Rechtfertigung und Freiheit

2. Kernpunkte reformatorischer Theologie

Bevor die Kernpunkte reformatorischer Theologie nun noch einmal ausführlich anhand von fünf klassischen Formulierungen, die mit der Partikel »allein« (solus) eingeleitet sind, theologisch erläutert werden, muss noch einmal bei der Rechtfertigungslehre als dem Kerngedanken der Reformation eingesetzt werden, die im vorherigen Abschnitt mit vier Begriffen gegenwärtiger Alltagssprache (Liebe, Anerkennung bzw. Würdigung, Vergebung und Freiheit) umschrieben wurde.

2.1 Zum Begriff der Rechtfertigung – Schlüssel der Reformation

»Rechtfertigung« ist ein Begriff, den wir auch heute noch benutzen. Wir sagen: »Dieses Urteil ist gerechtfertigt« oder: »Er kann sein Verhalten rechtfertigen.« Wir wollen damit zum Ausdruck bringen, dass eine Sache, trotz aller Anfragen, in Ordnung, recht ist. In Bezug auf unser eigenes Verhalten versuchen wir zu rechtfertigen, warum wir etwas getan oder nicht getan haben. Auch das Tun oder Nicht-Tun anderer kann man rechtfertigen. Immer geht es dabei um die Rechtfertigung gegenüber einer beurteilenden Instanz, zum Beispiel gegenüber einem Gericht oder einer anderen Person oder gegenüber uns selbst. Der Gedanke der Rechtfertigung zeigt: Wir müssen unser Handeln und Nicht-Handeln verantworten.

Wir urteilen aber auch: »Das ist ungerechtfertigt!« oder: »Dein Verhalten ist nicht zu rechtfertigen.« Dann meinen wir, dass es keine ausreichenden Gründe dafür gibt, die in Frage stehende Sache als richtig anzusehen. In unserer Alltagswelt kommt der Vorgang der Rechtfertigung also nur dann an sein Ziel, wenn es Menschen gelingt, ihr Tun als angemessen und recht aufzuzeigen, oder wenn man sonst erkennen kann, dass sie mit ihrem Tun oder Nicht-Tun im Recht sind.

Die reformatorische Rechtfertigungslehre durchbricht die Logik, dass nur der gerechtfertigt ist, der im Recht ist. Sie geht davon aus, dass Menschen sich in einer zentralen Hinsicht nicht selbst rechtfertigen können und nicht selbst rechtfertigen müssen. Vor Gott können und brauchen sie dies nicht. Und doch werden sie von Gott »gerechtfertigt«, nicht, weil sie von sich aus im Recht sind, sondern aus Gnade. »Gerechtfertigt aus Gnade« heißt: geliebt trotz allem, was an mir nicht liebenswert ist, angenommen, obwohl ich unannehmbar bin. Die Begriffe »geliebt«, »angenommen« machen deutlich: Es geht nicht um ein Gütesiegel, das Gott dem Menschen mit der Rechtfertigung verleiht. Es geht um eine von Gott her gestiftete und treu aufrechterhaltene Beziehung. Gott will mit jedem Menschen Gemeinschaft haben, ganz gleich, wie dieser sich Gott, anderen Menschen und sich selbst gegenüber verhalten hat. Und die Worte »trotz« und »obwohl« zeigen an: Mit der Rechtfertigung bestätigt Gott nicht etwas, was der Fall ist, er anerkennt den Menschen nicht deshalb, weil er Anerkennung verdient hat. Gottes Liebe und Annahme ist keine Reaktion auf das Liebenswerte und Annehmbare am Menschen. Sie geht viel tiefer. Sie meint den Menschen als Ganzen, auch in seiner Gebrochenheit und Selbstbezogenheit. Die Reformatoren haben dazu gesagt: Gott rechtfertigt den Sünder.

Die Rechtfertigungslehre der Reformatoren bekam ihre besondere Gestalt durch ihre Auseinandersetzung mit den biblischen Texten, insbesondere mit der Theologie des Paulus. Der Vers aus dem Römerbrief: »So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben« (Römer 3,28) wurde ihnen zum Schlüssel dafür, was aus christlicher Sicht Rechtfertigung bedeutet.

Die Reformatoren waren davon überzeugt, dass diese »Rechtfertigung« durch Gott die Perspektive auf das Leben jedes Menschen fundamental verändern kann. Sie beschreibt keine theologische Spezialthese, sondern die Grundlage für ein getröstetes, geheiltes, getragenes Leben. Die Frage nach der Rechtfertigung stellt »den hauptsächlichen Pfeiler dar, ... auf dem unsere Gottesverehrung ruht – Grund genug, hier die größte Aufmerksamkeit und Sorgfalt walten zu lassen!« [6].

Inwiefern die Rechtfertigung des Menschen durch Gott Lebenshilfe ist, sollen die nachfolgenden Seiten zeigen. Dabei bietet sich eine Orientierung an den sogenannten »Exklusivpartikeln« an: solus Christus – »allein Christus«, sola gratia – »allein aus Gnade«, solo verbo – »allein im Wort«, sola scriptura – »allein aufgrund der Schrift«, sola fide – »allein durch den Glauben«. Alle fünf Begriffe zielen auf das soli Deo gloria – allein Gott sei Ehre. Inhaltlich beschreiben sie die Kernelemente der Rechtfertigungslehre. Das »allein« spitzt jedes Kernelement exklusiv zu und schließt so anderes aus. »Allein (aus/im/aufgrund/durch)« heißt hier also immer »nicht (aus/im/aufgrund/durch)«. In ihrer Exklusivität stellen diese Partikel die Pointe des evangelischen Verständnisses der Rechtfertigungslehre dar.

Diese mit der Partikel »allein« (solus) eingeleiteten Kernpunkte sind in einer ausführlichen vier- und fünfteiligen Form erst im neunzehnten Jahrhundert aufgekommen. Sie gehen aber auf Texte des sechzehnten Jahrhunderts zurück [7]. Bislang ist noch nicht wissenschaftlich erforscht, wie sich die dreiteiligen Zusammenfassungen reformatorischer Theologie aus dem sechzehnten Jahrhundert exakt zu den vier- und fünfteiligen Formen verhalten. Da es sich aber in jedem Fall um Ordnungsmodelle handelt, die nicht von der ersten Generation reformatorischer Theologen aufgebracht wurden, ist die exakte Chronologie der Modelle hier ohne Bedeutung. Im Folgenden wird die reformatorische Theologie in fünf Kernpunkten entfaltet, um auf diese Weise die Bedeutung des mündlich gepredigten biblischen Wortes mit den Reformatoren zu betonen.

Inhaltlich haben es alle Exklusivpartikel mit dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu tun. Sie präzisieren dieses Verhältnis, indem sie Aussagen über Gott und über den Menschen und über die Beziehung zwischen Gott und Mensch machen. Sie führen aus, was Gott für diese Beziehung schon gemacht hat. Und sie zeigen auf, was vom Menschen noch zu tun ist und was er einfach nur geschehen lassen muss. Insgesamt machen sie deutlich: Die Beziehung zwischen Gott und Mensch liegt grundlegend an Gottes Liebe zum Menschen. Es ist nicht der Mensch, der sich bemühen muss, zu Gott zu kommen. Gott ist schon zum Menschen gekommen. Darauf kann sich der Mensch verlassen.

2.2 Solus Christus – allein Christus

2.2.1 Theologischer Grundgedanke – von Gott nicht mehr getrennt

Der Glaube an Jesus Christus zeichnet das Christentum von Anfang an aus. Wer an Jesus Christus glaubt, ist ein Christ. Im Bekenntnis dieses Glaubens gab es in der Reformationszeit keine Differenz. Aber welche spezifische Bedeutung hat Christus für das Christentum?

Das Christentum hat vor zweitausend Jahren mit dem Glauben an Jesus Christus begonnen. Die Jüngerinnen und Jünger lebten mit Jesus und hörten von ihm, dass Gott ihnen nahe ist. Mehr noch: Jesus sprach davon, dass in seiner eigenen Person Gott in besonderer Weise gegenwärtig ist. In der Begegnung mit ihm machten Menschen die Erfahrung der heilsamen Nähe Gottes.

Jesu Tod, sein elendes Sterben am Kreuz schien diese Nähe Gottes in ihm in Frage zu stellen. Ein Mensch, der am Kreuz stirbt und damit einen für die Antike besonders schmachvollen Tod erleidet, der kann nicht ein Mann Gottes sein, der muss vielmehr ein von Gott im Stich Gelassener sein. Mit Jesu Tod am Kreuz endete das Vertrauen der Jünger und Jüngerinnen in Gottes Nähe in diesem Menschen. Jesus schien sich mit seiner Botschaft geirrt zu haben.

Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Die neutestamentlichen Texte beschreiben, dass die, die Jesus nachfolgten, die Erfahrung machten: Dieser Mensch, von dem wir wissen, dass er tot ist – er lebt. Er begegnet uns auch jetzt noch, nicht nur mit seinen Ideen von Gott oder als unsere persönliche Erinnerung. Er begegnet uns in einer lebendigen, direkten Weise. Die Jünger und Jüngerinnen beschrieben diese Begegnung als Begegnung mit dem Auferstandenen. Sie fingen an, anderen davon zu erzählen: Er war tot, aber er wurde von Gott auferweckt. Und das bedeutete auch: Seine Botschaft von der besonderen Gegenwart Gottes in seiner Person war doch kein Irrtum. Er hat sich nicht zu Unrecht auf Gott berufen, sondern indem Gott ihn auferweckt hat, hat Gott den Anspruch Jesu bestätigt. Gott war tatsächlich in Jesus den Menschen in besonderer Weise nah. Er war und er ist der Christus, der verheißene Messias. Er hat Gott zu Recht seinen Vater genannt, er ist der Sohn Gottes.

Von der Erfahrung mit dem Auferstandenen her wurde das Kreuz neu interpretiert. Es war offenbar gar nicht der Ort der Gottferne, wie es ursprünglich den Anschein hatte, sondern der Ort, an dem sich die Nähe Gottes zu den Menschen in spezieller Weise zeigt. Wenn Gott in diesem Menschen besonders nahe ist, dann auch in seinem Leiden und Sterben und in seinem Tod. Leiden, Sterben, Tod müssen nun als Orte verstanden werden, in denen Gott immer noch nahe ist. Damit wurde klar: In Jesus Christus hat Gott sich so auf die Menschen eingelassen, dass er alles, was die Menschen von ihm trennte, hinweggenommen hat. Die ersten Christen dachten dabei besonders an die Sünde des Menschen als die Entfernung der Menschen von Gott, als gestörtes Gottesverhältnis, und an den Tod als den Ort des endgültigen Getrenntseins von Gott. Deshalb bekannten sie: In Christus hat Gott zum Heil der Menschen gehandelt, er hat die Sünde und den Tod als von Gott Trennendes ein für alle Mal hinweggenommen.

Die neutestamentlichen Texte sind davon überzeugt, dass das heilvolle Handeln Gottes in Jesus Christus alle Menschen meint. Man muss nicht zum alttestamentlichen Volk Gottes, zum jüdischen Volk gehören, man muss nicht beschnitten sein und die Speisegebote halten. Das Handeln Gottes in Jesus Christus will allen Menschen zugutekommen.

Die Reformatoren erinnern mit der Formel solus Christus an diese besondere Bedeutung und Exklusivität Jesu Christi. Weil in Jesus Christus Gott umfassend und alle Menschen meinend gehandelt hat, wird man sagen: »Christus allein«. Luther betont: Jesus Christus ist allein das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Calvin bekennt: »Unser ganzes Heil, alles, was dazugehört, ist allein in Christus beschlossen.« [8] Und die erste Frage des Heidelberger Katechismus lautet in ähnlich exklusiver Weise: »Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.« [9]

Aber ist diese Exklusivität Jesu Christi nicht anmaßend? Wie kann man so auftreten und andere religiöse Gründe für ein heilvolles Leben bestreiten? Heute, in der Situation des religiösen Pluralismus, scheint eine derartige Position arrogant und ausgrenzend zu sein. Bevor auf diese wichtige Frage näher eingegangen wird, soll zunächst noch genauer erläutert werden, auf welche Fragen und Auseinandersetzungen zur Zeit der Reformatoren das solus Christus geantwortet hat.

2.2.2 Wo ist Gott eindeutig zu finden? – in Christus allein

Menschen fragen nach Gott. Sie fragen nach dem Grund ihres Daseins und nach dem Ziel. Sie suchen nach Gehaltensein und Orientierung. Die Reformatoren waren davon überzeugt, dass der Mensch nicht von sich aus Gott erkennen kann. »Was aber Gott ist, das wissen wir aus uns ebenso wenig, wie ein Käfer weiß, was der Mensch ist.« [10] Wie aber weiß der Mensch dann von Gott?

Die Reformatoren gingen davon aus, dass man schon aus der Betrachtung dieser Welt um die Existenz eines Gottes weiß. Eigentlich hat jeder Mensch – so waren sie überzeugt – irgendein Wissen um Gott. Aber die Reformatoren sahen auch: Der Lauf der Welt ist zweideutig. Manches geschieht, was es einem leicht macht, an einen liebevollen, guten Gott zu glauben. Wenn man sich am Morgen auf den Tag freut, dann fällt dieser Glaube leicht. Aber anderes – wie Naturkatastrophen und Grausamkeiten, die Menschen sich gegenseitig antun – geschieht in dieser Welt, was den Glauben an einen liebevollen, guten Gott unerträglich schwer, gar unmöglich macht. Manche Menschen meinen, Gott strafe sie oder habe sich abgewendet. Gott scheint zu schweigen, vielleicht gar nicht zu existieren. Zur Zeit der Reformation bestand die Irritation darin, dass Krankheiten und Kriege die Menschen verunsicherten und das Ende der Zeiten nahe zu sein schien. Wo kann der Mensch dann erkennen, wie Gott zu ihm steht? Die Antwort der Reformatoren lautet: in Jesus Christus. In ihm kann man Gott ins Herz sehen, er ist der »Spiegel des väterlichen Herzens« [11]. In Jesu Umgang mit seinen Zeitgenossen und in seiner Selbsthingabe am Kreuz wendet sich Gott den Menschen zu. In ihm erkennt man, dass Gott den Menschen liebt und nie alleinlässt.

In Jesus Christus wird deshalb die Beziehung zwischen Gott und Mensch neu konstituiert. Die Reformatoren beschreiben dies dadurch, dass sie sagen, dem Sünder würde in der Rechtfertigung die Gerechtigkeit Christi zugerechnet. Gemeint ist damit zunächst die Diagnose, dass der Mensch den Gerechtigkeitsmaßstäben Gottes nicht entspricht und nicht entsprechen kann, ihnen vielmehr in seinem Verhalten gegenüber Gott und den Menschen ständig widerspricht. Aber Gottes Gerechtigkeit besteht nun nicht darin, den Menschen dafür zu bestrafen, sondern darin, ihm zugutezuhalten, dass Jesus Christus in seinem Leben und Sterben diesen Gerechtigkeitsmaßstäben entsprochen hat. Gottes Gerechtigkeit besteht darin, dem Menschen die Gerechtigkeit Christi zuzurechnen und den Menschen nur im Horizont des Christusgeschehens anzusehen. Zurechnung der Gerechtigkeit Christi heißt Vergebung der Sünden.

Damit die Menschen dies erkennen können, müssen sie von Jesus Christus hören. Die Kirche darf sich nicht mit diesem oder jenem beschäftigen, sondern muss die Geschichte von Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi erzählen. Dafür ist die Kirche da. Jeder Mensch soll die Christusgeschichte hören können. Die Kirche darf aber nicht meinen, das Heilswerk Christi verwalten und beaufsichtigen zu können: »Jeder wahre Christ, lebend oder tot, hat, ihm von Gott geschenkt, teil an allen Gütern Christi und der Kirche, auch ohne Ablassbriefe.« [12]

2.2.3 An wen soll der Mensch glauben? – an Christus allein

Einer der zentralen Kritikpunkte der Reformatoren richtete sich gegen die spätmittelalterliche Heiligenverehrung und Marienfrömmigkeit. Für bestimmte Notlagen betete man zu je anderen Heiligen, Maria wurde intensiv um Hilfe angerufen, ihrer mütterlichen Fürsorge konnte man leichter die eigenen Sorgen anvertrauen als dem fernen Gott. Die Verdienste und die Fürsprache der Heiligen und Mariens sollten dazu beitragen, dass Menschen der göttlichen Gnade teilhaftig werden. Die Verehrung Christi und Gottes trat dahinter zurück: »In gleicher Weise sind auch vor einigen Jahrhunderten die Heiligen, die aus diesem Leben geschieden waren, zu Gottes Mitgenossen gemacht worden, daß sie nun an seiner Statt verehrt, angerufen und gepriesen werden.« [13]

Die Reformatoren kritisieren diese Anrufung anderer Mittler zu Gott. Weil durch Christus allein und ausreichend Heil erwirkt worden ist, sind andere Vermittler des Heils ausdrücklich ausgeschlossen. Die Reformatoren lehnen auch die damalige Vorstellung von einem »Schatz der Kirche« ab, in dem die Verdienste Christi und der Heiligen gesammelt sind und aus dem die Kirche den Sündern etwas austeilt, das ihnen als gute Werke oder Buße angerechnet wird – dies war die Grundlage für das Ablasswesen, dessen Kritik am Anfang der Reformation stand. »Der wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.« [14] Kein bloßer Mensch, auch diejenigen, die wir Heilige nennen, nicht, erfüllt Gottes Gebote in ausreichender Weise. Sie sind genauso Sünder wie alle anderen Menschen auch. Deshalb dürfen sie auch nicht angebetet oder um Hilfe angerufen werden. Nur auf Gott, wie er sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat, soll sich der Glaube richten: »Durch die Schrift mag man aber nicht beweisen, daß man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. ›Denn es ist allein ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und Menschen, Jesus Christus‹ ... welcher ist der einzige Heiland, der einzige oberste Priester, Gnadenstuhl und Fürsprecher vor Gott ... Das ist auch der höchste Gottesdienst nach der Schrift, daß man denselbigen Jesus Christus in allen Nöten und Anliegen von Herzen suche und anrufe.« [15]

2.2.4 Gegenwärtige Herausforderungen

2.2.4.1 Innerkirchliche Herausforderungen – Christus verkündigen

Im Zentrum des christlichen Glaubens steht Jesus Christus. Jesus von Nazareth ist keine theologische Idee, sondern eine historische Person, die von den Christen in einer bestimmten Weise, eben als Christus, geglaubt wird. Der Glaube an diese Person muss vermittelt werden. Man kann an Christus nur glauben, wenn man von ihm gehört hat. Man hört von ihm konkret aber nur in der christlichen Kirche. Die Kirche bewahrt die Erinnerung und den Glauben an Jesus Christus auf, sie tradiert die Geschichte seines Lebens und Sterbens. Sie ist dafür da, den Menschen das Evangelium von Jesus Christus in Wort und Tat zu verkündigen. Denn sie können es sich nicht selbst sagen.

