenkonferenz der EKD);
  • Sondierungsgespräche mit Verantwortlichen für die ACK unter Einbeziehung von Fachleuten aus dem Bereich „Gemeinden anderer Sprache und Herkunft“ und ggf. des Konfessionskundlichen Instituts;
  • Klärung rechtlicher Voraussetzungen für die Mitwirkung christlicher Migranten in Gremien der evangelischen Landeskirchen in Deutschland (wenn keine direkte Mitgliedschaft vorliegt), verstärkte Nutzung von Berufungen, Hinzuziehung zur Beratung, Gaststatus;
  • Stärkere Akzentuierung der Gewinnung von Christen anderer Sprache und Herkunft in allen Überlegungen zur „Interkulturellen Öffnung“;
  • Zusammenstellung und Veröffentlichung von Beispielen gelungener Mitarbeit christlicher Migranten.

5. Für Jugendarbeit sensibilisieren

Kinder und Jugendliche sind die Zukunft eines Landes, heißt es im Volksmund. Bedingt durch demografischen Wandel wird diese Zukunft allerdings in dieser Hinsicht anders als erwartet ausfallen, denn bereits jetzt haben in deutschen Großstädten 50 % der Kinder und Jugendlichen Migrationshintergrund. Selten gehören sie zu einer Gemeinde deutscher Herkunft, viel eher sind sie Mitglied in einer Gemeinde anderer Sprache und Herkunft. Eine Beobachtung, die derzeit bereits gemacht werden kann, zeigt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund selten in landeskirchlichen Gemeinden ihr spirituelles Zuhause gefunden haben und dass sie sich obendrein oft von ihren Mutterkirchen, die nach wie vor in den Traditionen des ursprünglichen Heimatlandes verankert sind, abwenden. Der demografische Wandel kann von großer Bedeutung und als Chance für die Zukunft der Landeskirchen angesehen werden, wenn sie nach wie vor Volkskirche sein wollen, nämlich eine Kirche für alles Volk!

Es zeichnet sich allerdings innerhalb der Gemeinden anderer Sprache und Herkunft ein Bruch zwischen der ersten Generation und der zweiten und dritten Generation ab. Diese Kinder und Jugendlichen sitzen „zwischen den Stühlen“ und können von daher am ehesten als „Third Culture Kids“ [6] bezeichnet werden. Ähnliches gilt für Kinder aus interkulturellen Familien. Auch wenn diese durch verschiedene Kulturen und Traditionen geprägt sind, ist eins sicher: Sie sehen ihre Zukunft in Deutschland und haben mit ihrer interkulturellen Kompetenz eine wichtige Brückenfunktion innerhalb der Gesellschaft.

In der Arbeit mit Jugendlichen eröffnen sich optimale Probierfelder, denen sich die Landeskirchen gerade unter den genannten Bedingungen sinnvollerweise verstärkt zuwenden sollten (wie bereits die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend mit Kooperationsprojekten sowie die ökumenische Gemeinschaft Himmelsfels mit ihren Begegnungsforen).

Es sollte bewusst ein Gestaltungsraum zur Verfügung gestellt werden, gestützt durch ein zweckgebundenes Budget sowie personelle Ausstattung, die z. B. mit Patenschaften von Personen vor Ort wahrgenommen werden kann. Gerade in Zeiten von leer stehenden Immobilien könnten hier bewusst Räume zu solchen Probierfeldern werden. In jeder Großstadt könnte eine kirchliche Immobilie einer internationalen christlichen Jugendkirche Raum schenken, in der die jungen Erwachsenen Einflüsse und Traditionen in ihr kirchliches Zusammensein einfließen lassen können.

Maßnahmen:

  • Orte des Miteinanders werden ermöglicht. In den einzelnen Großstädten werden Kirchen zur Verfügung gestellt.
  • Zu mindest die Anschubfinanzierung ist gewährleistet.
  • Schulungen für bzw. mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind vorgesehen.
  • Ein Patensystem wird ins Leben gerufen, welche diese Zielgruppe bei ihrer Pionierarbeit unterstützt.
  • Botschafter werden gewonnen, die im deutschen Kontext neue transkulturelle Projekte initiieren und umsetzen. Diese werden mit einem Förderpreis der EKD geehrt.
  • Kirchliche Jugendverbände verstärken ihre Kontakte zu Gemeinden anderer Sprache und Herkunft und unterstützen Jugendliche bei der Institutionalisierung, Fortbildung und der Gewinnung von Zuschüssen.

