Gemeinsam evangelisch!

Erfahrungen, theologische Orientierungen, EKD-Text 119, Hrg. EKD, 2014, ISBN 978-3-87843-033-9

Vorwort

Viele Christinnen und Christen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen leben in Deutschland. Nicht zuletzt aufgrund aktueller Fluchtbewegungen wird ihre Zahl in den kommenden Jahren noch steigen. Diese Christinnen und Christen bilden hier eigene Gemeinden. Unter den Migrantinnen und Migranten, die in unser Land kommen, stellen sie einen weit höheren Anteil als viele vermuten. So zeigt etwa der Hessische Integrationsmonitor von 2010, dass mehr als zwei Drittel der Einwandernden einer christlichen Gemeinschaft angehören. Dies ist jedoch in den evangelischen Kirchen in Deutschland bislang kaum wahrgenommen worden. Daher ist es Zeit, neu zu bedenken, wie sie selbst in einer - auch christlich - vielfältig kulturell geprägten Gesellschaft die »Botschaft von der freien Gnade Gottes allem Volk ausrichten« können (vgl. Barmen VI).

Die evangelischen Kirchen in Deutschland und die EKD blicken auf eine langjährige Erfahrung in der Begegnung und der Zusammenarbeit mit »Gemeinden anderer Sprache und Herkunft« zurück. Es gibt viele gute Beispiele gelingenden Zusammenlebens, die von gegenseitigem Respekt geprägt sind und von der Bereitschaft, voneinander zu lernen. Und doch geschieht das gemeindliche Leben vielerorts eher in einem Nebeneinander als in einem Miteinander. Die einheimischen Kirchen sehen Gemeinden anderer Sprache und Herkunft oft zuerst als die »Anderen«, denen man mit Gastfreundschaft und diakonisch motivierter Hilfsbereitschaft begegnet. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung sind die EKD und ihre Gliedkirchen und die eingewanderten Christinnen und Christen und ihre Gemeinden bislang kaum als Geschwister im Glauben erkennbar.

Die Rahmenbedingungen für eine engere Kooperation oder gar die Integration einzelner Gemeinden anderer Sprache und Herkunft sind überschaubar, ebenso wie die für die Anerkennung von theologischen Ausbildungen und Abschlüssen im Ausland. Aus der Perspektive vieler Christen und Gemeinden aus anderen Ländern und Kulturen erscheinen die EKD und ihre Gliedkirchen im Umgang mit ihnen häufig zurückhaltend. Auch deshalb wählen viele von ihnen den Weg in die Zusammenschlüsse von Frei- oder Pfingstkirchen.

Mit dem Titel des vorliegenden Textes »Gemeinsam evangelisch!« wird den evangelischen Kirchen in Deutschland ein neues theologisches Paradigma im Hinblick auf die mit uns lebenden evangelischen Gläubigen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft empfohlen. Dabei kann von einem »Mentalitätswandel« gesprochen werden. Denn ein solcher Wandel ist notwendig für die Neubestimmung des Verhältnisses evangelischer Christen und Kirchen in Deutschland zu den hier lebenden Geschwistern und ihren Gemeinden, trotz oder gerade wegen der kulturellen Vielfalt.

Daraus folgt, dass das gemeinsame Zeugnis und der gemeinsame Dienst aller hier lebenden Christen und Kirchen gestärkt werden muss, die unmittelbar oder mittelbar aus der Reformation hervorgegangen sind. Die Zusammenarbeit mit Christen und Gemeinden anderer Sprache und Herkunft kann daher nicht länger die Angelegenheit weniger landeskirchlicher Experten sein. Vielmehr ist eine Neuorientierung in allen kirchlichen Arbeitsbereichen erforderlich.

Der Bericht der vom Rat der EKD eingesetzten Ad-hoc-Kommission zur Zukunft der Arbeit mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft (2011- 2014) legt eine theologische und ekklesiologische Begründung vor, die uns die zugewanderten Christen als unsere Geschwister erkennen lässt. Sie macht deutlich, dass praktizierte ökumenische Gastfreundschaft gut und hilfreich sein kann, um Begegnungen zu ermöglichen. Zugleich plädiert die Kommission dafür, das theologische Paradigma von der Hausgenossenschaft Gottes (Eph 2,19) weiterzuentwickeln, um das Verhältnis zwischen einheimischen und zugewanderten Christen in der pluralen Gesellschaft zu beschreiben.

Die Kommission beschreibt die Chancen und Möglichkeiten, die sich aus einer engeren Zusammenarbeit ergeben und gibt Empfehlungen für erste Schritte auf diesem Weg - zum Beispiel für Gemeindemodelle, für gemeinsame theologische Arbeit sowie für die Gewinnung von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden und Geistlichen. Sie verdeutlicht aber auch, dass der notwendige Wandel strukturelle Unterstützung benötigt, um die anstehenden Aufgaben für die EKD und ihre Gliedkirchen zu bewältigen.

In der Ad-hoc-Kommission haben neben Fachleuten aus den Gliedkirchen der EKD auch Personen aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft mitgearbeitet. Die Kommission hat während einer Konsultation erste Ergebnisse ihrer Arbeit vorgestellt. Das Thema »Gemeinsam evangelisch!« und die damit verbundene grundlegende theologische und praktische Neuorientierung wurde von den Teilnehmenden aus Gemeinden anderer Sprache und Herkunft sowie aus den Gliedkirchen als befreiend und zukunftsweisend erlebt. Sie lässt die abgrenzenden und tendenziell ausschließenden Konnotationen bisheriger Begriffe hinter sich. Denn auch der Begriff Gemeinden anderer Sprache und Herkunft - wiewohl er ja bereits das Ergebnis eines langen Lernprozesses darstellt - stößt an Grenzen, wenn es um das Verhältnis unter Geschwistern geht. Der Text ermutigt dazu, in allen Bereichen kirchlichen Lebens herauszufinden, was es bedeutet, gemeinsam evangelisch zu sein. Er ist damit der erste Schritt und die Eröffnung eines noch zu findenden und gemeinsam zu entwickelnden Weges, zu dem er uns und die Geschwister in den Gemeinden anderer Sprache und Herkunft ermutigen möchte.

Im Namen des Rates der EKD danke ich der Ad-hoc-Kommission für ihre engagierte, kenntnisreiche und zukunftsorientierte Arbeit. Ich wünsche mir, dass der Text von vielen Verantwortlichen in der EKD und ihren Gliedkirchen aus unterschiedlichen Bereichen und Ebenen gelesen und als Anregung für ihre Arbeit angenommen wird.

Wo immer wir als evangelische Kirchen gemeinsam mit unseren Geschwistern aus anderen Sprachen und Kulturen wahrgenommen werden, dient dies der Glaubwürdigkeit unseres Zeugnisses und ist darüber hinaus ein wichtiges Signal für die Chancen des Zusammenlebens in einer multikulturellen Gesellschaft.


Hannover, im Oktober 2014

Dr. h. c. Nikolaus Schneider
Vorsitzender des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland

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