Die innerkirchliche Herausforderung lautet dann: Wie kann Kirche so gestaltet werden, dass in ihr tatsächlich von Jesus als Christus geredet wird, also als dem, in dessen Person, Wort und Werk Gott wie sonst nirgends gegenwärtig ist? Dies bedeutet nicht, dass in jedem Predigtsatz, in jeder kirchlichen Veranstaltung Jesus Christus erwähnt werden muss. Aber ohne den Bezug auf Jesus Christus, auf den Ort, an dem Gott sich nach christlichem Verständnis in besonderer Weise zu erkennen gegeben hat, wird die Kirche keinen Bestand haben.

2.2.4.2 Gesellschaftliche Herausforderungen – sich ehrlich begegnen

Angesichts der Verweltlichung unserer Gesellschaft scheint eine Fokussierung der Kirche auf Jesus Christus wenig hilfreich. Sollte es nicht ausreichen, wenn Menschen überhaupt noch an irgendetwas glauben, an eine höhere Macht oder irgendwie an »Gott«? Zerstört die kirchliche Predigt von Jesus Christus nicht den vorhandenen Glauben, indem sie eine theologische Konzentration fordert? Nun hat ein Glaube, der das Leben eines Menschen wirklich trägt, stets eine bestimmte Gestalt. Ein diffuser Glaube an »irgendeine höhere Macht« hilft auch nur diffus. Die Kirche braucht sich nicht zu scheuen, ihren spezifischen Glauben zum Ausdruck zu bringen. Gerade dadurch kann sie Menschen helfen, einen Glauben zu entwickeln, der so konkret ist, dass er auch in konkreten Situationen hält und trägt.

In einer multireligiösen Gesellschaft, in der die Notwendigkeit interreligiöser Verständigung offensichtlich ist, scheint die Orientierung des christlichen Glaubens an Jesus Christus eine Verhinderung des interreligiösen Dialogs zu sein. Für andere Religionen hat Christus nun einmal nicht die gleiche zentrale Bedeutung wie für das Christentum. Manche fragen: Wäre es nicht besser, im Kontext des interreligiösen Dialoges Christus zu verschweigen und nach religiösen Gemeinsamkeiten zu suchen?

Interreligiöser Dialog funktioniert jedoch nicht, wenn eine Seite ihre Eigentümlichkeiten verbirgt und sich gar nicht als das zu erkennen gibt, was sie ist. Nur wenn sich die Gesprächspartner echt und authentisch begegnen, findet ein interreligiöser Dialog statt: So wie ich meine Überzeugung für wahr halte, hat der andere das Recht, seine Überzeugung für wahr zu halten, und umgekehrt. Die Herausforderung besteht darin, von Christus zu sprechen, aber so, dass dabei nicht der Glaube des anderen abgewertet oder für unwahr erklärt wird. So wie für den Christen das Gehören zu Christus der einzige Trost im Leben und im Sterben ist, so ja auch für den Anhänger der anderen Religion sein spezifischer Glaube. Dies darf auf beiden Seiten des Gespräches anerkannt werden.

2.3 Sola gratia – allein aus Gnade

2.3.1 Theologischer Grundgedanke – Gott neigt sich den Menschen zu

Die Grundeinsicht der Reformatoren lautet, dass Gottes Zuwendung zum Menschen in Jesus Christus allein aus Gnade geschieht. Wir kennen den Begriff »Gnade« in unserem Sprachgebrauch, wenn ein Gefangener begnadigt wird; er kann seine Schuld nicht ungeschehen machen und wird dennoch freigelassen. Wer um Gnade bittet, hofft darauf, dass der andere mit ihm anders umgeht, als er es verdient hat.

Die Reformatoren schließen sich mit ihrer Betonung der Gnade an den Kirchenvater Augustin an, der als Erster eine ausführliche Gnadenlehre entfaltet hat. Sein Kerngedanke lautet: Gnade ist nur dann »Gnade«, wenn Gott sie uns nicht schuldet als Reaktion auf unser Verdienst, sondern wenn er sie uns unverdient gibt. Das bedeutet für den Menschen: Er ist nicht in der Lage, durch bestimmte Taten oder ein bestimmtes Verhalten, sei es gegenüber Gott, sei es gegenüber seinen Mitmenschen, Gottes Zuwendung und Vergebung zu bewirken. Er kann das ewige Leben bei Gott nicht erzwingen. Der Heidelberger Katechismus antwortet auf die 21. Frage: »Was ist wahrer Glaube?« ganz in diesem Sinne: »Wahrer Glaube ist nicht allein eine zuverlässige Erkenntnis, durch welche ich alles für wahr halte, was uns Gott in seinem Wort offenbart hat, sondern auch ein herzliches Vertrauen (Röm 4,16-18; 5,1), welches der Heilige Geist durchs Evangelium in mir wirkt, dass nicht allein andern, sondern auch mir Vergebung der Sünden, ewige Gerechtigkeit und Seligkeit von Gott geschenkt ist aus lauter Gnade, allein um des Verdienstes Christi willen.« [16]

Das Wort »Gnade« bedeutet ursprünglich »sich neigen«. Gott ist den Menschen gnädig, heißt: Er neigt sich dem Menschen zu. Aus Freiheit und Liebe wendet er sich dem Menschen zu. Diese Liebe ist ganz in Gott selbst begründet. Sie richtet sich auf uns als ganze Person, nicht nur auf das, was an uns der Liebe wert ist. Darin unterscheidet sich Gottes Liebe nach Einsicht der Reformatoren von menschlicher Liebe. Während die menschliche, natürliche Liebe sich am Liebenswerten entzündet, richtet sich die Liebe Gottes auf das Nicht-Liebenswerte und schafft es erst so als ein für Gott Liebenswertes: »Die Liebe Gottes findet das für sie Liebenswerte nicht vor, sondern erschafft es. Die Liebe des Menschen entsteht aus dem für sie Liebenswerten.« [17] Ähnlich schreibt Calvin: »Die Schrift spricht es nämlich allenthalben laut aus, dass Gott im Menschen nichts vorfindet, das ihn anreizen könnte, ihm wohlzutun, sondern dass er ihm aus lauter Gnaden mit seiner Güte zuvorkommt.« [18]

2.3.2 Gnade als Kennzeichen des göttlichen Handelns insgesamt

Für die Reformatoren war Gnade das Kennzeichen des göttlichen Handelns insgesamt. Sogar die Schöpfung der Welt sahen sie als einen Akt der Gnade: »Ich glaube an Gott, den Vater, den allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erden. Was ist das? Antwort: Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält ..., ohn all mein Verdienst und Würdigkeit« [19]; »ohn all mein Verdienst und Würdigkeit« heißt nichts anderes als »aus Gnade«. Die alte philosophische Frage: »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?« wird durch den christlichen Glauben mithin so beantwortet: Es gibt diese Welt, weil Gott sie aus Freiheit und Liebe heraus wollte. Er hat die Welt geschaffen, weil er anderem neben ihm das Dasein wohlwollend gönnt. Es gibt eben nichts auf der Seite des Geschöpfes, was den Schöpfer dazu veranlasst haben könnte, das Geschöpf zu schaffen. Gott hat die Geschöpfe geschaffen aus dem Willen heraus, seine Liebe weiterzugeben. Dass es diese Welt gibt, hat seinen Grund allein in der Gnade Gottes.

Und auch das Leben nach dem Tod, auf das die Christen hoffen, ist ein Gnadengeschenk Gottes. Wie im Rechtfertigungsgeschehen, so ist der Mensch auch im Tod ganz von der Gnade Gottes abhängig. Als Toter ist der Mensch nicht mehr in der Lage, seine Beziehung zu Gott oder zu seinen Mitmenschen aufrechtzuerhalten. Im Tod verliert der Mensch alle seine Beziehungen. Doch Gott hält aus Liebe am Menschen fest. Deshalb schenkt er ihm neues, ewiges Leben.

Wenn Gnade das Kennzeichen des göttlichen Handelns insgesamt ist, dann darf das Christusgeschehen, insbesondere Leiden und Sterben Christi, nicht so verstanden werden, als habe Christus ein Verdienst vor Gott erworben, das Gott dann dazu nötige, die Menschen anzunehmen, oder als müsse Gott durch Christus erst gnädig gestimmt werden. Dass Gott den Menschen allein aus Gnade rechtfertigt, besagt, dass die Gnade Gottes schon der Auslöser für die Rechtfertigung durch Christus ist. Christi Leben und Sterben bewirken keinen Gesinnungswandel in Gott, der durch ein wie auch immer zu verstehendes Opfer Christi milde gestimmt werden müsste. Gott selbst hat in Christus am Kreuz gehandelt. Er selbst wollte dem Menschen gnädig sein. Deshalb hat er sich in Christus auf das Leben, Leiden und Sterben der Menschen eingelassen. Er hat die Menschen vom Tod und von ihrer Schuld befreit.

2.3.3 Nicht aus menschlichen Werken

Die Reformatoren kritisierten mit dem »allein aus Gnade«, was sie in ihrer Zeit als »Werkgerechtigkeit« wahrnahmen, also jeden Versuch von Menschen, durch ihr eigenes Tun Anerkennung von Gott zu erwirken. Wenn der Mensch allein aus Gnade gerechtfertigt wird, dann können seine Werke keine, auch nicht die geringste Rolle spielen. »Ist’s aber aus Gnaden, so ist’s nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade sein« (Römer 11,6). Mit diesem weitreichenden Gnadenkonzept grenzen die Reformatoren sich vom mittelalterlichen Verständnis der Gnade als nur einer Stufe im Prozess der Rechtfertigung ab.

Sie richteten sich mit dieser Kontrastierung zunächst gegen die Vorstellung der damaligen Zeit, manche Menschen, nämlich die Angehörigen des geistlichen Standes, die Priester, Nonnen oder Mönche, könnten sich durch ihr besonderes Leben und die Einhaltung von Gelübden ein besonderes Verdienst bei Gott erwerben. Das Problem des damaligen geistlichen Standes sahen die Reformatoren in der Vorstellung, sich damit Seligkeit verdienen zu können: »Denn weil solche Orden, Stifte und Sekten der Meinung (= in der Absicht) gelebt und gehalten werden, dass man durch solche Wege und Werke selig werden will und kann, so sind sie eine öffentliche gräuliche Lästerung und Verleugnung der einzigen Hilfe und Gnade unseres einigen Heilands und Mittlers Jesus Christus.« [20]

Auch die reformatorische Kritik an der damaligen Ablasspraxis ist eine Konsequenz aus dem »sola gratia«. Die Kirche lehrte in dieser Zeit, dass man durch das Sakrament der Buße und die Bitte um Vergebung der Sünden zwar der ewigen Sündenstrafe, der Verdammnis der Hölle, entgehe. Doch müsse man weiter die von Gott aufgrund der Sünde verhängten zeitlichen Sündenstrafen wie Krieg, Krankheit oder Fegefeuer erdulden. Nur durch das Ertragen dieser Strafen werde der Gerechtigkeit Gottes Genüge getan. Verrichtet der Gläubige jedoch die ihm vom Priester bei der Beichte auferlegten religiösen Werke, dann kann er die zeitlichen Sündenstrafen minimieren. Auf genau diese zeitlichen Sündenstrafen richtete sich das damalige Ablasswesen. Es enthielt das kirchliche Versprechen, wer Buße tue und dann einen Ablass kaufe, dem würden die zeitlichen Sündenstrafen erlassen. Dagegen argumentierten die Reformatoren: Gottes Gnade reicht, Gott vergibt dem Menschen, der Mensch wird nicht mehr bestraft.

Der Ausschluss der Werke aus dem Rechtfertigungsgeschehen hat noch einen fundamentaleren Ansatzpunkt. Er soll die grundlegende anthropologische Einsicht zum Ausdruck bringen, dass es dem Menschen unmöglich ist, sich durch sein Tun vor Gott zu rechtfertigen. Das liegt an der grundsätzlichen Struktur des Menschen: Er ist im Kern seines Tuns um sich selbst besorgt. Alles Tun, das er dazu verwenden möchte, um von Gott gerechtfertigt zu werden, bleibt Teil seiner selbstbezogenen Grundstruktur, kann ihn also nicht aus seiner Selbstbezogenheit erlösen. Sein Bemühen, Gott gerecht zu werden, ist stets durch egoistische Heilsinteressen kontaminiert. Selbst moralisch gute Dinge geschehen nach Überzeugung der Reformatoren in einer solchen Grundhaltung: »Die Natur des Menschen rühmt und brüstet sich sogar notwendigerweise innerlich über ein Werk, das dem Ansehen nach und äußerlich gut ist.« [21] Diese selbstbezogene Grundstruktur beeinträchtigt und zerstört die Beziehungen, in denen der Mensch steht: die Beziehung des Menschen zu seinen Mitmenschen und zu der ihn umgebenden Welt, aber auch die Beziehung zu Gott.

Diese Logik wird nur dadurch durchbrochen, dass Gottes Gnade allein und nichts auf der Seite des Menschen der Grund der Annahme des Menschen durch Gott ist. Diese Botschaft ist auch heute noch heilsam. In einer Leistungsgesellschaft wie der unseren wird der Mensch so in seiner alltäglichen Geschäftigkeit heilsam gestört: Er muss nichts leisten, sich und anderen nichts beweisen. So kommt der Mensch zur Ruhe.

Und so wird er frei, frei von den Bemühungen, seine Bedeutsamkeit und Identität selbst sichern zu müssen, und frei für den anderen Menschen, dem er sich nun um dessen selbst willen zuwenden kann. Diese christliche Freiheit unterscheidet sich von einem bestimmten modernen Freiheitsverständnis darin, dass sie keine von anderem unbeeinträchtigte Wahlfreiheit für Beliebiges meint, sondern eine Freiheit, die anderen zugutekommt.

2.3.4 Gegenwärtige Herausforderungen

2.3.4.1 Innerkirchliche Herausforderungen – grundsätzlich Sünder

Der reformatorische Gedanke, dass wir allein aus Gnade gerechtfertigt werden, ist für uns leistungsorientierte Menschen schwer erträglich. Wir wollen zwar, dass unsere Schwächen übergangen und ignoriert werden. Aber wir wollen auch wegen des Guten in uns anerkannt werden. Gott soll uns zwar nicht wegen unserer Schwächen ablehnen, aber er soll uns wegen unserer Stärken schätzen. Die Reformatoren hingegen waren davon überzeugt, dass der Mensch in so grundsätzlicher Weise »Sünder« ist, dass solche Differenzierungen gegenüber Gott unangemessen sind.

Die theologische Herausforderung besteht zweifellos darin, auch weiterhin von »Sünde« zu sprechen. Der Sünder wird begnadigt, nicht der Gerechte. Von Sünde spricht man heute jedoch nicht mehr gern. Entweder wird sie verniedlicht (dann »sündigt« man mit einem Stück Schokolade), oder sie wird moralisch enggeführt, sodass man den Zeigefinger erhebt und andere Menschen für ihr sündiges Verhalten anklagt. Sünder sind immer die anderen.

Der reformatorische Sündenbegriff und das sola gratia haben ihre Pointe aber darin, dass alle Menschen in der gleichen Weise Sünder sind und alle in der gleichen Weise der Gnade bedürftig. Wie kann in der kirchlichen Verkündigung so von »Sünde« gesprochen werden, dass damit eine Grundstruktur des Menschseins beleuchtet wird, die lautet: Wenn der Mensch sich nicht lieben lässt, dreht er sich in einem fort um sich selbst. Er ist in sich selbst verkrümmt (incurvatus in se ipsum) [22].

2.3.4.2 Gesellschaftliche Herausforderungen – Kritik allzu menschlicher Wertvorstellungen

Die Reformation hat Identität und Wert einer Person »allein in der Anerkennung durch Gott begründet gesehen, unabhängig von natürlicher Ausstattung (Geschlecht), gesellschaftlichem Status (Stand), individuellem Vermögen (Erfolg) und religiöser Leistung (Verdienst)«. [23] In dieser Egalisierung der Menschen vor Gott liegt eine transformative Kraft auch für moderne Gesellschaften. Zwar begründen Religion und Geschlecht in modernen Gesellschaften keine Rechtsunterschiede mehr, aber de facto sind sie immer noch Kategorien, nach denen wir Menschen einteilen und bewerten. Gesellschaftliche Herkunft und Erfolg sind zweifellos Kategorien, nach denen wir andere beurteilen. Das reformatorische sola gratia macht diese Unterschiede, die sonst unsere Wahrnehmung und Bewertung anderer Menschen und unserer selbst bestimmen, nachrangig. Es fordert uns heraus, diese Unterscheidungen zu hinterfragen. Sie spielen an manchen Punkten unseres Lebens eine Rolle. Sie sollten aber nicht unseren menschlichen Umgang miteinander bestimmen. Menschen sollten miteinander letztlich unabhängig von diesen Differenzierungen umgehen. Der andere ist nicht durch seinen Erfolg oder seine Leistung definiert, sondern dadurch, dass Gott ihn aus Liebe gewollt hat und nach wie vor will.

