Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis in der Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis, Hannover
Thies Gundlach
Gnade sei mit uns und Friede von Gott unseren Vater und unserem Herren JC. Amen
Liebe Gemeinde,
kennen Sie das Wort Erwartungsmanagement? Wikipedia hilft - dort lautet eine lakonische Definition: „Erwartungen und deren Erfüllung sind eine essentielle Grundlage für Zusammenleben und Zusammenarbeit. Dabei zielt die Erfüllung auf Zufriedenheit, die Übererfüllung auf Überraschung und die Untererfüllung führt zur Unzufriedenheit oder Ent-Täuschung, also dem Ende von Täuschungen.“ Und ein kluger Mensch (Karlheinz Wolfgang) bringt die Gefahren insbesondere von unausgesprochenen Erwartungen auf den Punkt: „Erwartungen sind einseitige Verträge, von denen der andere nichts weiß!“
Das dürften wir alle aus unseren Beziehungen und Erziehungen kennen; enttäuschte Erwartungen, die den unausgesprochenen Erwartungen auf dem Fuße folgen und das sicherste Mittel für Beziehungskrisen oder Erziehungsnot. Wir kennen das auch aus Gesellschaft, Kirche und Politik: Erwartungen, dass Neue sich uns anpassen? Ich glaube, es ist schon ein erster Schritt zur Integration, wenn man seine Erwartungen transparent macht, vernehmbar nennt und sichtbar kommuniziert. Erwartungen sind dann keine einseitigen Verträge mehr, sondern zweiseitige Verabredungen, auf die man sich gemeinsam bezieht. Das ist zu Hause hilfreich, auch in der Arbeit eines Kirchenvorstandes und in der großen Politik.
Aber es gibt nicht nur unausgesprochene Erwartungen, sondern auch übererfüllte Erwartungen; das nennen dann viele von uns ein gelungenes Weihnachtsfest! Das Umgekehrte aber kennen wir alle auch – Weihnachtsgeschenke als Krisenphänomen!
Erwartungsmanagement ist also nicht nur für Politik und Wirtschaftsunternehmen, sondern auch für Freundschaften, Ehen und Partnerschaften eine zentrale Kunst. Man muss die Erwartungen so dimensionieren/kalibrieren, dass Zufriedenheit das Ergebnis ist.
Man kann nun getrost behaupten, dass die Bibel im Blick auf Erwartungsmanagement völlig versagt, - gerade in der Erzählung von der Geburt des Johannes. Denn – wie wir in der Evangeliumslesung eben gehört haben – verbindet Vater Zacharias mit der Geburt seines Sohn und der gelungenen Namensgebung als „Johannes“ nicht gerade unbescheidene Erwartungen: „dass er uns errettete von unsern Feinden, und aus der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund und an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, dass wir, erlöst aus der Hand unsrer Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen.“
Dass die Nachbarn dann fragen: Was will aus dem Kindlein werden? kann man gut verstehen - viel größer geht es ja nicht! Etwas mehr Realismus, Papa Zacharia, etwas mehr Bescheidenheit, etwas mehr Zurückhaltung hätte der Sache gut getan. Aber dann kommt zum Glück die überraschende Wende; es geht gar nicht um Johannes, sondern um Jesus Christus, den Johannes nur ankündigen soll – Erwartungsmanagement als Delegation: „Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest …“. Das ist nun gelungenes Erwartungsmanagement, runter mit der Erwartung, auf einen anderen zeigen, der es schaffen soll, weg von sich selbst, demütig auf einen Späteren verweisen, so macht man das, wenn man den Druck aus dem System nehmen will.
Aber im Hintergrund dieses Erwartungsmanagement - liebe Gemeinde - steht eine ganz robuste Auseinandersetzung im damaligen Israel. Denn wir dürfen uns diese Geschichte – in Kurzform: Johannes ist der Vorläufer des Jesus – nicht zu harmlos vorstellen. Sie ist natürlich nicht der Anfang, sondern das Ende einer langen Auseinandersetzungsgeschichte zwischen Johannes- und Jesusjüngern. Die Bibel erzählt diese Geburtsgeschichten des Johannes natürlich im Rückblick. Der Evangelist Lukas schreibt um etwa um 90 nach Christus, also etwa 50 Jahre nach Jesu Tod am Kreuz. Wenn wir es übertragen auf heute, hieße dass, dass wir die Geschichten des Jahre 1966 aufschreiben, also etwa die Anfänge der Beatles – aber ohne Wikipedia, ohne Lexika und Bilddokumenten! Es ist klar, Lukas schreibt nicht auf, wie es wirklich war, sondern wie es ihm erzählt und berichtet wurde. Es sind Geschichten aus zweiter oder dritter Hand.
Aber gerade dass, liebe Gemeinde, macht es theologisch spannend: Der Mann, der als Erwachsener im Kamelhaarkleid in der Wüste Juda die Menschen zur Umkehr und Buße aufforderte und sie taufte, hatte auch eine Jüngerschar um sich gesammelt. Sie folgte ihm nach und hörte ihm zu, weil sie ihn für den letzten großen Propheten Israels hielt. Und einer dieser Jünger des Johannes war eine Zeit lang auch jener Jesu aus Nazareth, der sich taufen ließ und wie Johannes verkündigte: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Kehrt um …!“ Jesus fand dann aber sehr bald seine eigenen Jünger und seine ganz eigene Botschaft, die weit über Johannes Buß- und Umkehrtheologie hinausging: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium“! Jesus selbst hat nie getauft, sondern hat - anders als Johannes – zuerst von der Gnade und Güte Gottes gepredigt, hat die Vergebung betont, nicht die Leistung der Umkehr, sondern das Gottvertrauen wie Kinder oder Sperlinge unter dem Himmel. Man kann sich leicht vorstellen, dass es dann bald zwei Jüngerschaften gab, Jesusanhänger und Johannesanhänger, es auch einen Wettbewerb austrugen - um Nachfolge, um Glaubwürdigkeit, um Jüngersuche.
Die geistliche Frage lautet nun: Wie schriebt man 50 Jahre später von einer Gruppe, die man im Kern gar nicht falsch findet, weil Jesus ja zeitweilig Teil dieser Gruppe war, die aber dennoch anderes sind? Wie berichtet man über die Tatsache, dass Jesus von dem Johannes getauft wurde und man das Taufritual des Johannes übernommen hatte, dass Jesus aber später eine eigene Botschaft und eine eigene Jüngerschar aufbaute?
Die Evangelisten haben eine sehr geistlich versöhnliche, würdevolle Lösung gefunden: Die Johannesjünger sind Vorläufer, Vorbereiter, Vorarbeiter, sie machten die Bahn frei für den eigentlichen Erlöser Israels. Das ist keine Verurteilung – wie es den anderen Gruppen wie den Sadduzäern und Pharisäern geschah – es ist auch keine Verleugnung oder Verschweigen, sondern eine Würdigung durch geistliche Voranstellung. Johannes und seine Jünger haben als Vorläufer die höchste Form der möglichen Anerkennung bekommen, und genau das erzählt auf seine Weise die Bibel mit ihrer Geschichten von der Geburt des Johannes.
Aber, liebe Gemeinde, die Bibel ist im Blick auf die Johannesgrupe die Geschichte der Sieger, die Johannesjünger gab es irgendwann nicht mehr. Ihre Texte und Schriften – falls sie welche hatten - sind nirgends aufbewahrt und außerhalb der Bibel sind sie nirgends erwähnt. Sie sind in der Geschichte der Menschheit verloren gegangen – wie so viele andere Geschichten auch. Zugleich haben diese Johannesgeschichten uns Bibelleser/innen das Problem eines gelungenes Erwartungsmanagements hinterlassen: Denn ihre Buß- und Umkehrpredigt setze ja die Erwartung frei, dass die Zeit erfüllt sei, dass nun endlich, endlich der ersehnte Messias, der Erlöser Israels kommen müsse, um alle Feinde zu besiegen. Diese Erwartung war bei frommen Juden damals weit verbreitet: Wie heißt es im Predigttext: „dass er uns errettete von unsern Feinden, und aus der Hand aller, die uns hassen“.
Gemeint waren die elenden Römer, die alles beherrschten. Und in diese Erwartung nun kommt jener Jesus aus Nazareth, der von Gottes Güte und Barmherzigkeit mehr weiß als jeder andere in dieser Zeit, der nicht Reinigung und Buße zuerst betont, sondern Gottes Nähe gerade zum Sünder, Gottes Barmherzigkeit für das verlorene Schaf. Und dann wird dieser Gerechte auch noch gefangen genommen, wird elendig behandelt, gedemütigt von Soldaten der Römer, dem Spott der Leute ausgesetzt am Kreuz und stirbt verlassen mit den Wort des Psalms 22 auf den Lippen: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?.Das soll der Messias sein? Das soll unserer Befreier sein? Der Mann, der so jammervoll eingeht bei den Römern, der soll uns erlösen?
Liebe Gemeinde, man kann doch noch heute nachvollziehen, welche Untererfüllung – um mal wieder in der Sprache des Erwartungsmanagement zu reden – dieser Jesus am Kreuz ausgelöst hat. Eine Untererfüllung der Erwartung, die zur tiefen Enttäuschung führt. Und doch war die Untererfüllung zugleich eine Übererfüllung, die zur wirksamsten Überraschung aller Zeiten geriet: „Er lebt und Petrus hat ihn gesehen!“ so lautet eine der ältesten Überraschungsformeln. Oder der Satz des Hauptmanns unter dem Kreuz, der im Tode Jesu sagen kann: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“ Die Untererfüllung wird Übererfüllung, das ist eine Osterformel. Und ich glaube wohl, dass wir auch 2000 Jahre diese Wende von der Unter- zur Übererfüllung durch Verwandlung der Erwartungen nachvollziehen, nacherleben, ja oft auch nachbekennen können. Denn natürlich leben wir auch heute mit so vielen Hoffnungen, so vielen Erwartungen an Gott und seinen heilenden Geist, dass wir die Verwandlung unserer Erwartungen immer wieder geistlich einüben und durchleben müssen.
Aus der Bitte um Errettung kann dann „Dein Wille gesehe!“ werden. Aus der Bitte um Heilung kann dann Einstimmung in den Weg werden. Aus der Bitte um äußerliche Befreiung kann innerliche Stärkung werden. Und aus der Aggression der Enttäuschung kann gereifte Zustimmung werden. Christus hilft uns mit seinem Geist, diese Verwandlung immer wieder neu so erleben, sein Abendmahl ist Stärkung auf diesem Wandlungsweg, Musik in seinem Namen ist Trost bei aller Untererfüllung und Staunen bei aller Übererfüllung. Denn so wie Christus drei Tage gleichsam verschwunden war in der Untererfüllung, so braucht Gott mitunter auch drei seiner Tage, um uns von innen her zu wandeln, damit wird den Weg von der Untererfüllung zum Staunen der Übererfüllung auch erleben und genießen können.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen