Predigt zur Jahreslosung am Sonntag "Exaudi" in Halle an der Saale
Thies Gundlach
Gnade sei mit uns und Friede...
Liebe Gemeinde,
was würden Sie sagen; wo ist ihre Heimat? Sind Sie in Halle beheimatet oder Gäste und Durchreisende? Und wenn Sie in Halle Heimat gefunden haben, warum eigentlich? Was macht das Heimatliche aus? Kennen Sie die Straßen, Plätze und Wege besonders gut? Oder die Menschen und Nachbarn? Oder gar die Halloren-Kugeln, die Sie stolz machen? Oder haben sie seit Kindertagen verfolgt, wie alles geworden ist, wie es gewachsen ist und dann zerstört und dann wieder neu entstanden ist? Was ist Heimat? Wo sind wir zu Hause?
Oder ist Heimat etwas Ausstehendes? Wie formulierte noch der große Pfälzer Sohn Ernst Bloch in seinem berühmten Diktum am Ende seines dreibändigen Werk "Das Prinzip Hoffnung": "Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat." Ist Heimat also eine Utopie, ein unmöglicher Ort, fern in der Zukunft?
Aber reicht das? Denn dies andere stimmt ja auch: Je schneller die Veränderungen in unserer Welt, je dynamischer die Kommunikation durchs Internet, je dramatischer die Mobilität in die Familien und Beziehungen, desto wichtiger wird die Heimat, desto verzweifelter wird das Festhalten an vorhandenen Beheimatungen. Man kann auch etwas abgekürzt formulieren: Je mehr Europa, desto mehr Halle an der Saale! Je mehr weltweit, desto mehr Halle-Silberhöhe! Es sei denn, wir können diesen einen, wunderbaren Satz von Georg Turner selbst sagen, jener Salzburger Protestant, der erzählt hat von der Auswanderung der Protestanten 1732 aus dem Salzburger Land, von ihrer Ansiedlung in Ostpreußen und ihrer Vertreibung 1944/45 und der seinen Erzählungen den Titel gab: "Die Heimat nehmen wir mit".
Heimat ist immer auch Heimatgeruch und Heimatmusik, Stammtisch und Schrebergarten, Landschaftsfarben und Wolkenformationen, Essgewohnheiten und Trinkrituale, aus dieser Heimat kann niemand vertreiben werden. Doch damit ist zugleich auch die Gefahr von Heimat genannt: Die Rede von der Heimat ist geistlich gesehen auch gefährdete Rede. Denn wenn die Kirchen kein "Heimatverein" werden wollen, und uns keine Heimattümelei als Glaubensinhalt begegnen soll, dann muss immer auch an die überzeitliche Heimat bei Gott im Himmel erinnert werden. Wir sind immer auch Heimatvertriebene in dieser Welt! Wir sind an keine Grenze gebunden, auf keine Geographie festgelegt, mit keiner Situation auf ewig verheiratet, weil Gott unsere Heimat ist. Es hängt das Seelenheil nicht an dieser oder jener Heimat in Halle oder sonst wo, sondern an Gott und seiner Heimat für uns.
II.
Das ist der harte Erinnerungskern der Jahreslosung 2013: "Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir!" (Hebr 13, 14). Denn gemeint ist mit der zukünftigen Stadt natürlich die himmlische Heimat, das himmlische Jerusalem. Jene Stadt, in der wir zusammen mit Gott wohnen und er uns tröstet, eben das neue Jerusalem (Off 21):
1 Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. 3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Und wir Christen singen in einem der schönsten Lieder des Gesangbuches von dieser zukünftigen Heimatstadt: "Jerusalem, du hochgebaute Stadt, ich wollt ich wäre in Dir..." (Strophe 1 + 2)
III.
Aber was bedeutet diese Erinnerung an die zukünftige Heimat bei Gott? Schauen Sie einmal die Herkunftszeit des eben gesungenen Liedes: 1622. Damals konnte man auf diese Frage nach dem Sinn der Zukunftshoffnung relativ klar antworten:
Das Leben auf dieser Erde war in der Regel ziemlich kurz, ziemlich schwer und ziemlich brutal - mitten im dreißigjährigen Krieg. Man musste viel arbeiten und starb früh. Das zukünftige, das himmlische Leben erschien wie ein Trost, wie ein Ort des Ausgleichs, das schwere, ungerechte Leben hier wurde ausgeglichen mit einem gütigen, trostvollen Leben dort.
Wir aufgeklärten Christen heute lächeln vielleicht etwas darüber, uns ist diese Jenseitshoffnung im Laufe des 19. Jahrhunderts und dem Trommelfeuer von Marx, Feuerbach und Freud wie Sand in den Finger zerronnen. Aber wenn man sich nur für einen kurzen Moment hineindenkt, besser "hineinglaubt" in jene Hoffnung auf die zukünftige Stadt Jerusalem, die uns Gerechtigkeit bringt und Ausgleich für die Leiden, dann versteht man die Sehnsucht der Menschen nach dieser zukünftigen Stadt auch mit dem Herzen und dem inwendigen Menschen.
