Predigt im Gottesdienst in Hannover-Herrenhausen

Thies Gundlach

 „Wenn der Hausherr aufgestanden ist und die Tür verschlossen hat und ihr anfangt, draußen zu stehen und an die Tür zu klopfen und zu sagen: Herr, tu uns auf! - dann wird er antworten und zu euch sagen: Ich kenne euch nicht; wo seid ihr her? 26 Dann werdet ihr anfangen zu sagen: Wir haben vor dir gegessen und getrunken und auf unsern Straßen hast du gelehrt. 27 Und er wird zu euch sagen: Ich kenne euch nicht; wo seid ihr her? Weicht alle von mir, ihr Übeltäter! 28 Da wird Heulen und Zähneklappern sein, wenn ihr sehen werdet Abraham, Isaak und Jakob und alle Propheten im Reich Gottes, euch aber hinaus gestoßen.“
(Lukas 13, 25 – 28)

Liebe Gemeinde,

das ist schon schweres Geschütz, Hardcore-Evangelium, wenn man diesen Text überhaupt noch Evangelium nennen mag. Es gibt ein "to late", ein "zu spät", alle Chancen verspielt, selbst wenn man nicht auf seine Werke und Leistungen verweist, sondern nur auf die bescheidene Tatsache, dass der Herr ja mich und Dich aufgesucht hatte und in den Straßen gelebt und gelehrt hat, also mich und Dich doch immerhin für so wichtig genommen hat, dass er gekommen ist. Und dennoch: Die Tür ist zu, der Zug ist abgefahren, alles Betteln und Bitten nützt nichts, „ich kenne euch nicht, ich weiß nicht, woher du bist“. Starker Tobak. „Kommt her, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“, das ist der andere Christus, der einladende, weiche, gütige, sammelnde Christus. Und ich gestehe, der ist mir lieber. Manchmal muss man dann eben mit der Bibel gegen die Bibel argumentieren, haben wir ja gerade bei der Orientierungshilfe zu Ehe und Familie gut geübt.

Ich habe den Eindruck, wir dürfen es uns dieses mit der Bibel gegen die Bibel nicht zu leicht machen. Darum die Frage: welche Tür ist eigentlich geschlossen? Welche Tür ist definitiv zu? Man kann ja durchaus auch vor der falschen Tür stehen oder an die verkehrte Tür klopfen. „Klopfet an, so wird euch aufgetan“, heißt es in der Bergpredigt, aber wenn es die falsche Tür ist? Dann ist alles Klopfen vergeblich …

II.
Und wie vergeblich dies ist, kann man vielleicht an diesem geschlagenen Mann Christian Wulff sehen, der jetzt gerade sein Gerichtsverfahren bekommen hat: Reputation weg, Amt weg, Frau weg, kaum je ist ein Mensch öffentlich so tief gefallen wie dieser ehemalige Bundes- und Ministerpräsident. Was hatte er verbrochen? Sicher, sehr schlau war manche Aktion nicht, auch hat er wohl nicht klar genug Amtliches und Persönliches geschieden, sicher auch sich und seine Bedeutung überschätzt und im falschen Ton auf die falsche Mailbox gesprochen, - aber wie sagte Herr Kubicki in einer Fernsehdebatte: „Dummheit ist an sich nicht strafbar!“

Auch wer unsinnig reagiert und viel zu viel Selbstrechtfertigung an den Tag legt, gehört vielleicht bedauert, aber nicht bestraft. Eine solche Fallhöhe hat all dies nicht verdient.

Eher nachdenklich macht darum die gnadenlose Jagd auf Banalitäten des Lebens von C. Wulff, diese mediale Tribunalisierung, die natürlich immer auch irgendwie im Recht war, weil es die Aufgabe der Presse ist, Bestechlichkeit oder Vorteilsnahme aufzudecken, die aber im Ganzen den Eindruck bei mir zurückgelassen hat: Hier wird so etwas wie Sündensuche gespielt, das Buch des bisherigen Lebens dieses Ministerpräsidenten wird aufgeschlagen und Satz für Satz durchwühlt auf Sünde und Fehler. Jede Zeile dieses Buches wurde studiert, ob nicht doch etwas Anstößiges zu finden sei. Im Grunde haben Medien und Menschen eine Art innerweltliches Endgericht inszeniert, verständlich vielleicht in einer Welt, die Gott ein Endgericht nicht mehr zutraut. Aber wenn Gott nicht das letzte Wort hat über uns, wird es fast unvermeidlich, dass wir Menschen dieses letzte Wort sprechen und selbst Gericht halten übereinander, täglich, überall, in uns und um uns herum. Und in der Regel gnadenloser und kleinlicher als Gott es jemals machen würde.

Wir sind allein auf weiter Flur mit unserem Urteilsbedürfnis, wir sind auch im Umgang mit uns selbst viel zu streng und machen dann die Lippen breit, die Brüste groß, das Bauchfett weg, wir urteilen gerne hart, aber unfair, weil nur ein kritisierter Nachbar ein guter Nachbar ist usw. Ohne Gottes Urteil wird unser Urteilen brutaler, einliniger, stupider, weil dann niemand mehr einspringt und mich in Schutz nimmt, auch vor mir selbst! Es gibt dann keinen Christus mehr – wie die Alten dachten, der sich vor mich stellt, der seinen Mantel der Barmherzigkeit um mich legt, sodass nicht alle Sünden mit bloßem Auge zu erkennen sind. Und genau dies wussten natürlich auch schon die Alten, die Väter und Mütter unseres Glaubens: Das Gericht nach den Werken, das Endgericht ohne den gütigen Christus, ohne den barmherzigen Gott, ohne den freisprechenden Geist ist verheerend, ist „Heulen und Zähneklappern“, ist ein definitives „Zu spät“. Davon handelt unsere kleine Geschichte aus dem Lukasevangelium. Wer an die falsche Tür klopft oder an die Tür falsch klopft, ist verloren.

Deswegen glaube ich, dass dieser längst schon hart bestrafte Christian Wulff in dem jetzt eröffneten Gerichtsverfahren an eine Tür klopft, die nicht zu öffnen ist, die definitiv geschlossen ist. Christian Wulff sucht in diesem Gerichtsverfahren etwas, was nur Gott ihm geben kann, einen Freispruch anderer Art, die ihm seine innere Würde, seine Selbstachtung, seinen aufrechten Gang trotz Amts- und Ansehensverlust zurückgibt. Er wird diese innere Heilung, die seelische Gesundung seines so mühevollen Weges nicht vom Gericht bekommen – selbst wenn dieses Gericht ihm dies wirklich gerne geben wollte. Er steht an der definitiven Grenze dessen, was eine Rechtsprechung kann. Er wird diese innere Akzeptanz seines Weges nicht in dieser Welt finden, vielleicht nicht einmal, weil diese Welt sie ihm nicht geben will oder nicht gönnt, sondern weil sie diese Befreiung nicht geben kann.

III.
In dieser Geschichte des C. Wulff liegt etwas Grundsätzliches, was mich gerade an diesem Buß- und Bettag geistlich besonders nachdenklich macht. Denn wie sollten wir unseren Glauben explizieren, wie sollen wir von der Befreiung durch Gottes Gnade erzählen, wenn wir in einem Zeitalter der falschen Türen angekommen sind? Denn der Weg zum Gericht, den C. Wulff eingeschlagen hat, ist ja auch das Eingeständnis, dass er sich keiner Sünde bewusst ist oder bewusst sein will, dass er keine Schuld auf sich geladen hat, dass er vielleicht nicht fehlerfrei, aber doch unschuldig sei, und dass er diese Unschuld anerkannt wissen will. Ich glaube, in dieser Sehnsucht nach Schuldlosigkeit liegt etwas ganz Typisches für unsere Zeit: Wir wollen es nicht gewesen sein, in der Familie nicht, im Beruf nicht, in der Politik nicht. Hatten andere Jahrhunderte ein vielleicht sogar zu deutlich ausgeprägtes Sündenbewusstsein, man wird unsere Zeit dahin charakterisieren müssen, dass wir zwar untereinander viel und gerne Schuld verteilen, dass wir aber ein Sündenbewusstsein verloren haben. Schuld haben immer die anderen, Sünde als ein Wissen um die eigene Verantwortlichkeit ist zu einer „bedrohten Lebenshaltung“ geworden.

Und klar ist, wenn das existentielle Schuldbewusstsein schwächelt, schwächelt auch die Sehnsucht nach Güte und Barmherzigkeit. Warum auch, brauche ich ja nicht, bin ja o.k., bin ohne Sünde und kann im Zweifelsfall mich selbst rechtfertigen – wie die Deutsche Bahn: „Wir entschuldigen uns für die Verspätung!“. Doch was bedeutet das eigentlich für unsere Verkündigung des Evangeliums, das unsere Kernbotschaft von der Erlösung im Zeitalter der Selbstrechtfertigung und Sündlosigkeit gar nicht gebraucht wird? Was bedeutet es für unsere Kommunikation des Evangeliums, wenn unsere Rede von der Güte Gottes und von der Barmherzigkeit Jesu Christi im Gericht unnötig, überflüssig, irrelevant geworden ist? Weil wir in einer Zeit leben, die gar keine Güte vermisst, die selbstgerecht und sündlos ist.

Die eine Folge geht so: Wir Christen verzichten auf die Rede von Schuld und Sünde und machen das Evangelium zur Steigerungsmedizin, wir optimieren das Glücklichsein, das Erfolgreichsein, das Gerechtsein, Evangelium ohne Sündenbewusstsein wird zum Steigerungsevangelium, das inhaltlich je nach Geschmack verschieden ausfällt: besser im Beruf, besserer Familienmensch, bessere Führungsfähigkeit, besser Meditieren usw.. Gott und seine Gnade wird auf diese Weise verzweckt, er wird schrecklich nützlich und brauchbar, wunderbar relevant und eine nette Funktion für uns. Ich fürchte sagen zu müssen, dass nach meinem Verständnis Gott gar keine Lust hat, in dieser Weise nützlich und relevant zu sein.

Die andere Folge geht so: Wir suchen nach den Sünden, die man plausibilisieren kann, die man an-demonstrieren kann, die man den Menschen nachweisen kann, auch dies je nach persönlicher Farbe. Individuell, in dem man dieses oder jenes Handeln skandalisiert, indem man den oft ja auch mühseligen und kummervollen Lebensweg an einem abstrakten Ideal misst und das Leben, die Arbeitsbedingungen, die Beziehung sturmreif schießt. Oder man macht die Welt zum Problem, betont die Ungerechtigkeit, die Umweltschäden und die Armut und entfaltet die strukturelle Sünde. Das mag alles sein Recht haben, aber im Ernst berührt diese Sündensuche nicht wirklich, sie ist richtig, aber nicht nah, sie hat Recht, aber berührt nicht.
Wie aber dann? Ich glaube, man muss gerade am Buß- und Bettag diesen uralten, etwas schräg und abständig wirkenden Gedanken der Alten, der Väter und Mütter im Glauben erinnern:
Buße und Umkehr, Schuldbekenntnis und Sündenerkenntnis sind Akte der Freiheit, das Evangelium von der Gnade Gottes zeigt sich auch in der inneren Fähigkeit, seine Schatten wahrzunehmen, Schatten, die nicht nur in den Fehlern, sondern auch in den vermeintlich guten Taten aufleuchten. Das ist das Geheimnis eines geistlichen Buß- und Bettag, dass ich Gott bitte, mir die Wahrheit zu sein, mir die Angst zu nehmen vor meinen Schatten, mich zu halten auch wenn ich in mir selbst verloren zu gehen drohe. Buße traut Gott unendlich viel zu, Buße findet in Gott ein Selbstbewusstsein, das keine Angst vor sich selbst kennt. In diesem Sinne ist der Buß- und Bettag ein Tag der Freiheit eines Christenmenschen und niemandem untertan, keiner Angst, keiner Schuld, keiner Sünde, auch keiner Verurteilung und Tribunalisierung anderer – Gott sei Dank und Amen