Predigt im Trauergottesdienst für Richard von Weizsäcker, Berliner Dom - Berlin

Altbischof Martin Kruse

Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erlöser. (Jesaja 54, Vers 10)

Lasst uns hören auf das Gebet eines Sterbenden (nach Worten von Jörg Zink):

"Herr ich denke zurück. Ich gehe noch einmal den Weg durch alle meine Jahre.

Nicht an meine Leistung denke ich. An das Gute, was du mir getan hast, denke ich und danke dir. An die Menschen, mit denen ich gelebt habe, an alle Freundlichkeit und Liebe, von der ich mehr empfangen habe, als ich wissen kann.

An jeden glücklichen Tag und jede erquickende Nacht. An die Güte, die mich bewahrt hat in den Stunden der Angst und der Verlassenheit. An das Schwere, das ich getragen habe, denke ich. An Jammer und Mühsal, dessen Sinn ich nicht sehen konnte.

Dir lege ich es in die Hand und bitte dich: Wenn ich dir begegne, zeige mir den Sinn.

Ich denke zurück an die vielen Jahre. Mein Werk ist vergangen, meine Träume sind verflogen, aber du bleibst! Lass mich nun im Frieden aufstehen und heimkehren zu Dir, denn ich habe deine Güte gesehen. Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geiste,  wie es war im Anfang,  jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen

Liebe Gemeinde, liebe Marianne von Weizsäcker, liebe Familie, liebe Trauergäste aus Nah und Fern!

Am Sonntag, nach dem Fall der Mauer, am 12. November 1989, besuchte Richard von Weizsäcker den Gottesdienst in der überfüllten Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche.  Draußen vor der Kirche standen etwa 3000 Menschen, wie die Polizei uns wissen ließ, Menschen aus Ost und West. Ein Privatsender hatte sich mit einem Übertragungswagen eingefunden. So konnten auch die 3000 draußen am Gottesdienst teilnehmen.

Ich bat Richard von Weizsäcker, den Bundespräsidenten, er möge doch ein Wort an die Gemeinde richten. Das tat er auch ohne besondere Vorbereitung – wie er in seinen Erinnerungen (Vier Zeiten) schreibt: "eine unbeholfene Mischung aus Laienandacht und Willkommensgruß“. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es “unbeholfen“  war, was er sagte, und die große Gemeinde sicher auch nicht. Er zitierte – ohne eine Bibel zur Hand zu nehmen – aus dem Gedächtnis Worte aus dem Brief des Apostels Paulus an die Galater – wie er schreibt: "jene mir vom Evangelischen Kirchentag ans Herz gewachsene Paulusworte“. So haben wir ihn erlebt: als einen im Glauben verwurzelten Christenmenschen, ganz im Sinne der einprägsamen Worte Luthers:

"Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.

Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“

Die Worte aus dem Galaterbrief möchte ich jetzt verlesen und für uns alle auslegen:

So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat. Und lasset euch nicht wieder in ein knechtisches Joch einfangen. Ihr seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr die Freiheit nicht missbraucht. Euch selbst zu leben. Sondern durch die Liebe diene einer dem andern“. (Galater 5)

Am Nachmittag jenes Sonntags nach dem Fall der Mauer hat Richard von Weizsäcker ein schönes Beispiel der inneren Freiheit gegeben, die ihn bestimmte. Er ging alleine – ohne die üblichen Sicherheitsbegleiter eines Bundespräsidenten – quer über den öden, leeren Potsdamer Platz in Richtung auf die Baracke der Volkspolizei. Man musterte ihn mit dem Fernrohr. Dann löste sich der Kommandoführer, ein Oberstleutnant und sagte: „Herr Bundespräsident, ich melde: Keine besonderen Vorkommnisse!“ Als sei das das Normalste, drei Tage nach dem Fall der Mauer!

Das ist ein heute vielleicht simpel erscheinendes Beispiel für die Freiheit, die er lebte. Aber es steht ja, weiß Gott, nicht für sich allein! Ich erinnere an andere, gewichtigere Beispiele, herausgegriffen aus einer unübersehbaren Vielzahl.

Im Rückblick auf seine Jahre im Amt des Regierenden Bürgermeisters gab er zu erkennen: dies sei das eindrucksvollste Erlebnis in dieser Zeit gewesen. Nämlich Folgendes:

Als Mitglied des Rates der EKD, dem er 15 Jahre lang angehörte, reiste er Ende September 1983, im Lutherjahr, in einer Periode harter Spannungen zwischen Ost und West, zu einem Regionalen Kirchentag nach Wittenberg. Seine kirchlichen Ämter gaben ihm die Chance, immer wieder in die DDR reisen zu können. In Wittenberg sprach er auf dem Marktplatz vor 15.000 Besuchern des Kirchentages. „Vertrauen wagen“ war die zentrale Losung bei den sieben Regionalen Kirchentagen im Lutherjahr. Und das war auch sein Thema; denn wie kann man „in der Freiheit bestehen“ ohne Vertrauen zu wagen?

Eine Woche vorher, am 15. September 1983, gab es ein Zusammentreffen mit Erich Honecker, dem Staatsratsvorsitzenden, in Schloss Hohenschönhausen in Ost-Berlin.

Das trug ihm öffentliche Kritik ein: Er handle leichtfertig, er gefährde den Status West-Berlins.  Aber wer sich heute kundig macht, der erkennt schnell, mit welchem politischen Augenmaß, mit welcher Nüchternheit und zugleich mit welchem Wagemut Richard von Weizsäcker dieses Treffen vorbereitet und das Gespräch geführt hat.

"Ihr seid zur Freiheit berufen. Allein seht zu, dass ihr die Freiheit nicht missbraucht, Euch selbst zu leben. Durch die Liebe diene einer dem andern“. Das war der Kompass, der ihn leitete. Beim Kirchentag in Köln1965, dessen Präsident er war, hat er diese Losung „So bestehet in der Freiheit“ ins Persönliche entfaltet. „Das Evangelium gewährt uns die Hoffnung auf die Zukunft. Aber wir erfassen die lebendige Kraft dieser Hoffnung überhaupt nur im vollen Einsatz für unsere gegenwärtigen Aufgaben. Wir erfahren die Freiheit, in der wir bestehen können nur, wenn wir unsere Lebenskraft mit leidenschaftlicher Beharrlichkeit den heutigen Nöten widmen“. Eine Freiheit ohne Verantwortung, eine selbstsüchtige Freiheit verdient diesen Namen nicht. „Seht zu, dass ihr die Freiheit nicht missbraucht, Euch selbst zu leben“.

Ist es nicht ein Wunder, was Gott an Segen durch ein einziges Menschenleben stiften kann?

Und so kommt in diesen Tagen ein dankbares Echo aus allen Himmelsrichtungen, aus aller Welt zurück auf die Nachricht hin, dass Richard von Weizsäcker an das irdische Ziel seines Lebens gekommen ist.

Er war bei euch, in der Familie zu Hause, wirklich zu Hause. Da fand er in den Unruhen der Zeiten und inmitten der vielen Pflichten die Geborgenheit, die er brauchte, um bestehen zu können, um Mensch zu bleiben. Der Segen, den Gott durch ein Menschenleben stiftet, wird nicht ins Grab gelegt, er wirkt auf spürbare, aber auch verborgene Weise weiter. Das möge euch in aller Trauer trösten und ermutigen. „ Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn; darum wir leben oder sterben, so sind wird des Herrn“, bekennt der Apostel Paulus.

Das bleibt. Das ist gültig über den Tod hinaus. Das gilt hier und dort, für Euch und für ihn. Amen