Rechtfertigung und Freiheit

3. Wie kann gefeiert werden?

Kurz geantwortet: Es kann gefeiert werden in einer angemessenen Balance zwischen Tradition und Innovation, ohne die Fremdheit längst vergangener Ereignisse abzuschleifen und zugleich deren tiefgreifende Bedeutung für die Gegenwart zu ignorieren. Zunächst muss allgemein die Aufgabe von Jubiläen im Zusammenhang von Erinnerungskulturen in Kirche und Gesellschaft thematisiert werden, bevor anhand eines charakteristischen Beispiels spezifische Folgerungen für das Jubiläum 2017 gezogen und schließlich ein kurzer Blick auf das Programm der Feiern geworfen werden kann.

3.1 Jubiläen und Erinnerungskulturen

Zunächst einmal muss man sich klarmachen, dass Jubiläumsfeiern natürlich nicht nur aus der öffentlichen Vermittlung von aktuellen Ergebnissen der historischen Forschung zu den Ereignissen bestehen können, die gefeiert werden sollen. Entsprechend zeichnet auch die historische Forschung nur ein im besten Falle möglichst angemessenes Bild der Ereignisse, die im Zentrum eines Jubiläums stehen. Jubiläumsfeiern sind vielmehr eng mit den Erinnerungskulturen einer Gesellschaft [43] verbunden, wie im spezifischen Blick auf das Calvin-Jubiläumsjahr des Jahres 2009, aber mit grundsätzlicher Absicht formuliert wurde: »Im Rückgriff auf die Vergangenheit sollen sie (meint: die Jubiläen) den Vertrautheitsschwund kompensieren und so erneut kulturelle Identität vermitteln. Mit der Etablierung des Jubiläums entstand aber zugleich eine neue, von der traditionellen Geschichtsschreibung deutlich zu unterscheidende Gedächtniskultur, in der stets eine Gruppe vergangener Ereignisse neu inszeniert wurde, um Identitätsangebote zu machen. Arbeitet die Geschichtsschreibung kritisch auswählend nach dem Methodenkanon der historisch-kritischen Textauslegung, der unter anderem auch dazu dient, Mythen zu zerstören, so ist der Gedächtniskultur zumindest tendenziell daran gelegen, identitätsstiftende Mythen aufzubauen.« [44] Blickt man unter dieser Perspektive auf die vergangenen Reformationsjubiläen, stößt man auf ein wenig verblüffendes Ergebnis: »Luther wurde immer wieder anders gefeiert« [45] – so hat es Hartmut Lehmann als Ergebnis einer ausführlichen Analyse von Luthergedächtnisfeiern festgehalten.

Diejenigen, die »Luther feierten, (feierten) immer zuerst und vor allem sich selbst« [46]. Solche Zeitgenossenschaft ist kaum überraschend: Dass zum Beispiel im Jahre 1617 beim allerersten Jubiläum die Selbstbehauptung der neuen Konfession im Vordergrund stand und Luthers Thesenanschlag als theologische Großtat erzählt wurde, ist auch heute noch gut nachzuvollziehen. Dass 1817 das Jubiläum als nationales Einigungsfest gefeiert wurde, in dem Luther als erster großer Deutscher einen herausragenden Platz fand, ist auch nicht verwunderlich. Wie problematisch solche aktualisierenden Erzählungen allerdings sein können, zeigte das Jubiläum des Weltkriegsjahres 1917. Dieses Jubiläum wurde für die religiöse Ãœberhöhung von Opferbereitschaft und die Steigerung des Durchhaltewillens der Bevölkerung funktionalisiert.

Angesichts solcher Einsichten aus der Vergangenheit wird man im Jahr 2017 nicht den Anspruch erheben dürfen, nun erstmals eine für alle Zeiten gültige Wahrheit über die Reformation zu zelebrieren. Vielmehr soll die theologische Erinnerung an die Rechtfertigungslehre in einer Weise fruchtbar gemacht werden, die sie in ein Verhältnis zu gegenwärtigen Erfahrungen und Erwartungen auch außerhalb binnenkirchlicher Kontexte setzt. Analoges gilt für die historisch möglichst korrekte Erinnerung an die reformatorischen Impulse zu einer Reform der Kirche und der Gesellschaft: Sie müssen in der gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Realität in ihren Wirkungen erlebbar sein und so Anregungen für zukünftige Gestaltungsaufgaben in Kirche und Welt geben können.

Jubiläen rekonstruieren nicht einfach Gewesenes, sondern schreiben es in allgemeine Erzählungen ein, die aktuelle Relevanz beanspruchen dürfen. Erinnerungskulturen sind solche Erzählungen. Das bedeutet zugleich eine Anknüpfung an den darin erinnerten Traditionsbestand und seine Aktualisierung, Tradition und Innovation. Erinnerungskulturen einer Gesellschaft bieten mehr als die bloße Nacherzählung historischer Wissensbestände oder reine Inszenierungen von aktuellen Ergebnissen der Geschichtswissenschaft. Jubiläen müssen sich immer am jeweiligen Stand historiographischer Reflexion orientieren und dürfen nicht einfach frühere Mythen neu aufleben lassen. Die kategoriale historische wie existenzielle Differenz zwischen Menschen des sechzehnten und des einundzwanzigsten Jahrhunderts kann nicht einfach überspielt werden. Und doch muss man zu solchen Anlässen auch den Mut haben, Vergangenes in vollkommen neue Kontexte einzuzeichnen. Nur so kann das Erzählte existenzielle Bedeutung für jeden und jede Einzelne gewinnen. Dann wird jene erwähnte kategoriale Differenz nicht ignoriert oder überspielt, sondern hermeneutisch klug überbrückt.

3.2 Die Reformation und die Freiheitsgeschichte – ein Beispiel

Schon mehrfach war angeklungen, dass ein Begriff, mit dem dies gelingen könnte, der Begriff der Freiheit ist. Mit ihm kann man, wie gesagt, auch gut Sachanliegen der reformatorischen Rechtfertigungslehre zur Geltung bringen. Im Begriff »Freiheit« zeigen sich historische Differenz wie existenzielle Nähe zu Lehrbildungen wie Ereignissen des sechzehnten Jahrhunderts: Der Begriff christlicher Freiheit, wie Luther ihn in der berühmten Doppelformulierung vom Christenmenschen als einem freien Herrn und dienstbaren Knecht in der Freiheitsschrift von 1520 [47] zur Beschreibung des Rechtfertigungsgeschehens verwendet, ist nicht einfach bruchlos mit einem neuzeitlichen Freiheitsverständnis zu identifizieren und steht doch in enger Beziehung zur europäischen Freiheitsgeschichte.

Die Reformatoren haben diesen Geist der Freiheit und die daraus resultierende andere Mentalität von Menschen in der Heiligen Schrift gefunden, vor allem beim Apostel Paulus, bei dem es beispielsweise heißt: »Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit« (2. Korinther 3,17). Sie haben diesen biblischen Geist der Freiheit wieder in den Mittelpunkt der Verkündigung und ihrer reformatorischen Botschaft gerückt, die auch den kleinen Mann auf der Straße und die geringe Magd auf dem Lande erreichte. Die Reformation hat nichts Neues unter Gottes Sonne erfunden, sondern die Botschaft von der Freiheit der Kinder Gottes neu eingeschärft. Eine neue »Kirche der Freiheit« war dafür ebenso wenig zwingend nötig wie die Aufsplitterung der reformatorischen Bewegung in Flügel und Gruppen. In der Sache ging es um die Erneuerung der einen Kirche Jesu Christi.

Freilich darf sich, wer die Freiheit in die Mitte stellt, über Vielfalt nicht wundern – schon der neutestamentliche Kanon begründet nicht nur die Einheit der Kirchen, sondern (aufgrund der Vielfalt der in ihm enthaltenen Theologien) auch die Vielfalt der Kirchen und Konfessionen. Was die vorreformatorische Geschichte des Christentums kennzeichnete, bestimmte auch die nachreformatorische Geschichte – eine legitime Vielfalt von Kirchen und Konfessionen, die vor allem im letzten Jahrhundert im Zuge der ökumenischen Bewegung zunehmend auch ihre Einheit wieder entdeckten. Die reformatorischen Kirchen sind in beiden Hinsichten Teil dieser Dynamik, sie sind ein Teil der legitimen, weil schrift-konformen Pluralisierung der christlichen Kirchen, aber auch Teil der schriftgemäßen Bewegung auf die volle sichtbare Einheit der einen Kirche in der Vielfalt der Konfessionen hin.

Es geht bei Reformationsjubiläen wie bei allen solchen Feiern aber weniger um Begriffe und abstrakte Einsichten als vielmehr um deren Präsenz in verdichteten Erzählungen. Es geht also auch weniger um den Begriff »Freiheit« als vielmehr darum, das reformatorische Freiheitsverständnis durch kraftvolle Geschichten zum Ausdruck zu bringen. Besonders wichtige Jubiläen sind zudem nicht durch eine einzige Erzählung geprägt, sondern durch mehrere. Bei den vergangenen Reformationsjubiläen wurde nie allein an einen Thesenanschlag des Jahres 1517 erinnert, sondern mit verschiedenen, starken Geschichten an das Ganze der Reformation aus einer jeweils zeitgenössischen Perspektive. Wenn Erinnerung so zu Erzählungen verdichtet ist, wird ihre existenzielle Relevanz besonders deutlich. Allerdings ist schon für die Geschichtswissenschaft der Grat »zwischen Geschichtsschreibung und künstlerischer Fiktion, ... zwischen Realismus und Phantasie« schmal und erst recht die Gefahr, mit den Erinnerungskulturen in »Erinnerungskitsch, sentimentales Erzählen, Dämonisierung auf der einen, Verharmlosung und Beschönigung auf der anderen Seite« abzugleiten, groß [48].

Ein charakteristisches Beispiel für diese Zusammenhänge ist die erwähnte Erzählung von Luthers Auftritt vor Kaiser und Reich beim Reichstag in Worms am 18. April 1521. Mit einem solchen Ereignis kann besonders gut an die Bedeutung der Reformation für die neuzeitliche Freiheitsgeschichte erinnert werden, und eine solche Erinnerung hat auch schon Tradition. Lange waren nationale deutsche Erinnerungskulturen nämlich durch die historisch sekundäre, wenn auch schon früh belegte Ãœberlieferung geprägt, dass der Reformator seine Rede mit den Worten: »Ich kan nicht anderst, hie stehe ich, Gott helff mir. Amen« schloss [49]. Damit gab der Reformator vor allem in den Erinnerungskulturen ein Beispiel für protestantische Standhaftigkeit gegen autoritäre Zumutung. Inzwischen hat sich durchaus die Einsicht im kulturellen Gedächtnis verbreitet, dass Luther seine Wormser Rede höchstwahrscheinlich anders geschlossen hat, wenn man sich überhaupt noch an dieses Ereignis erinnert. Aber die Erinnerung an diesen authentischen Schluss im Zusammenhang des Jubiläums 2017 ist keine bloße historische Besserwisserei. Sie zeigt vielmehr, dass Luther 1521 erstmals an prominenter Stelle das für die europäische Neuzeit so überaus bedeutsame Thema der Gewissensfreiheit eines Einzelnen gegenüber institutionellen Zwängen prominent zur Geltung brachte. Luther sagte damals: »derhalben ich nicht mag noch will widerrufen, weil wider das gewissen zu handeln, beschwerlich, unheilsam und (ge)ferlich ist. Gott helf mir! Amen.« [50]

Luthers Rede von 1521 war keine feierliche Erklärung der Gewissensfreiheit im modernen Sinne eines allgemeinen Menschenrechts. Er wusste sein Gewissen, wie er selbst kurz vor dem zitierten Schluss seiner Rede sagt, »durch die Worte Gottes gefangen«. Aber er drückte mit seinen Worten seine feste Ãœberzeugung aus, dass weltliche Macht ihre Grenzen an eben diesem Gewissen findet, durch das er selbst sich unmittelbar vor Gott gestellt sah. Die historisch korrektere Erinnerung an Luthers Auftritt in Worms ermöglicht, im Rahmen eines Reformationsjubiläums öffentlichkeitswirksam Verbindungslinien zwischen einem starken Auftritt des sechzehnten Jahrhunderts und zentralen Werten im einundzwanzigsten Jahrhundert zu ziehen: Luthers Auftritt in Worms gehört in die neuzeitliche Freiheitsgeschichte, die auf den Grundwert allgemeiner Gewissensfreiheit führte und Institutionen begründete, die diesen Grundwert garantieren können. Mit anderen Worten: Luthers grundsätzlicher theologischer Überzeugung entspricht die moderne Verfassungsgestalt des demokratischen Rechtsstaates; sie lebt fort in der Einsicht, dass das Gewissen des Menschen unabhängig von seinen Inhalten nicht durch andere Menschen reguliert werden kann und darf.

Die allermeisten wirkmächtigen Erzählungen über die Reformation thematisieren neue Freiheitserfahrungen: Luthers Thesenanschlag, Luthers mutige Antwort vor Kaiser und Reich in Worms, Luthers Heirat mit Katharina von Bora, aber auch Melanchthons allen Menschen zuerkannte Bildungsfähigkeit, Zwinglis Teilnahme an einem Wurstessen in der Passionszeit, Calvins gesellschaftlicher Gestaltungswille und vieles andere mehr. Diese verdichteten Erzählungen über die Reformation, die durch die Jahrhunderte hindurch fasziniert haben, sind Geschichten von Mut, Aufbruch und Selbstbewusstsein. Zudem spiegeln nicht wenige reformatorische Lieder und Psalmgesänge, die sich noch heute in den Gesangbüchern finden, diese fröhliche Zuversicht gegen alle Angst.

Weil einige wenige verdichtete Erzählungen, die Lieder und Psalmen der Zeit sowie die eindrückliche Bildpropaganda [51] natürlich nicht die einzige Erinnerung an die Gegenwartsbedeutung der Reformation bilden können, wurde zur Vorbereitung des Jubiläums 2017 eine Reformationsdekade ausgerufen und unter Beteiligung vieler Institutionen ausgestaltet. Erinnert wird in dieser Dekade unter anderem an die Themenfelder Bildung und Musik, Toleranz und Politik oder Bilder und Bibel. Es ist also die ganze Breite der reformatorischen Themen, an die – durchaus im Unterschied zu vergangenen Jubiläen – mit dem Reformationsgedenken von 2017 erinnert werden soll. Damit ist aber neben den klassischen verdichteten Erzählungen (wie beispielsweise dem Thesenanschlag oder Luthers Auftritt in Worms) durchaus Raum für eine ganze Anzahl weiterer solcher verdichteter Erzählungen von »starken Auftritten«, die unter Bedingungen gegenwärtiger Massenkommunikation auch fernstehende Menschen über Grundanliegen der Reformation zu orientieren vermögen.

3.3 Die verschiedenen Dimensionen des Feierns – vom Auszug zum Aufbruch

Luther reiste 1521, von qualvollen Verdauungsstörungen und existenziellen Ängsten geplagt, nach Worms. Er überwand seine Angst und behauptete sich vor Kaiser und Reich. Diese Beispielgeschichte aus traditionellen Erinnerungskulturen ist für den Protestantismus charakteristisch: Die Kernerzählung von der Reformation lässt sich für das einundzwanzigste Jahrhundert anhand solcher starker Beispielgeschichten als Auszug aus Ängsten erzählen, die in einer vom Heiligen Geist geschenkten Befreiung durch Gott gründet und zum verantwortlichen Aufbruch in die Welt führt. Dieser Dreischritt bündelt noch einmal die gegenwärtige Relevanz der Erinnerungen an die Reformation unter Benutzung von alltäglichen Erfahrungen der Liebe, der Annahme, der Würdigung, der Vergebung und der Freiheit, die universell sind. Daher sollten auch jene, die dem Christentum fernstehen, mindestens Dimensionen der reformatorischen Freiheitserfahrung nachvollziehen und vielleicht sogar ein existenzielles Verständnis von der Reformation erwerben können. Christenmenschen sind allerdings davon überzeugt, dass ohne den Bezug auf den barmherzigen Gott in Jesus Christus Entscheidendes fehlt und eine wirkliche Befreiung aus vielfältigen Ängsten nicht gelingen wird. Insofern bietet das Jubiläum, wenn es als Christusfest gefeiert wird, für die reformatorische Christenheit durchaus missionarische Gelegenheiten.

Zugleich sollte man sich immer auch bewusst machen, dass ganze Teile der Erzählungen von der reformatorischen Freiheit in den vergangenen fünfhundert Jahren auch außerhalb der Kirchenmauern selbstverständlich geworden sind. Die Reformation hat, wie bereits an Beispielen deutlich wurde, ihren spezifischen Anteil an der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte. Sie hat diesen Anteil, selbst wenn sie an einzelnen Punkten gerade kein Teil dieser Freiheitgeschichte war. Diese Verbindung von Reformation und neuzeitlicher Freiheitsgeschichte ist der fundamentale Grund dafür, dass das Jubiläum nicht allein ein Fest der Kirchen ist, sondern ein Fest der ganzen Gesellschaft und des säkularen Staates werden sollte. Während die reformatorisch geprägten Kirchen an die religiösen wie theologischen Einsichten und Folgewirkungen der Reformation zu erinnern haben, können Staat und Zivilgesellschaft an solche allgemeineren, noch heute wirksamen Impulse der Reformation erinnern.

Martin Luther war sich, als er 1517 Thesen gegen den Ablass formulierte, bewusst, dass er hiermit ein Problem ansprach, das nicht allein das akademische Fachpublikum betraf. Bald fühlte sich die ganze Welt zur Diskussion herausgefordert. Geschichte wiederholt sich natürlich nicht. Vielleicht gelingt es aber im Rahmen der Jubiläumsfeiern fünfhundert Jahre später, nicht nur einige überraschende und kraftvolle Aktionen durchzuführen, sondern auch intensive inhaltliche Debatten über Sachanliegen der Reformation zu entfesseln. Jedenfalls macht die Analyse der Ereignisse, derer im Oktober 2017 unmittelbar gedacht wird, deutlich: Vor einem weit sichtbaren »event« und einer »Eventisierung« im guten Sinne braucht sich niemand zu fürchten. Außerdem wird diese Jubiläumsfeier anders als die Feiern früherer Jahrhunderte die globalisierte Welt und damit die internationale Dimension ganz anders ins Licht stellen, um dem Ereignis, an das erinnert werden soll, nur einigermaßen gerecht werden zu können.

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