Erste Schritte:

  • Es wird geprüft, in welchen Großstädten ein Kirchengebäude für eine solche internationale Gemeinde, die von jungen Erwachsenen geleitet wird, zur Verfügung gestellt werden kann.
  • Zweckgebundene Finanzen werden bereitgestellt.
  • Die Ausbildung zur Erlangung der JugendLeiterCard wird explizit für Jugendliche aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft angeboten.
  • Jugendliche aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft werden bei Gremienarbeit und Delegationen beteiligt.


6. Kultursensible Seelsorge ausbauen

In den Arbeitsfeldern der besonderen Seelsorgedienste wie in Krankenhäusern und Gefängnissen stoßen Seelsorger auf Christen unterschiedlicher kultureller Herkunft in biografischen Krisensituationen. In der sich entwickelnden Schulseelsorge und der Altenheimseelsorge geht es zunehmend um die Begleitung des Alltags von Menschen verschiedener christlicher Herkunft. Für viele christliche Migranten spielt der Glaube bei der Bewältigung des Alltags und in Krisen eine erheblich größere Rolle, als es üblicherweise in unserer Gesellschaft der Fall ist. Ihre Wahrnehmung der jeweiligen Situation und ihr Verhalten sind außerdem stark durch die jeweilige kulturelle Prägung beeinflusst. Diese ist für Seelsorger eine große Herausforderung, da sie in der Regel eine an den Bedürfnissen und kulturellen Codes einer deutsch geprägten Bevölkerung orientierte Ausbildung durchlaufen haben. In Institutionen wie z. B. Krankenhäusern erwarten Patienten mit Migrationshintergrund, ihre Familien, aber auch das Personal eine fachkundige und einfühlsame Begleitung. Dafür müssen Seelsorger in kultursensibler Seelsorge ausgebildet werden, ebenso wie im Blick auf die Begleitung von bikulturellen Ehen, Partnerschaften und Familien.

Die verschiedenen Seelsorgedienste müssen für die unterschiedlichen Bedürfnisse von Christen anderer Sprache und Herkunft sensibilisiert werden. Besonders mit Themen wie Krankheit, Schuld und Strafe wird z. B. in Westafrika anders umgegangen als in Deutschland. Hier geht es um einen erheblich weiteren Begriff der Seelsorge, als es unsere Ansätze bieten. Dies muss in Zukunft zum fachlichen Grundwissen von Seelsorgern gehören.

Neben der Sensibilisierung für die kulturellen und theologischen Muster im Umgang mit bestimmten Situationen spielen die landeskirchlichen Seelsorgedienste für die Ausbildung geschulter Seelsorger in den Gemeinden anderer Sprache und Herkunft eine wichtige Rolle. In Fragen der interkulturellen Sensibilisierung können geschulte Seelsorger aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft als Kulturvermittler bei Fortbildungen des Personals im Krankenhaus oder Gefängnis eine wichtige Rolle spielen.

Maßnahmen:

  • Entwicklung von Fortbildungen in kultursensibler Seelsorge für landeskirchliche Krankenhaus-, Gefängnis-, Altenheim- und Schulseelsorger auch als Bestandteil gängiger Ausbildungsmodelle wie z. B. der Klinischen Seelsorgeausbildung (KSA)
  • Angebote von Seelsorge-Seminaren für Pastoren sowie Verantwortungsträger aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, die besonders die Spannung z. B. zwischen dem mitteleuropäischen Krankenhaussystem und traditionellem Umgang mit Krankheit in der jeweiligen Herkunftskultur thematisieren;
  • Seelsorger aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft werden als wichtige Ansprechpartner in den Krankenhäusern, Gefängnissen und Altenheimen bekannt gemacht. Hierfür wird ein verlässliches System entwickelt, das ihnen einen einfachen Zugang zu den Menschen ermöglicht und in enger Absprache mit den landeskirchlichen Seelsorgediensten geschieht.

Erste Schritte:

  • In den Fachkonferenzen und Konventen der verschiedenen Seelsorgedienste findet ein Verständigungsprozess über die hier vorgeschlagenen Ziele und Maßnahmen statt.
  • Ansätze kultursensibler Seelsorge werden in studienbegleitende Seelsorgepraktika aufgenommen.
  • Interkulturelle Kompetenz wird bereits im Theologie-Studium verankert und als prüfungsrelevant angesehen.
  • Die praktische Ausbildungsphase wird auf interkulturelle Aspekte der Seelsorge erweitert.

7. Missionarische Potentiale ernst nehmen

Während die diakonische Arbeit der EKD-Gliedkirchen Migranten seit vielen Jahren intensiv im Blick hat, zielt das missionarische und evangelistische Engagement der Kirchen fast ausnahmslos auf die einheimische Bevölkerung. Das hat nicht zuletzt darin seine Ursache, dass Evangelisierung oft als die Aktivierung und/oder engere gemeindliche Anbindung kirchenferner Mitglieder verstanden wird (wie zum Beispiel die 2012 laufende Kampagne der „Kurse zum Glauben“ zeigt). Fakt ist, dass bei allem wachsenden Bewusstsein für die sich auffächernden Milieus in Deutschland der Fokus auf den deutschen Milieus liegt; eine kirchliche Auseinandersetzung mit den Migranten-Milieus[7] hat bisher nicht stattgefunden.[8]

Nicht-christliche Migranten werden innerhalb der EKD in den seltensten Fällen als Zielgruppe missionarischer Aktivitäten beschrieben (Mission unter Migranten findet sich jedoch gelegentlich im freikirchlichen Kontext sowie im Kontext der evangelischen Allianz).[9] Nur sehr vereinzelt werden missionarische Gemeinden anderer Sprache und Herkunft als Partner der missionarischen Arbeit deutscher Kirchen, Werke und Gemeinden wahrgenommen. Die Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste hat weder Mitglieder aus dem Bereich von Gemeinden anderer Sprache und Herkunft oder Migrant Ministries, noch sucht sie den Kontakt zu ihnen. Die Koalition für Evangelisation, ein breiteres Bündnis aus Werken und Verbänden aus dem gesamten landes- und freikirchlichen Spektrum, versucht seit einigen Jahren aktiv, diese Gemeinden in ihre Arbeit einzubeziehen und hat deshalb zwei Pastoren aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft in ihren Leitungskreis berufen. Dies hat jedoch bisher noch nicht zu einer breiteren Zusammenarbeit führen können.

Mission und Evangelisation werden in Migrationskirchen jeweils sehr unterschiedlich bewertet und gelebt. Während protestantische Gemeinden ihre Mission oft im Rahmen von Gemeinschaft und Bewahrung einer Herkunftsidentität beschreiben, sehen pfingstlich-charismatische Gemeinden ihre Mission in der (Re-) Evangelisierung Deutschlands und in der Gewinnung neuer Mitglieder für ihre Gemeinden. Die Methoden einer solchen Evangelisierung, die von TraktatVerteilung und Straßenevangelisation bis zu „Miracle Crusades“ reichen, sind häufig unreflektiert aus der Herkunftssituation übernommen und für landeskirchliche Gemeinden oft befremdlich, sodass es nur selten zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit in missionarischen oder evangelistischen Projekten und Programmen kommt.[10]

Eine missionarische Volkskirche, die im Anschluss an Barmen VI ihren Auftrag darin sieht, das Evangelium „allem Volk“ zu verkündigen, muss sich allerdings fragen lassen, ob sie nicht auch Migranten als Adressaten ihrer Botschaft ernst nehmen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft trotz der oben beschriebenen Schwierigkeiten als Partner in ihrer Mission willkommen heißen muss. Gemeinsame missionarisch-evangelistische Aktivitäten von Einheimischen und Migranten setzen dabei voraus, dass sich eine Gemeinde oder Gruppe bereits grundlegend für Menschen aus anderen kulturellen und ethnischen Hintergründen geöffnet hat.

Erste Schritte auf diesem Weg werden nicht einfach sein und brauchen Geduld und Einfühlungsvermögen auf beiden Seiten. Gemeinsame missionarische Projekte und Programme werden am ehesten dort zu verwirklichen sein, wo bereits Kontakte zwischen einer Migrationsgemeinde und einer deutschen Kirchengemeinde oder einem Kirchenkreis bestehen.

Eine grundsätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass deutsche landeskirchliche Gemeinden ihre missionarisch-evangelistische Arbeit oft stark konzeptionsgesteuert und zielgruppenorientiert angehen - ein Vorgehen, das viele Gemeinden anderer Sprache und Herkunft nicht oder nur schwer nachvollziehen können.

Vermutlich werden sich tiefere Gemeinsamkeiten erst zwischen christlichen Migranten der zweiten Generation und deutschen Gemeinden, die sich interkulturell geöffnet haben, finden lassen.

Maßnahmen:

  • Einbeziehung von Menschen mit Migrationshintergrund und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft in die missionarische Jugendarbeit: Hier wird es nötig sein, das Misstrauen in Migrationsgemeinden gegenüber „westlicher Unmoral“ abzubauen. Diskussionen und Verständigung über Werte und Erziehungsziele sind als Grundlage unerlässlich.
  • Das Potential von Gemeinden anderer Sprache und Herkunft nutzen, wenn es um Kontakt zu bildungsfernen Milieus und ausgegrenzten Menschengruppen (Obdachlose, Drogensüchtige etc.) geht: Dies könnte vor allem für Innen-stadtparochien interessant sein.
  • Wahrnehmung von Gemeinden anderer Sprache und Herkunft bei der Konzeptentwicklung „Mission in der Region“: Hier müsste die Initiative vom EKD-Zentrum „Mission in der Region“ oder von landeskirchlichen Ämtern für missionarische Dienste ausgehen. Statt Gemeinden anderer Sprache und Herkunft einzuladen, ist zunächst eine aufsuchende Haltung gefordert. Diese verlangt erheblich mehr Zeit und Einsatz von beteiligten Mitarbeitenden, ist aber langfristig fruchtbar.
  • Einbeziehung von Menschen mit Migrationshintergrund und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft in Stadtkirchentage, Nächte der offenen Kirchen usw.: Dies geschieht an vielen Orten bereits mit wachsendem Erfolg, braucht aber intensive Vorbereitung und Begleitung.

8. Nachhaltige Strukturen schaffen

Um die hier aufgeführten Maßnahmen angehen zu können, ist ein „MigrationMainstreaming“ im Hinblick auf die Gemeinschaft mit Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft unerlässlich. Dabei bedarf es des Kontaktes und der Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen in den kirchlichen Arbeitsfeldern, die bislang wenig mit der Thematik befasst waren.

Folgende Aufgaben sollten darüber hinaus in den Blick genommen werden:

  • Prüfen, mit welchen Gemeinden anderer Sprache und Herkunft bzw. deren Heimatkirchen theologische Erklärungen erarbeitet und entsprechende Vereinbarungen z. B. über Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft sowie Anerkennung der Ämter getroffen werden könnten;
  • In diesem Zusammenhang prüfen, inwiefern die bereits gesammelten Erfahrungen im Prozess bis zur Leuenberger Kirchengemeinschaft hilfreich sein können;
  • Prüfen, ob eine Überarbeitung des Mitgliedschaftsrechtes der EKD hilfreich sein könnte für eine Öffnung hin zu christlichen Migranten bzw. ihren Gemeinden;
  • Unterschiedliche Modelle des Verhältnisses von Ortsgemeinden bzw. Landeskirchen gegenüber Gemeinden anderer Sprache und Herkunft bzw. deren Herkunftskirchen prüfen, beschreiben und eine Handreichung dazu erarbeiten; dabei sind Erfahrungen der Gliedkirchen und von Gemeinden anderer Sprache und Herkunft aufzunehmen.

Das Ziel, sich mit Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft als „Gemeinsam evangelisch!“ zu verstehen und einander in Zeugnis und Dienst zu stärken, ist eine Herausforderung, die nicht nebenher bewältigt werden kann. Dafür braucht es Nachhaltigkeit, Engagement, Zeit und Geduld, auch eine hohe Frustrationstoleranz. Daher empfiehlt es sich, dass die EKD und ihre Gliedkirchen in naher Zukunft die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass das gemeinsame evangelische Zeugnis in der deutschen Einwanderungsgesellschaft authentisch und glaubwürdig gestärkt werden kann. Entsprechende Vorschläge werden den Entscheidungsgremien der EKD zeitnah vorgelegt.

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