Hoffnung für Hoffnungslose - Predigt im Ostergottesdienst in St. Matthäus in München

Heinrich Bedford-Strohm

Liebe Gemeinde,

es muss etwas Ungeheuerliches gewesen sein, das, was damals vor knapp 2000 Jahren an diesem Morgen nach dem Passah-Fest in Jerusalem passiert ist. Was immer an diesem Morgen geschehen ist und wie immer es interpretiert werden mag, eines ist sicher: es hat die Welt verändert. Es hat für unzählige Menschen in vielen Jahrhunderten ihr Leben verändert. Es hat Existenzen, die gebeugt waren, wieder aufgerichtet, es hat Herzen, die sich verschlossen haben, wieder geöffnet, es hat Seelen, die müde geworden sind, neue Kraft gegeben.

Und das, was ihnen diese neue Kraft gegeben hat, waren nicht historische Beweise oder naturwissenschaftliche Hypothesen über die Möglichkeit der Auferstehung. Was ihnen Kraft gegeben hat, war das ganz einfache Vertrauen darauf, dass Gottes Möglichkeiten viel größer sind als das, was unser kleines Menschenhirn sich vorstellen kann. Religiös geprägte Menschen sollten sich deshalb von niemandem einreden lassen, ihr Glaube sei etwas Irrationales und wer glaube, müsse seinen Verstand an der Garderobe abgeben.
So richtig es ist, dass der Glaube nichts Unvernünftiges ist, so falsch wäre es nun aber eben auch, den Glauben auf Vernunftargumente zu gründen. Es ist wie mit der Liebe. Kann die Liebe zu einem anderen Menschen jemals darauf gründen, dass es eben Sinn macht und gute Argumente dafür gefunden werden können, diesen Menschen zu lieben? Liebe entsteht anders. Sie entsteht durch eine gemeinsame Geschichte, sie äußert sich in einer Anziehung, die wirkt, ohne dass wir es erklären können.

So ist es mit dem Glauben auch. Er lebt von den Geschichten, die die Bibel erzählt. Er nimmt uns hinein in diese Geschichten. Er macht diese Geschichten zu unseren eigenen Geschichten. Er webt unser eigenes Leben in diese Geschichten hinein. Ganz bestimmt gilt das für diese erstaunliche Geschichte von den Frauen, die am Morgen nach dem Passahfest ans Grab kommen.

Wer könnte sich nicht vorstellen, wie diesen Frauen zumute gewesen sein muss! In doppelter Hinsicht war ihr Herz voll von Trauer. Sie hatten zunächst einmal einen Menschen verloren, den sie sehr lieb hatten. Auch diese Frauen waren „Jüngerinnen Jesu“, sie waren Jesus genau so nah, wie die 12 männlichen Jünger, die in den biblischen Berichten meist im Zentrum stehen. Anders als die männlichen Jünger, waren die Frauen nicht in die Verborgenheit geflüchtet, als Jesus gekreuzigt wurde. Sie waren da. Direkt neben Jesus in seinem Leiden. Markus berichtet, dass Salome und Maria von Magdala und Maria, die Mutter Jesu, schon unter dem Kreuz bei Jesus waren und ihn begleiteten. Und nun kommen sie zum Grab, um ihn zu salben und damit ihre Liebe einmal mehr zum Ausdruck zu bringen. Der Mensch, den sie so lieb gehabt hatten, ist tot. Ich stelle mir vor, dass Jesus den Frauen zuerst einmal
einfach als Mensch fehlte.