Und manchmal, liebe Gemeinde, ahne ich, wie schwer der Verlust ist, den wir Menschen ertragen müssen, wenn wir nicht auf eine zukünftige Stadt, auf das himmlische Jerusalem, auf eine Heimat bei Gott hoffen wollen oder können. Denn es gibt nicht wenige kluge Köpfe auch jenseits unserer Kirchen, die uns (post-) moderne Menschen in einer doppelten Gefangenschaft sehen: Wir haben keinen offenen Himmel über uns, aber auch keine offene Zukunft vor uns, weder der Glaube an Gott noch der Glaube an den Fortschritt ist uns geblieben. Eine zukünftige Stadt ist uns doppelt abhanden gekommen: Unser Morgen ist zu einer Ansammlung von erwarteten Katastrophen geworden, sei es Klimakatastrophe oder Atomkatastrophe oder Energiekatastrophe oder irgendeine andere Katastrophe. Und wir haben keinen offenen Himmel mehr über uns, aus dem uns Gott begleitet und bestärkt, aus dem er uns ansieht und wir so ein Ansehen haben.
Die Folgen dieser doppelten Gefangenschaft sind uns allen bekannt: Das diesseitige Leben wird absolut. Es entscheidet sich alles heute, jetzt und sofort. Es legt sich eine unerhörte Last auf das Leben, es muss aus ihm alles herausgepresst werden jetzt, gleich und sofort, damit es als sinnvoll und erfüllt gelten kann. Ohne den Himmel über uns und eine offene Zukunft vor uns legen wir alle existentielle Bedeutung auf das Hier und Jetzt und machen es uns so furchtbar schwer. Weil es keinen Gott im Himmel gibt, der uns Achtung und Ansehen schenkt, müssen wir beides selbst herstellen und kämpfen bis zur Erschöpfung um die Anerkennung der anderen. Und weil wir keine zukünftige Stadt mehr vor uns haben, deswegen muss ich heute, hier und jetzt Recht haben und Recht bekommen, ich werde zum Selbstrechtfertiger. Oder - wie Martin Walser jüngst in seinem kleinen Büchlein "Rechtfertigung" geschrieben hat - es wird aus einer Welt ohne Gottes Rechtfertigung eine Welt der Rechthaber.
IV.
Doch so einleuchtend diese Beobachtungen zur doppelten Gefangenschaft unserer Zeit und ihre Folgen sind, so wenig schaffen solche Hinweise den Glauben an eine zukünftige Heimat.
Dieser Glaube blitzt erst auf, wenn wir Gott tatsächlich unsere Heimat sein lassen, wenn wir ihm zutrauen, dass er uns auch schon heute, hier und jetzt zu beheimaten weiß. Wenn wir Gott mehr vertrauen als unseren eigenen Erfahrungen, dann kann uns der Glaube auch eine offene Zukunft bei Gott schenken. Denn dann wissen wir, wir haben hier keine bleibende Stadt, wir haben hier keine bleibende Situation, wir sind nirgends so festgeschrieben und so zwangsverortet, dass wir in einer bleibenden Stadt leben müssen. Keine Krankheit, kein Kummer, keine Lüge und keine Enttäuschung muss uns eine bleibende Stadt werden. Wir können in Gott und mit Gott eine Tür ins Freie finden aus jeder Situation, die uns auf Dauer gefangen nehmen will. Wir haben hier keine bleibende Stadt, das ist auch die Freiheit der Kinder Gottes, die sich nicht einsperren lassen in den eigenen Pessimismus, in die eigene Wehleidigkeit. Die Freiheit der Kinder Gottes, die sich nicht gefangenlegen in den eigenen Vorurteilen, die es sich bequem machen in den Urteilen über andere und über sich selbst.
Wir haben keine bleibende Stadt, das heißt auch: Wir sind als Christen bleibend unterwegs! Wir ziehen wie Abraham aus unseren vermeintlich bleibenden Städten und suchen eine zukünftige Stadt, die uns Heimat wird. Wir suchen Gottes Gegenwart und seinen Geist auch nicht nur in immer den gleichen Bahnen, sondern suchen einen zukünftigen Ort, der neu und frisch und anders und überraschend Gottes Gegenwart spiegelt. Denn auch Gott zieht nicht immer die gleichen Bahnen, er wandert mit uns, er will sich finden lassen auch jenseits der bleibenden Städte, die wir so gerne bewohnen, weil wir da alles immer schon kennen.
Wir haben hier keine bleibenden Stadt, liebe Gemeinde, das ist der Ruf der Freiheit zu einer Beheimatung im Wandern und Aufbruch. Gott schenkt uns eine Zukunft, weil er selbst die Zukunft ist. Und deswegen können wie Georg Turner sagen: "Die Heimat nehmen wir mit".
Amen