Rechtfertigung und Freiheit

4. Schluss

Bei der Reformation ging es im Kern um das Verhältnis zwischen Gott und Mensch – und damit um die stets aktuelle Frage, wie der Mensch sich selbst verstehen sollte. Selbstverständlich war nie an eine bloß geistige Veränderung dieses Verhältnisses gedacht, wie ein Satz von Ulrich Zwingli deutlich macht: »Ich verstehe hier unter ›Religion‹ die ganze Frömmigkeit der Christen, nämlich Glauben, Lebensweise, Gebote, gottesdienstliche Ordnungen, Sakramente.« [52] In Gestalt der Zentrierung auf Christus (solus Christus), der Wiederentdeckung des gnädigen Gottes (sola gratia), der grundlegenden Bedeutung eines von ihm geschenkten Glaubens (sola fide), der allein im mündlichen Wort geschenkt wird (solo verbo), und der Konzentration auf die Schrift (sola scriptura) wurde ein weitreichender und bald überhaupt nicht mehr auf Theologie oder Kirche beschränkter Paradigmenwechsel initiiert. Dieser Paradigmenwechsel einer theologischen Elite löste einen Mentalitätswechsel breiter Schichten aus, der die Verfassungsordnung und die Lebenswirklichkeit unserer eigenen Gesellschaft wie auch vieler anderer zutiefst prägt.

Mit einer solchen Sichtweise wird das Reformationsjubiläum 2017 vor dem Hintergrund von Grundüberzeugungen beschrieben, die einen weitgehenden gesellschaftlichen Konsens in unserer Gesellschaft darstellen. Es ist immer wieder nötig, an diese Grundüberzeugungen zu erinnern, um im pluralen, zunehmend auch multireligiösen Staat den Frieden, die Menschenwürde und die gegenseitige Achtung voreinander zu wahren. Auch solchen zivilreligiösen Zwecken darf ein Reformationsjubiläum dienen. Aber die Erinnerung an die Reformation geht darin selbstverständlich nicht auf. Was die reformatorischen Kirchen mit dem Reformationsjubiläum in die gegenwärtigen Debatten einbringen, ist die Erinnerung daran, dass Freiheit – die Grundlage des pluralen, demokratischen Rechtsstaates – nicht im Menschen selbst ihre letzte Begründung findet: Wenn der Mensch von sich selbst die Begründung für seine eigene Würde und die darin gründende Freiheit verlangt, verkennt er, dass Würdigung stets nur von außen gegeben werden kann. Die Botschaft von der Freiheit in und durch Gott löst auch von allen zwanghaften Bemühungen, sich durch eigene Anstrengung, durch sozialen Status und Erfolg Anerkennung und Würde zu erwerben. Würde und Anerkennung können nicht auf solchen eigenen Handlungen beruhen. Denn ihnen liegt auch im alltäglichen Leben Liebe zugrunde, die unverfügbar ist. Wo sie erfahren wird, kann sie immer nur ein Geschenk sein.

So verstanden, kann das Reformationsjubiläum 2017 mit seinen Feiern an wesentliche Einsichten über Freiheit in der Kirche, aber auch in der ganzen Gesellschaft erinnern, sie wachhalten und zugleich auch intensivieren und erneuern. So können aber auch die evangelischen Christenmenschen in aller Welt im Jahr 2017 die Botschaft von der in der Rechtfertigung begründeten Freiheit als Christusfest feiern. Sie tun dies gemeinsam mit ihren römisch-katholischen und orthodoxen Glaubensgeschwistern in einer durch lange ökumenische Gespräche begründeten Gewissheit, dass alle miteinander jenseits von Streitigkeiten und Spaltungen die gemeinsame Grundlage im Evangelium von Jesus Christus erkennen und anerkennen können. Und evangelische Christenmenschen tun dies im freundschaftlichen Dialog und herzlichen Einvernehmen mit dem modernen säkularen Rechtsstaat und seinen Bürgerinnen und Bürgern unterschiedlicher Religion und Weltanschauung – sie tun es in dem fröhlichen Bewusstsein, dass die reformatorische Freiheitsbotschaft zur Entstehung eben dieses Rechtsstaats beigetragen hat.

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