In den letzten Jahren ist in unserer durch Medien und wirtschaftliche Logiken geprägten Gesellschaft das Be- und Verurteilen anderer schärfer geworden. Insbesondere Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, identifizieren wir mit ihrem Tun oder Nicht-Tun. Wir kritisieren nicht mehr nur einzelnes Fehlverhalten, sondern begegnen den Betreffenden mit manchmal fast genüsslicher Verachtung. Das sola gratia lehrt uns, zu unterscheiden. Ein Mensch ist mit dem, was er geleistet oder nicht geleistet hat, nicht identisch. Gottes Gnade unterscheidet zwischen Person und Werk. Sie lehrt uns, ebenso zu unterscheiden und auf diese Weise gnädig zu sein.

Dass Gott gnädig ist, heißt nicht, dass die Verfehlungen oder Schandtaten eines Menschen irrelevant sind. Die christliche Vorstellung von einem Jüngsten Gericht bringt dies nachdrücklich zur Geltung. Jeder Mensch muss sich für sein Tun und Lassen verantworten. Der Mensch wird dann dessen ansichtig, was er anderen und manchmal auch sich selbst angetan hat. Doch sind glücklicherweise nicht wir selbst Richter, sondern Jesus Christus. Dies schließt die Hoffnung ein, auch in diesem Gericht letztlich der Gnade Gottes zu begegnen. Schön beschreibt dies der Heidelberger Katechismus: »Was tröstet dich die Wiederkunft Christi, zu richten die Lebenden und die Toten? In aller Trübsal und Verfolgung darf ich mit erhobenem Haupt aus dem Himmel eben den Richter erwarten, der sich zuvor für mich dem Gericht Gottes gestellt und alle Verurteilung von mir genommen hat. Er wird alle seine Feinde, die darum auch meine Feinde sind, in die ewige Verdammnis werfen, mich aber mit allen Auserwählten zu sich in die himmlische Freude und Herrlichkeit nehmen.« [24]

2.4 Solo verbo – allein im Wort

2.4.1 Theologischer Grundgedanke – das verkündigte Wort Gottes

Die Reformatoren haben dem Wort zentrale Bedeutung zugemessen. Sie dachten dabei zunächst an das Wort Gottes. Gott hat durch sein Wort die Welt geschaffen: »Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht« (Genesis 1,3). Er erhält die Schöpfung durch sein Wort. Für die Reformatoren ist aber Jesus Christus als die Selbstoffenbarung Gottes das entscheidende Wort Gottes. In ihm spricht Gott von sich selbst. Hier offenbart er sich. Und hier spricht er den Menschen an. In seiner Person ruft er Menschen zum Glauben auf. Menschen ihrerseits erzählen von diesem Wort. Sie verkündigen das Evangelium von Jesus Christus. Sie predigen über die Geschichten, die Menschen mit Jesus erlebt haben. Die Reformatoren waren überzeugt: »Wenn ... heute dieses Wort Gottes durch rechtmäßig berufene Prediger in der Kirche verkündigt wird, glauben wir, dass Gottes Wort selbst verkündigt und von den Gläubigen vernommen werde ...« [25]

Warum diese zentrale Bedeutung des Wortes? Weil das Wort den Glauben erweckt. Wenn der Mensch das Wort hört, dann entsteht Glaube im Menschen. Der Mensch hört ein Wort und spürt und erkennt: Dieses Wort ist wahr, diesem Wort kann ich vertrauen. Im Wort spricht Gott den Menschen als geistiges, verantwortungsvolles Wesen an. Der Mensch soll verstehen, was es um Gott, den Menschen und seine Welt ist. Er soll die Bedeutung Jesu Christi verstehen. Mit seinem Verstand kann der Mensch dieses Wort nachvollziehen, mit seinem Herzen versteht er es nur, wenn der Heilige Geist ihm das Wort innerlich so aufschließt, dass der Mensch merkt: Hier bin ich gemeint. Darum kann er seinen Glauben in Form eines Bekenntnisses, in dem er zum Ausdruck bringt, was er glaubt, bekennen. Das Wort richtet sich auf den Menschen als Sinnenwesen. In den Sakramenten kommt diese Sinnlichkeit noch stärker zum Ausdruck. Hier kann der Mensch die Verheißung Gottes sogar körperlich schmecken. Die Sakramente sind verbum visibile, sichtbares Wort.

Die Reformatoren haben zwei Weisen des Wortes Gottes unterschieden: Gesetz und Evangelium. Beide begegnen in den biblischen Texten, aber sie sind auch in einer Predigt oder in der Liturgie zu hören. Der Mensch kann sie überdies in seinem Gewissen spüren, besonders, wenn er dieses Gewissen an biblischen Texten hat bilden lassen. Das Gesetz zeigt dem Menschen auf, was er tun soll. Und es zeigt ihm, dass er in allem Bemühen hierbei an seine Grenzen stößt. In seinem Besten, das er tut, vergisst er seine Bezogenheit auf Gott. Die Reformatoren sprachen deshalb davon, dass das Gesetz den Menschen seiner Sünden überführt. Das Evangelium sagt dem Menschen, was Gott für ihn getan hat und noch tun will. Es zeigt dem Menschen, dass Gott ihm seine Sünde vergibt.

2.4.2 Rechtfertigung als von Gott gesprochenes Urteil

Die Rechtfertigung geschieht solo verbo, allein im Wort. Damit ist gemeint, dass die Rechtfertigung ein Urteil ist, das Gott über den Menschen spricht. Weil dem Menschen die Gerechtigkeit Christi zugesprochen wird, wird er für seine Sünde nicht länger durch das Gesetz angeklagt, sondern von Gott freigesprochen. Ihm wird eine »fremde Gerechtigkeit«, eben die Gerechtigkeit Christi zugerechnet. »... Rechtfertigen bedeutet aber an dieser Stelle nach dem forensischen Sprachgebrauch‚ einen Angeklagten freisprechen und ihn für gerecht erklären, aber um einer fremden Gerechtigkeit (aliena justitia) willen, nämlich der [Gerechtigkeit] Christi, welche fremde Gerechtigkeit uns durch den Glauben mitgeteilt wird.« [26] Indem Gott dem Menschen seine Sünden vergibt und ihn deshalb als gerecht beurteilt, ist er für Gott dann auch tatsächlich gerecht. Dies ist wie zwischen zwei Menschen, bei denen der eine dem anderen sagt: »Ich vergebe dir.« In dem Satz selber wird die Vergebung Wirklichkeit.

Diese theologische Figur streicht noch einmal heraus, dass Rechtfertigung etwas ist, was dem Menschen von außen her geschenkt wird. Und dies bleibt das ganze Leben lang so. Der Mensch bleibt dauerhaft darauf angewiesen, dass er von Gott angenommen, geliebt, gerechtfertigt wird.

2.4.3 Rechtfertigung muss dem Menschen gesagt werden

Das solo verbo bringt auf der Seite des Menschen zum Ausdruck, dass ihm das Evangelium von der Rechtfertigung gesagt werden muss. Allein durch das Wort weiß der Mensch von der Gnade Gottes. Der Mensch findet sie nicht in sich selbst. Dass Gott mir bedingungslos nahegekommen ist, dass er mich ohne Vorbedingungen annimmt, d.h. mit mir, so wie ich bin, Gemeinschaft haben will, das ist nichts, was ich in mir als Lebensweisheit vorfinde, sondern es ist etwas, das mir von anderen zugesagt werden muss. In mir selbst finde ich eher Selbstzweifel, ob ich genüge für Gott, ob ich so bin, dass Gott das Zusammensein mit mir ertragen kann, ob nicht andere viel brauchbarer sind für Gott. Was ist mit all den Versäumnissen in meinem Leben oder mit dem, was ich anderen angetan habe? In mir selbst finde ich weder Grund noch Mut, anzunehmen, dass diese Versäumnisse vergeben werden können und ich trotz alledem in Gemeinschaft mit Gott leben darf. Kein Mensch kann sich Vergebung selbst zusprechen. Solches muss mir von außen gesagt werden.

Diese Angewiesenheit auf das dem Menschen gesagte Wort macht die Kirche notwendig als »die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden« [27]. Die Kirche lebt ihrerseits von eben diesem Wort. »Welches ist seine Kirche? Die sein Wort hört.« [28]

2.4.4 Gegenwärtige Herausforderungen

2.4.4.1 Innerkirchliche Herausforderungen – Predigen mit Herz und Verstand

Im evangelischen Gottesdienst spielt das Wort, insbesondere in Gestalt der Predigt, eine zentrale Rolle. Die Betonung der Predigt zeigt, dass es im christlichen Glauben darum geht, Gott, die Welt und sich selbst zu verstehen. Ein sich selbst verstehender Glaube, der beschreiben kann, was und warum er glaubt, kennzeichnet evangelische Frömmigkeit. Dazu dienen die unterschiedlichen religiösen Bildungsangebote in unseren Gemeinden, wie z.B. Glaubenskurse. So zu sprechen, dass Menschen den christlichen Glauben verstehen können, stellt eine tägliche Herausforderung dar. Es muss nach einer Sprache gesucht werden, die intellektuell differenziert und gleichzeitig nicht schichtspezifisch ist. Das gilt auch für die Seelsorge und den kirchlichen Unterricht.

Doch dass in der evangelischen Frömmigkeit das Wort eine so wichtige Rolle spielt, bedeutet keine Reduktion des Glaubens auf etwas rein Verstandesmäßiges. Mit einem Wort angesprochen zu werden erzeugt eine Herzensgewissheit, die der Kopf noch nicht eingeholt hat.

2.4.4.2 Gesellschaftliche Herausforderungen – Reden hat seine Zeit

In einer Gesellschaft, die vorrangig von Bildern bestimmt wird, die geradezu von Bildern überflutet ist, scheint die Konzentration der evangelischen Kirche auf das Wort abständig zu sein. Kann die Orientierung am Wort angesichts der Wende zur fast zwanghaften Verbildlichung, bei der ein Blick bereits das Ganze erfasst und ohne ansprechende, schnelle Bilder kein Produkt mehr angepriesen werden kann, beibehalten werden, wenn die Menschen in ihrer Lebenswelt vom Evangelium erreicht werden sollen?

Zunächst ist mit der Konzentration auf das Wort ja nicht gemeint, dass die evangelische Kirche die anderen Sinne negiert. Auch in ihren Gottesdiensten gibt es etwas zu sehen und zu schmecken und in der Musik – oft auch wortlos – zu hören. Manche übertriebene Engführung, die alles außer »dem Wort« vernachlässigt, weil man in den evangelischen Traditionen alles andere für Ablenkung hielt, ist heute überwunden.

Gleichzeitig stellt die Wortorientierung der evangelischen Kirche eine besondere Chance für unsere Gegenwart dar. Um Worte zu hören, brauchen wir Zeit. Wir erfassen Worte nicht auf einen Blick; man muss zumindest den ganzen Satz abwarten. Zum Reden und Hören gehört immer auch das Schweigen. Die evangelische Kirche kann mit ihrer Orientierung am Wort ein Ort werden, der Menschen Zeit gibt und Konzentration ermöglicht. »Schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit« (Prediger 3,7).

2.5 Sola scriptura – allein aufgrund der Schrift

2.5.1 Theologischer Grundgedanke

Die Zuspitzungen der drei bisher genannten Exklusivpartikel wollten jeweils etwas anderes aus dem Rechtfertigungsgeschehen ausschließen. Sie richteten sich damit kritisch gegen damalige Fehlentwicklungen und riefen zur Reform auf. Diese kritische Perspektive machte eine eindeutige Richtschnur für theologische Aussagen und kirchliche Praxis erforderlich. Woraus kann man christliche Theologie ableiten? Was ist die Erkenntnisquelle christlicher Überzeugungen?

Um der ursprünglichen Botschaft des Christentums jenseits kirchlicher Sonderlehren wieder nahezukommen, wandten sich die Reformatoren den ältesten Dokumenten, der Bibel, zu. Die Bücher des Alten und des Neuen Testamentes nahmen sie als Richtschnur (griechisch kanon) für ihr Denken. »In Glaubensfragen haben die Päpste, die Konzilien und die gesamte Kirche kein Recht, etwas zu verändern oder festzulegen, sondern die Artikel des Glaubens müssen schlicht und einfach an der Vorschrift (Urschrift) der Hl. Schrift überprüft werden.« [29] Sie folgten darin dem humanistischen Impuls der damaligen Zeit, zurück zu den geistesgeschichtlichen Quellen zu gehen (lateinisch: ad fontes). Wie in den anderen universitären Fächern wurde auch in der Theologie nach den ältesten Texten gefragt und diese in der ursprünglichen Sprache gelesen, um den Anfängen besonders nahezukommen. Die Arbeit humanistischer Gelehrter wie Erasmus von Rotterdam, der 1516 eine Neuausgabe des griechischen Urtextes des Neuen Testamentes vorlegte, war dabei eine unverzichtbare Grundlage.

Neben diese geistesgeschichtliche Begründung im Rückgang auf die biblischen Texte trat bei den Reformatoren eine theologische. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht das Evangelium von Jesus Christus. Christus aber ist nur in der Schrift zu finden. Die neutestamentlichen Texte haben in den Berichten von seinem Leben, Sterben und Auferstehen wie in ihrer Reflexion darüber ihr Zentrum. Und die alttestamentlichen Texte, so waren die Reformatoren überzeugt, sprechen die Verheißungen aus, die dann in Christus erfüllt wurden.

2.5.2 Wort Gottes, nicht Tradition

Auch die Theologie vor der Reformation setzte sich mit biblischen Texten auseinander. Aber sie las sie durch die Brille mündlicher Überlieferungen, Meinungen von Kirchenvätern sowie kirchlicher Konzilsentscheidungen hindurch, die ihrerseits als Autoritäten galten. Die »Tradition« formte so theologische Aussagen mit. Für die meisten mittelalterlichen Denker stand sie in einer selbstverständlichen Harmonie mit der Heiligen Schrift. Nur gelegentlich blitzte in Auseinandersetzungen auf, dass diese Voraussetzung irrig sein könnte. Erst die Reformatoren haben, durch die humanistische Bildung geschult, die Differenz zwischen Schrift und Tradition kritisch benannt.

Indem sie die Schrift als alleinige Richtschnur zum Maßstab der kirchlichen Lehre machten und so gegen solche Traditionen stellten, die mit ihr nicht vereinbar sind, wollten sie den christlichen Glauben von den Einflüssen durch menschengemachte theologische Lehren und Frömmigkeitstraditionen befreien. Das sola scriptura richtet sich also gegen einen mit der Schrift in Konkurrenz stehenden Autoritätsanspruch der Kirche. Alle kirchlichen Lehren, die mit den biblischen Texten nicht vereinbar sind, wie z.B. die Vorstellung von einem Kirchenschatz aus »überschüssigen« Verdiensten aufgrund guter Werke Christi und der Heiligen, werden von ihnen deshalb abgelehnt. Auch die damals übliche Argumentation mit der Begründung von Positionen durch antike Kirchenväter hat bei ihnen keine letzte Autorität. Entscheidend ist allein, ob eine Aussage den biblischen Texten entspricht. So wird die Schrift zum kritischen Gegenüber der Kirche. An ihr sind kirchliche Lehre und kirchliche Praxis immer wieder neu zu messen.

Die Reformatoren nannten die Bibel »Wort Gottes«. Das steht aber schon im sechzehnten Jahrhundert nicht im Gegensatz zu der Einsicht, dass diese Texte von Menschen verfasst worden sind. Menschen haben in ihnen aufgeschrieben, was »Gott ... durch Orakel und Gesichte kundgetan oder ihnen durch Vermittlung und Dienst von Menschen mitgeteilt hat«; dabei war »in ihr Herz die Lehre mit solch unerschütterlicher Gewissheit eingegraben ..., daß sie fest überzeugt waren und klar sahen: was sie erfahren hatten, das kam von Gott« [30].

Den Reformatoren wurde der Vorwurf gemacht, hier liege ein Selbstwiderspruch vor, weil die Autorität der Schrift doch erst durch die Kirche gestiftet werde und man die Bibel nur deshalb lese, weil sie in der Kirche so hoch geschätzt werde. Sie wandten dagegen ein, dass die Kirche der Schrift nur deshalb so hohe Autorität einräumt, weil sie ihre Autorität erlebt hat. Beim Lesen der Texte macht man eine ähnliche Erfahrung wie die Schreiber damals. Wir fühlen uns hier in einer Weise angesprochen, dass wir sagen können: Hier begegnet Wahrheit. »Die Wahrheit der Schrift erweist sich ganz von selbst und ist darum nicht weniger deutlich als die Farbe an einem weißen oder schwarzen, der Geschmack an einem süßen oder bitteren Ding.« [31]

2.5.3 Leben mit der Schrift

Für die Reformatoren ist keine kirchliche Autorität als Garant der richtigen Schriftauslegung erforderlich. Jeder Christ ist selbst in der Lage, die biblischen Texte zu verstehen. Das meint der viel zitierte Satz: »Die Heilige Schrift legt sich selbst aus.« [32] In ihr sind die Worte zu finden, die der Mensch zum Leben braucht. Jeder Christ soll deshalb mit der Bibel leben, er soll in ihr lesen und in sie hineinkriechen wie ein Hase in die Zuflucht, in der er wohnt: »kriech hinein und bleib drinnen wie ein Hase in seiner Steinritze« [33].

Damit jeder Christenmensch selbst in der Bibel lesen kann, haben die Reformatoren die biblischen Texte in ihre Muttersprache übersetzt. Martin Luther war nicht der Erste, der eine Bibelübersetzung vorlegte, aber seine Übersetzung war von besonderer Wirkmächtigkeit. Hierzu trug bei, dass er sich einer Sprache bediente, die in ganz Deutschland verständlich war. Zudem hat er sich um eine plastische Ausdrucksweise bemüht, die auch für einfache Menschen verstehbar war. Luthers Devise lautete: »Man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den einfachen Mann auf dem Markt danach fragen und denselben aufs Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen; dann verstehen sie es auch und merken, dass man Deutsch mit ihnen redet.« [34] So fand seine Bibelübersetzung schnell großen Anklang. Durch Luthers Übersetzungsarbeit und die durch den Buchdruck ermöglichte weitere Verbreitung seiner Bibeln setzte sich im Reich bald die von ihm dabei verwandte deutsche Sprachform durch. Luther kann als Wegbereiter der neuhochdeutschen Sprache angesehen werden.

Wichtig für ein rechtes Verständnis des reformatorischen sola scriptura ist, dass damit kein Biblizismus beabsichtigt war, der auf einzelne Verse pocht und sie als von Gott diktiertes Wort versteht. Man darf nicht »ein Wort herauszwacken und darauf pochen, man muss die Meinung des ganzen Textes, wie er aneinanderhängt, ansehen« [35]. Man muss nach dem Sinn und der Stoßrichtung der Texte fragen.

Wie gelegentlich schon mittelalterliche Denker, vor allem aber die Humanisten, kennt Luther auch schon eine kritische Auseinandersetzung mit der Bibel. Dort, wo Texte nicht den Glauben an Christus befördern, sondern ihn behindern, sind sie zu tadeln. Die Schrift muss von ihrer inhaltlichen Mitte her verstanden werden. Luther meinte deshalb besonders den Jakobusbrief, der die Rechtfertigungslehre verdunkle, kritisieren zu müssen. Auch gegenüber der Johannes-Offenbarung war Luther skeptisch; er könne nicht spüren, dass dieser Text »vom Heiligen Geist eingerichtet sei« [36].

Weil durch eigenständige Schriftlektüre jetzt jeder Christ darüber urteilen konnte, ob das, was ihm die Kirche sagt, dem Evangelium entspricht oder nicht, bildeten sich in der Reformationszeit neue kirchliche Strukturen. An die Stelle hierarchischer kirchlicher Strukturen trat die zentrale Rolle des Predigtamtes, das der einzelne Pfarrer ausübte. Für die äußere Verwaltung fand man unterschiedliche Lösungen. So konnte man im Luthertum in Konsistorialverfassungen auf die landesherrliche Verwaltung zurückgreifen. Dieser Weg war für die reformierten Kirchen in den Niederlanden und in Frankreich, die sich in Auseinandersetzung mit katholischen Obrigkeiten entwickelten, nicht gangbar. Hier wurden unabhängige Synoden eingesetzt, in denen auch Nichttheologen vertreten waren. Nach 1918 erhielten auch in allen anderen Landeskirchen Deutschlands Synoden mit einem starken Laienanteil die zentralen Entscheidungskompetenzen.

Die reformatorische Lehre vom sola scriptura wendet sich gegen manche spiritualistischen Entwicklungen der damaligen Zeit, bei denen Menschen meinten, eine direkte Eingebung vom Heiligen Geist zu haben, ohne Bindung an das biblische Wort. Damit ist aber beliebigen Eigeninterpretationen Tür und Tor geöffnet. Die Orientierung an Christus ist so nicht mehr gewährleistet. Deshalb schärfen die Reformatoren ein: Es ist »fest darauf zu bleiben, daß Gott niemandem seinen Geist oder seine Gnade gibt ohne durch oder mit dem vorher ergehenden äußeren Wort. Damit hüten wir uns vor den Enthusiasten, d.h. vor jenen Geistern, die sich rühmen, ohne und vor dem Wort den Geist zu haben, und danach die Schrift oder mündliches Wort zu richten, deuten und nach ihrem Gefallen zurechtbiegen.« [37]

2.5.4 Gegenwärtige Herausforderungen

2.5.4.1 Innerkirchliche Herausforderungen – Wahrheit zum Leben

Das sola scriptura lässt sich heute nicht mehr in der gleichen Weise verstehen wie zur Reformationszeit. Anders als die Reformatoren ist man sich heute dessen bewusst, dass das Entstehen der einzelnen biblischen Texte und des biblischen Kanons selber ein Traditionsvorgang ist. Die alte Entgegensetzung von »die Schrift allein« und »Schrift und Tradition«, die noch die Reformation und Gegenreformation bestimmte, funktioniert heute nicht mehr so wie im sechzehnten Jahrhundert. Aber dennoch gilt: »Nach evangelischer Auffassung müssen sich die Traditionen immer am Ursprungszeugnis der Schrift und ihrer Mitte orientieren, sie müssen von hier aus kritisch bewertet und immer neu angeeignet werden.« [38]

Seit dem siebzehnten Jahrhundert werden die biblischen Texte historisch-kritisch erforscht. Deshalb können sie nicht mehr so wie zur Zeit der Reformatoren als »Wort Gottes« verstanden werden. Die Reformatoren waren ja grundsätzlich davon ausgegangen, dass die biblischen Texte wirklich von Gott selbst gegeben waren. Angesichts von unterschiedlichen Versionen eines Textabschnitts oder der Entdeckung verschiedener Textschichten lässt sich diese Vorstellung so nicht mehr halten. Damit aber ergibt sich die Frage, ob, wie und warum sola scriptura auch heute gelten kann.

Deutlich sollte geworden sein, dass das reformatorische sola scriptura nicht die Stoßrichtung hat, nur der nehme die Schrift ernst, der sie als Wort für Wort von Gott gegeben verstehe. Wie aber ist dann die Schrift auch heute noch als Wort Gottes zu denken? Warum spielt die Bibel auch im gegenwärtigen kirchlichen Leben eine zentrale Rolle? Zunächst deshalb, weil wir aus diesen Texten über den Gott Israels und den Vater Jesu Christi wissen. Darum werden im christlichen Gottesdienst biblische Texte gelesen und sie werden in Predigten ausgelegt. Für viele evangelische Christen ist die regelmäßige Bibellektüre, sei es für sich allein zu Hause, sei es mit anderen, ein wichtiges Element ihres Glaubens. Offenbar ist dies deshalb der Fall, weil Menschen immer wieder bemerken, dass sie durch diese Texte in besonderer Weise angesprochen werden. In ihnen haben sich menschliche Erfahrungen mit Gott so verdichtet, dass andere Menschen sich und ihre Erfahrungen mit Gott darin wiederentdecken können. »Dass diese Schriften für uns ... mehr sind als historische Dokumente für die religiösen Überzeugungen in Israel, im frühen Judentum bzw. in einer kleinen Gruppe von Menschen, die sich im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung auf einen am Kreuz hingerichteten jüdischen Wanderprediger namens Jesus von Nazareth beriefen, liegt daran, dass wir – wie die Christen und Christinnen vor uns – in ihren Worten die immer neu wirksame und bleibend lebendige Stimme Gottes hören.« [39] Anders formuliert: Bis heute werden Menschen in, mit und unter diesen Texten angesprochen und im Innersten berührt – gerade so, wie dies in der reformatorischen Theologie als Charakteristikum des Wortes Gottes wieder und wieder beschrieben wurde. In diesem Sinne können diese Texte daher auch heute noch als »Wort Gottes« angesehen werden. Das ist kein abstraktes Urteil, sondern eine Beschreibung von Erfahrungen mit diesen Texten: Auch heute spüren Menschen beim Lesen oder Hören dieser Texte – nicht jedes Mal automatisch, aber immer wieder –, dass sie Wahrheit enthalten, Wahrheit über sie selbst, die Welt und Gott, die ihnen zum Leben hilft. Deshalb bilden diese Texte nach wie vor den Kanon der Kirche.

2.5.4.2 Gesellschaftliche Herausforderungen – Umgang mit heiligen Texten

In der Moderne setzt die Orientierung an einem alten Text alle Schriftreligionen dem Ideologieverdacht aus. Anstatt autonom ein Urteil über den rechten Glauben und das rechte Leben zu fällen, lesen Menschen in einem alten kanonischen Text nach.

Die christliche Kirche hat in den vergangenen Jahrhunderten einen wissenschaftlich-reflektierten Umgang mit ihrer Heiligen Schrift entwickelt, der den Rationalitäts- und Textauslegungsstandards anderer Wissenschaften in nichts nachsteht, sie an etlichen Stellen sogar erst ausgelöst hat. Gleichzeitig sind die biblischen Texte Quelle von Glauben und Leben. Das Wie und Warum muss dabei hermeneutisch immer wieder geklärt werden.

Diese besondere Kompetenz kann die christliche Kirche in den Dialog mit anderen Schriftreligionen, insbesondere mit dem Islam in Europa, einbringen. Sie kann zeigen, dass eine historische, kritische Herangehensweise an heilige Texte nicht den Glauben zerstören muss. Außerdem kann sie durch ihren Bezug auf biblische Texte in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eindrucksvoll aufzeigen, wie kulturelle Traditionen bewahrt und eingebracht werden können.

2.6 Sola fide – allein durch den Glauben

2.6.1 Theologischer Grundgedanke – kein himmlisches Marionettentheater

Wenn Gott in der Rechtfertigung bereits so viel getan hat, wie ist dann der Mensch in die Rechtfertigung einbezogen? Sola fide – allein durch den Glauben. Gottes Handeln allein in Christus, allein aus Gnade und allein mit dem Wort entspricht auf der Seite des Menschen der Glaube. Die Rechtfertigung ist ja kein himmlisches Marionettentheater. Sie geschieht nicht einfach. Sie wird nur dann für einen Menschen wirklich, wenn sie in seinem Leben ankommt. Dies geschieht im Glauben. Glauben ist eine neue existenzielle Haltung Gott und sich selbst gegenüber. Im Glauben lässt der Mensch seine Rechtfertigung durch Gott zu und versteht sich von ihr her. Glauben heißt Ja sagen dazu, dass man selbst nichts dazu beitragen kann, dass Gott gnädig ist. Glauben heißt Ja zur Liebe Gottes sagen. Im Glauben nimmt der Mensch seinerseits an, dass Gott ihn trotz allem angenommen hat.

Allein durch den Glauben heißt eben »nicht durch Werke«. Der Mensch muss sich Gottes Gnade gefallen lassen, er muss aushalten, dass er selbst nichts zu seiner Rechtfertigung beitragen kann.

Gott spricht den Menschen in seinem Wort an. Durch dieses Wort entsteht der Glaube. Der Mensch verlässt sich auf dieses Wort und lässt sich in seinem Selbstverständnis von ihm unterbrechen.

Wenn der Mensch Gott glaubt und sich also Gottes Gnade und Güte gefallen lässt, dann lässt er Gott Gott sein. Gott will dem Menschen Gutes geben. Er will ihn beschenken. Im Glauben lässt der Mensch dies zu.

2.6.2 Glaube ist kein menschliches Werk, sondern von Gott gewirkt

Für den Menschen ist es schwer, nichts zu seiner Anerkennung durch Gott beitragen zu können. Deshalb liegt es nahe, zumindest den Glauben als das anzusehen, was der Mensch »machen« kann. Der Mensch scheint dann wegen seines Glaubens von Gott anerkannt zu werden, scheint um seines Glaubens willen vor Gott gerecht zu sein. Der Glaube darf aber nicht unversehens zu einem Werk werden, das ein Mensch vor Gott in die Waagschale werfen kann. Deshalb haben die Reformatoren sich gegen die Vorstellung gewandt, der Glaube sei eine freie Entscheidung des Menschen. Denn dann könnte diese freie Entscheidung als das Werk angesehen werden, das der Mensch vollbringen muss, um gerechtfertigt zu werden. Die Reformatoren haben deshalb darauf insistiert, dass der Mensch Glauben nicht aus sich selbst heraus hervorbringen kann. Sie sagten dazu, der Glaube sei von Gott oder vom Heiligen Geist gewirkt. Es liegt an der Gnade Gottes, wenn ein Mensch glauben kann. Das Gleiche war gemeint, wenn sie davon redeten, dass der Glaube durch das Wort gewirkt wird. Wenn der Mensch das Wort hört, dann beglaubigt es sich selbst dem Menschen: »Das Wort für sich selbst muss dem Herzen genugtun, den Menschen umschließen und berühren, dass er, wie darin gefangen, fühlt, wie wahr und recht es sei, auch wenn alle Welt, alle Engel, alle Fürsten der Welt es anders sagten, ja, wenn Gott selbst es anders sagte.« [40]

Zu glauben ist also keine Leistung des Menschen. Der Mensch muss sich nicht einen bestimmten Glauben abzwingen. Er darf darauf vertrauen, dass Gott ihm hilft zu glauben. Glaube ist aber zugleich immer auch tätiger Glaube, da er durch den Heiligen Geist ohne Zwang »willig und lustig wird, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden« [41]>. Gute Werke entstehen sozusagen ganz selbstverständlich, quasi automatisch aus dem Glauben.

2.6.3 Priestertum aller Glaubenden

Das Einzige, was angesichts der Rechtfertigung auf Seiten des Menschen geschehen kann, ist, dass er glaubt. Dies geschieht aufgrund göttlichen Wirkens und ist daher unabhängig von Bildung und sozialem Status. Glauben wird einem sogenannten Laien genauso geschenkt wie ausgebildeten Theologinnen oder leitenden Geistlichen. Deshalb sind für die Reformatoren alle Christen gleich. Es gibt keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen ihnen. »Man hat erfunden, dass Papst, Bischof, Priester, Klostervolk der geistliche Stand genannt wird, welches gar eine feine lügnerische Erfindung und Schein ist; doch davon soll sich niemand einschüchtern lassen, und das aus dem Grund: Denn alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes und es gibt unter ihnen keinen Unterschied. Dies liegt daran, dass wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben und sind gleiche Christen; denn die Taufe, Evangelium und Glauben, die machen allein geistlich und Christenvolk ... Demnach so werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht.« [42] Deshalb leben alle Christen im »geistlichen Stand« und gibt es ein »Priestertum aller Glaubenden«. Das meint, wie bereits angedeutet, dass es in einer reformatorischen Kirche keinen durch ein eigenes Sakrament konstituierten Stand eines Weihepriestertums gibt, sondern das Recht der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung nach kirchenrechtlich geordneten Verfahren bestimmten Personen unter Fürbitte der ganzen Gemeinde übertragen werden kann. Darum werden evangelische Pfarrer und Pfarrerinnen nicht geweiht, sondern ordiniert.

Diese Einsicht hat zu einer völligen Neuordnung des kirchlichen Wesens, ja überhaupt erst zu der gesellschaftlichen Umgestaltung durch die Reformation geführt. Jeder Christ steht als Priester unmittelbar vor Gott. Kein weiterer Mittler zu Gott ist nötig. Jeder Christ kann selbständig über die rechte Lehre urteilen. Jeder Christ kann Sünden vergeben und das Evangelium verkündigen. Dies ist nicht die Aufgabe nur einer besonderen Gruppe von Menschen. Und jeder Christ kann im Prinzip die Sakramente verwalten, d.h. die Taufe spenden und das Abendmahl austeilen. Nur um der Ordnung willen gibt es Pfarrerinnen und Pfarrer, die die Aufgaben, die alle Christen haben, in besonderer Weise, nämlich dafür qualifiziert und öffentlich dazu berufen, ausüben. Ihnen wird von der Gemeinde das Amt übertragen, das die Angemessenheit und Kontinuität von Evangeliumspredigt und Sakramentsverwaltung sicherstellen soll. Sie besitzen keine besondere geistliche Qualität, wohl aber eine besondere Berufung. Vom Evangelium zu reden bleibt die Aufgabe aller.

2.6.4 Gegenwärtige Herausforderungen

2.6.4.1 Innerkirchliche Herausforderungen – alle Christen verkündigen das Evangelium

Immer wieder sind vom Priestertum aller Glaubenden im evangelischen Christentum kraftvolle Impulse ausgegangen. Gleichzeitig war das kirchliche »Amt« unverzichtbar. Pfarrer und Pfarrerinnen sind durch ihre theologische und praktische Ausbildung in professioneller Weise für Predigt und Seelsorge zuständig und bringen ihre berufliche Zeit in die Kirche ein. Allerdings besteht die Gefahr, dass sich die Gemeinde von den Hauptamtlichen einfach nur versorgen lässt. Dabei gerät leicht ins Vergessen, dass alle Christenmenschen das Evangelium verkündigen und füreinander da sein sollen.

Ob und wie ein Mensch glaubt, ist den Augen verborgen. Wie sehr er sich kirchlich engagiert oder ob er sich nicht engagiert, sagt nichts über seinen Glauben aus. Diesen sieht allein Gott. Volkskirchliche Strukturen tragen diesem Sachverhalt theologisch Rechnung. Sie ermöglichen unterschiedliche Beteiligungsformen und -intensitäten in der Kirche und beurteilen nicht, ob ein Mensch genug glaubt, um dazuzugehören. Alle Bemühungen um eine rege Beteiligungsgemeinde dürfen nicht dazu verleiten, nur diejenigen, die intensiv mitarbeiten, als richtige Christen anzusehen. Allein der Glaube reicht, um Christ zu sein. Und um diesen weiß allein Gott.

2.6.4.2 Gesellschaftliche Herausforderungen – nicht untätig bleiben

Glaube steht im Zentrum des Christentums. Nur in ihm, nicht durch seine Werke ist der Mensch an der Rechtfertigung beteiligt. Doch der Glaube bleibt nicht untätig. Die Reformatoren meinten sogar: Glaube kann nie untätig bleiben. Aus Dankbarkeit und Liebe heraus handelt der Glaubende fortan um des Nächsten willen, um ihm das Gute zu tun, was er selbst erfahren hat. Quasi von selbst vollbringt der Glaube gute Werke. Deshalb gehören diakonisches Handeln und gesellschaftliches Engagement wesentlich zum christlichen Glauben hinzu. Gerade wenn die Religionskritik in der Gesellschaft stärker wird, soll die Kirche die Lebensgestaltungskraft des Glaubens sichtbar und erlebbar machen, zum Beispiel in evangelischen Schulen oder in diakonischen Einrichtungen, in denen jeder Mensch in seiner ihm von Gott verliehenen Würde anerkannt wird.

Evangelisches Christsein ist geprägt von der Rechtfertigung allein durch den Glauben, ohne Werke. Dieser Glaube lässt Gott Gott sein. Und er drückt sich aus, indem die Welt mit »guten Werken« gestaltet wird zur Ehre Gottes: Soli Deo gloria.

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