„Wer dem Geringen Gewalt tut, lästert dessen Schöpfer“ (Sprüche 14,31)

Predigt im Gottesdienst zum Heiligen Abend 2012 im Dom zu Braunschweig, Landesbischof Prof. Dr. Friedrich Weber

Liebe Gemeinde!

„Wer dem Geringen Gewalt tut, lästert dessen Schöpfer“, dieses Bibelwort steht über dem heutigen Tag als Losung der Herrnhuter Brüdergemeine.

Gewalt gegen Kinder, auch sie sind gemeint, wenn im Alten Testament von den Geringen die Rede ist. Und sie sind es noch immer, weil sie meist wehrlos und nur ganz angewiesen auf die liebende Zuwendung ihrer Eltern leben können. Und dann finden sich in der Kriminalstatistik der Polizei erschreckende Zahlen.

Jede Woche sterben in Deutschland im Schnitt drei Kinder durch Gewalt oder Vernachlässigung. Insgesamt seien im vergangenen Jahr auf diese Weise 146 Kinder unter 14 Jahren ums Leben gekommen, sagte der Chef des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke. „Jedes betroffene Kind ist eines zu viel. Jeder Fall von Gewalt an Kindern ist eine Tragödie.“ 114 Todesopfer waren sogar jünger als sechs Jahre. Die Gesamtzahl von Kindesmisshandlungen lag bei 4100 Fällen. Einen Anstieg verzeichnet die Statistik bei sexuellen Missbrauchsopfern im Kindesalter. Deren Zahl stieg im vergangenen Jahr auf etwa 14.330. (Focus-Online)

Und wie es weiter weg von uns aussieht, sogar in manchem uns in der europäischen Gemeinschaft verbundenen Land, wie dort Kinder und schwache Menschen überleben und untergehen, muss ich Ihnen nicht vor Augen stellen, auch nicht die an Hunger, Durst und mangelnder medizinischer Versorgung Dahindarbenden in den Krisenzonen unserer Welt.

Auch das Kind in der Krippe von Bethlehem war ein Geringer, einer, der nichts hatte und wohl auch nichts bekommen sollte.

Und nun ist Weihnachten, wir sind den Weg bis hierher gegangen, immer noch gespannt, immer noch erwartungsfroh, daran ändert auch das Älterwerden nichts. Wir stehen an der Krippe, diesem Notbehelf eines Kinderbettchens. Wieder sind wir ratlos angesichts dieser Situation, die ja kein bisschen romantisch, sondern einfach nur hart ist. Wir hören die Geschichte, sehen Josef, den Vater, mit seiner jungen Frau förmlich vor uns, können es als Väter und Mütter nachempfinden, was das heißt, zur Geburtszeit keinen Ort zu haben, an dem Hilfe und Geborgenheit sind.

Wer solche Zustände erlaubt, wer sie nicht ändert, wer sie ignoriert, ist ein Gewalttäter. An der Art wie junge Familien unterstützt werden, an der Art, wie Kindern Lebenswege ermöglicht werden, lässt sich die Humanität eines Staates, einer Gesellschaft ablesen. Die Frage nach den Lebensmöglichkeiten der Kinder ist ein Prüfstein für jede politische Partei, und natürlich auch für die Kirche und andere gesellschaftliche Gruppen.

Es ist Weihnachten geworden, und wieder sehen wir Maria und Josef auf der Straße, erleben mit, wie sich Josef den Knöchel wund klopft und doch kein Nachtquartier findet. Wieder hören wir harte und abweisende Stimmen, die manchmal aus unmittelbarer Nähe kommen.

Martin Luther beschrieb die Fassungslosigkeit angesichts dessen, wie es unter uns Menschen zugeht, in seiner Kirchenpostille 1522 so: „Dass sich solchs eines jungen Weibs, die ihr erst Mal gebären sollt, niemand hat erbarmet, niemand ihren schwangeren Leib zu Herzen nommen, niemand angesehen, dass sie in fremden Orten nit hat das aller mindste!“

Eigentlich, so sagt er es in seiner unverblümten Art, ist diese Geschichte doch ein Skandal und viel zu beschämend, als dass man sie immer neu hören wollte. Sie ist eine Geschichte von Gewalt gegen ungeborene Kinder und ihre Eltern. Ob es das noch gibt? Ich wünschte mir, es wäre anders, wenn heute jemand in dunkler Nacht vor unserer Tür stünde.

Aber unsere Erfahrungen, gewichtig oder eher von der ungeprüften Sorte, sprechen mit und warnen: „Die sind doch selber schuld.“ Ja, sie sind selber schuld, aber sind wir das nicht auch mitunter und brauchen dann doch Hilfe? Oder: „Das nützt ja doch nichts.“ Ja, es mag sein, dass unser Einsatz nicht sofort etwas bewirkt, dass er scheinbar verpufft, aber er hält die Hoffnung daran am Leben, das es anders werden kann. und er lässt Nächstenliebe – die ja zweckfrei sein will – als uns verbindende Kraft gedeihen. Oder: „Mir hilft ja auch keiner.“ Stimmt das denn wirklich? Von wie viel unerwarteter Zuwendung haben Sie, habe ich in diesem Jahr gelebt?! Die nächsten Tage bieten vielleicht einmal Zeit, auch darüber nachzudenken.

Und nun höre ich die Weihnachtsgeschichte als eine Gegengeschichte gegen die üblichen Nachrichten in dieser Welt. Es ist eine Geschichte – wenig romantisch –, in der die Gewalt und Brutalität der Machthaber gegen die Geringsten unverblümt zur Sprache kommt, später wird vom Kindermord in Bethlehem berichtet werden. Es ist aber auch eine Geschichte, die zugleich vom Frieden redet.

Und damit verändert sie eine andere Geschichte. Anno 9 v. Chr. wurde Kaiser Augustus zu Ehren „der Altar des Augusteischen Friedens“ eingeweiht. Bald schon wurde der Jahresanfang auf seinen Geburtstag gelegt. Die Erwartungen an den menschlichen Kaiser waren übermenschlich. In der entsprechenden Begründung, die vor allem in der 1891 entdeckten Inschrift von Priene erhalten ist, heißt es: „Dieser Tag, der Geburtstag des Kaisers, hat der ganzen Welt ein anderes Aussehen gegeben. Sie wäre dem Untergang verfallen, wenn nicht in dem heute Geborenen für alle Menschen ein gemeinsames Glück aufgestrahlt wäre. Die Vorsehung, die über allem Leben waltet, hat diesen Mann zum Heil der Menschen mit solchen Gaben erfüllt, dass sie ihn uns und den kommenden Geschlechtern als Retter gesandt hat. Allem Krieg wird er ein Ende setzen und alles herrlich ausgestalten…"

Lukas kannte die Sehnsucht der Völker nach dem Frieden, und er kannte die Antwort Roms. Er antwortet mit der Weihnachtsgeschichte darauf, indem er die überall bekannte Verkündigung des Friedens überhöht, ja: verändert! Nicht die Pax Romana, ein durch Gewalt und militärische Macht befriedetes Weltreich, sondern die Pax Christi, Feindesliebe und Frieden unter Menschen durch Jesus Christus.

Ich glaube, wir hören die Weihnachtsgeschichte, diese Geschichte der Liebe und des Friedens, in einer gewalttätigen Welt deswegen so gerne, weil in ihr selbst der Grund für die Hoffnung liegt, dass es anders werden kann. Sie muss eine Chance bekommen. Und es gibt sie, wir stehen für sie, denn jedes Jahr sind wir bereit, Herzen und Sinne zu öffnen für das Wunder dieser Nacht. Jedes Jahr erleben wir an uns auf’s Neue, dass wir berührbarer sind als sonst und bereit, zu teilen, zu verzeihen, neu anzufangen. Es tut unserer Menschlichkeit gut, dass alle Jahre wieder Weihnachten ist. Wer weiß, wie nüchtern und hartherzig wir sonst werden würden.

Und noch viel mehr tut es unserer Welt gut, jedes Jahr neu zu erleben, dass Gott kommt. Er gibt uns nicht auf, sondern nimmt Wohnung bei uns. Er erbarmt sich unser und darum kann es heller und wärmer werden – mitten in der dunklen Nacht. Und darum muss es ein Ende haben mit dem Skandal der Gewalt gegen die Geringen, gegen die Kinder. Sie lästert Gott!

Amen