Dieses Gefühl kennen alle die unter uns ganz genau, die selbst schon einmal einen solchen lieben Menschen verloren haben. Und es durchleben jetzt all diejenigen, die bei dem Flugzeugabsturz in Frankreich ihre Liebsten verloren haben. Wir kennen dieses Gefühl. Dass wir es nicht fassen können. Dass wir einfach jeden Tag merken, wie dieser Mensch uns fehlt, dass es noch so viel gegeben hätte, was wir gemeinsam hätten machen wollen, manches vielleicht, was wir noch gerne geklärt hätten, dass wir einfach die Lücke so schmerzlich spüren, die dieser Mensch hinterlässt. Ja – die Geschichte von den Frauen am Grab ist unsere eigene Geschichte! Die Frauen am Grab waren aber auch noch in einer anderen Hinsicht voller Trauer. Sie hatten nicht nur einen lieben Menschen verloren. Sie hatten ihre ganze Lebensperspektive verloren. An Jesus war viel mehr geknüpft als Freundschaft und Liebe: die tiefe Sehnsucht nach einem neuen Leben. Einem Leben, in dem die Menschen endlich aufhören, sich zu hassen, ein Leben, in dem das Volk Israel endlich ohne die römischen Besatzer leben kann, ein Leben, in dem endlich Friede wird zwischen den Völkern. Diese Sehnsucht, so müssen es die Frauen empfunden haben, war einmal mehr ins Leere gelaufen.

Viele, die in den letzten Wochen und Monaten für den Frieden gebetet, gehofft und gestritten haben, kennen dieses Gefühl ganz genau. Die Gewalt in Syrien, im Nordirak, in Nigeria, konnte nicht gestoppt, geschweige denn überwunden werden. Die Waffen haben gesprochen. Menschen sind gestorben. Kultur ist beschädigt oder zerstört worden. Und so mancher mag Zweifel haben, ob es überhaupt noch irgendeinen Sinn hat, sich für irgendwelche Ideale einzusetzen. Die Geschichte von den Frauen am Grab ist unsere eigene Geschichte!

Und nun hören wir am heutigen Ostermorgen diese unglaubliche Botschaft: Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden! Das, was eigentlich gar nicht sein kann, ist geschehen! Wenn das stimmt, was da berichtet wird, liebe Gemeinde, - und ich benutze jetzt zunächst bewusst das Wort „wenn“! - wenn das stimmt, dann wird wirklich alles anders! Wenn Jesus auferstanden ist, dann kann er wirklich uns alle, die wir auf ihn schauen wollen, mit ins Leben nehmen. Wenn Jesus auferstanden ist, dann ist die Hoffnung auf den Sieg des Lebens nicht nur das Gerede von Leuten, die die Nichtigkeit des Daseins eben einfach nicht aushalten, sondern sie ist Wirklichkeit! Wenn Jesus auferstanden ist, dann hat Gott ein Ja zu seiner Schöpfung gesprochen, dass durch keine menschliche Gewalt, durch keine Ignoranz, durch keine Verblendung mehr ausgelöscht werden kann!

Aber woher wissen wir, ob das wirklich stimmt, dass Jesus auferstanden ist? Da wir diese Frage stellen, liebe Gemeinde, wird einmal mehr deutlich, dass die Geschichte von den Frauen am Grab, wie Markus sie erzählt, unsere eigene Geschichte ist. Denn die Frauen sehen den auferstandenen Jesus am Grab ja auch nicht. Sie sehen nur das leere Grab, sie sehen nur die Möglichkeit der Auferstehung! Keine DNA-Spuren der Grabtücher oder verlässliche Augenzeugenberichte des Auferstehungsereignisses geben ihnen Gewissheit. Und sie sind entsetzt, denn das ist das letzte, womit sie gerechnet haben. Alles, was sie bekommen, ist ein Hinweis. Der Jüngling im weißen Gewand sagt zu ihnen: „Geht hin und sagt seinen Jüngern..., daß er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat.“

Vertrauen die Frauen auf dieses Versprechen? Vertrauen wir auf dieses Versprechen?

Die Frauen, so entsetzt und benommen sie zuerst sind, haben darauf vertraut. Sie haben die Botschaft von der Auferstehung weitergesagt. Und - das Versprechen ist in Erfüllung gegangen! Ihr Leben ist neu geworden, ihr Leben ist heil geworden und Jesus ist mitten bei ihnen gewesen, als sie zu zweit oder zu dritt oder mit vielen anderen in seinem Namen versammelt waren, als sie ihren Besitz geteilt haben, als sie Brot und Wein miteinander geteilt haben.

Uns allen, liebe Gemeinde hier in der Matthäuskirche, uns allen sind diese Frauen zu Brüdern und Schwestern geworden. Sie haben uns durch das Weitererzählen der Botschaft von der Auferstehung mit in diese neue Gemeinschaft genommen, in der Christus als Freund und Begleiter, als Kraft zum Leben da ist, jeden Tag. Lasst uns das ernst nehmen, was der Mann im weißen Gewand im leeren Grab versprochen hat: „Dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat...“. Lasst uns die Augen offen halten und hinschauen, und, davon bin ich überzeugt! – wir werden ihn sehen!

Wer wälzt uns den Stein weg? – so fragen die Frauen, als sie zum Grab kommen. Und dann ist er schon weggewälzt! Ich lese das als einen Hinweis auf unser eigenes Leben. Wie oft fragen wir: wer wälzt uns den Stein weg? Und dann ist er schon weggewälzt. Wir müssen nur hinschauen!

Vielleicht ist Christus da, wo Menschen überall in der Welt und ganz ohne Aufhebens einander beistehen und sich ganz einfach in Liebe begegnen. Vielleicht ist Christus da, wo Menschen, die den Mut verlieren, plötzlich neue Hoffnung schöpfen. Wo Menschen sich für soziale Gerechtigkeit und für die Überwindung der Gewalt einsetzen und damit Zeichen einer neuen Realität setzen.

Vielleicht ist Christus da, wo Menschen am Ende ihres Lebens die Erfahrung machen, dass nichts sie trennen kann von der Liebe Gottes in Christus. In einer Zeit, in der wir eine politische Diskussion um Sterbehilfe führen, in der angesehene Menschen Demenz als „Verblödung“ bezeichnen können, die dem Leben jeden Wert nimmt, ist es wichtig, Gegengeschichten zu erzählen.

Eine kleine Erfahrung im Pflegeheim hat mich so beeindruckt, dass sie für mich immer mit Ostern verbunden sein wird. Auf der Pflegestation eines Altenheims habe ich an einem Gründonnerstag Abendmahl gefeiert. In dem Raum, an dem die Bewohner der Station sonst essen oder beisammen sitzen, haben wir Brot und Wein geteilt. Und schon während der Liturgie begann eine alte Dame, der die Mediziner vermutlich Demenz bescheinigen würden, immer wieder freudig dazwischenzurufen und ihre Zwischenrufe machten deutlich, dass sie intuitiv genau das verstanden hatte, was die Liturgie zum Ausdruck brachte. Während des Abendmahls hat sie dann mit heiterer Stimme „So nimm denn meine Hände“ vor sich hergesungen, jenes Lied, das in der Regel bei Bestattungen gespielt wird. Sie hatte genau verstanden, dass dieses Lied in der Kraft des Abendmahls zum Loblied wird. Der Tod hatte seine Macht über diese Frau verloren.

Die alte Dame im Pflegeheim, hat schon am Gründonnerstag Ostern entgegengesungen und sie hat damit am allerbesten verstanden, was an diesem Ostermorgen vorgegangen ist, an dem die Frauen das Grab Jesu leer fanden. Mir wird noch immer warm ums Herz, wenn ich an diese Abendmahlsfeier bei den alten Menschen auf der Pflegestation denke. Die dazwischen gerufene und gesungene Predigt der alten Dame ist für mich zu einer der kostbarsten Ostererfahrungen geworden.

Ich glaube, es gibt viele solche Ostererfahrungen in unserem Leben. Aber wir brauchen Augen für sie. Wir brauchen Osteraugen.

Lasst uns mit solchen Osteraugen in diesen Ostersonntag, in diese Woche, in unser ganzes Leben gehen! Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen