"Und unsern kranken Nachbarn auch!"

Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik. Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2011, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05964-8

C.II. Professionen und soziale Netze: Professionelle Verantwortung stärken und soziale Netze aufbauen

  1. Die professionelle Verantwortung der Gesundheitsberufe ist eine Ressource, die stärker für das Gesundheitswesen genutzt werden muss. Ärztliche Selbstverwaltung muss mehr sein können als ökonomische Interessenvertretung. Die nichtärztlichen Pflege- und Therapieberufe müssen gestärkt und mit einer eigenständigen beruflichen Selbstverwaltung in das Gesundheitswesen eingebunden werden.
  2. Die fachlichen Grundlegungen zur Qualitätsentwicklung und Qualitätsprüfung durch wissenschaftlich unabhängige Institutionen sind zu verbessern. Im Unterschied zur Medizin, die mit dem gemeinsamen Bundesausschuss über eine institutionell verankerte Plattform für autonome Entscheidungen verfügt, existiert für die Pflege bislang noch keine entsprechende Instanz zur autonomen Entwicklung und Überprüfung fachlicher Standards zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung. Institutionalisierte Strukturen, zu denen auch leistungsfähige wissenschaftliche Fachgesellschaften und gesetzlich eingerichtete Kammern gehören, bilden jedoch eine zentrale Voraussetzung für die Pflege, die Entwicklung wissenschaftsbasierter Qualitätskriterien in Form von Standards oder Leitlinien in der Eigenverantwortung der Profession, deren Verbesserung und Verstetigung. Angesichts der Tatsache, dass die unbedingt wichtigen Professionsüberlegungen nicht frei von Professionsinteressen im Sinne institutioneller Interessen sind und dass dabei durchaus auch um ökonomische Privilegien gestritten wird, ist darüber hinaus eine verstärkte berufsbezogene Kontrolle notwendig.
  3. Die Sicherstellung der benötigten pflegerischen Hilfen erfordert die Gewinnung einer ausreichenden Anzahl hierfür qualifizierter Beschäftigter. Nur durch eine verbesserte Durchlässigkeit in den Ausbildungsgängen durch Schaffung gestufter Ausbildungsgänge und die Finanzierung von sozialpädagogischen Begleitmaßnahmen können auch gering qualifizierte Interessenten für die Pflege gewonnen und ihnen Qualifizierungschancen ohne Absenkung der Versorgungsqualität und persönlicher Überforderung gegeben werden. Gleichzeitig ist die Anschlussfähigkeit an eine akademische Ausbildung zu verbessern, um die Attraktivität des Berufsfeldes auch für potenziell Interessierte mit einem höheren Schulabschluss zu erhöhen.
  4. Eine Abgrenzung der Kernbestandteile pflegerischer Tätigkeit in horizontaler (Abgrenzung zur Medizin und der Sozialen Arbeit) wie auch in vertikaler Hinsicht (zwischen Fach- und Hilfskräften) steht noch weitgehend aus. Damit fehlt aber eine Grundlage für die immer bedeutendere multiprofessionelle Arbeit.
  5. Eine Verringerung des Personalnotstands in den Pflegeberufen und die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen Versorgung erfordern ein Engagement unterschiedlicher Akteure und Verantwortlichkeiten.
    • Die gesetzlich beschlossene Absenkung der Zugangsvoraussetzungen für die Altenpflegeausbildung ist von Gesetzgebern und Ausbildungsstätten durch die Schaffung gestufter Ausbildungsgänge und die Finanzierung von sozialpädagogischen Begleitmaßnahmen abzufedern. Nur so können den anvisierten neuen Zielgruppen gering qualifizierter Interessenten Qualifizierungschancen ohne Absenkung der Versorgungsqualität und persönlicher Überforderung bereitgestellt werden. Darüber hinaus ist die Ausbildungsqualität der praktischen Ausbildungsbestandteile durch Sicherstellung qualifizierter praktischer Anleitung und durch eine verbesserte Abstimmung von theoretischen und praktischen Ausbildungsbestandteilen zu optimieren.
    • Leistungsanbieter sind ihren Beschäftigten gegenüber zur Übernahme von Verantwortung für eine qualitativ hochwertige Versorgung und Fürsorge verpflichtet. Durch Maßnahmen zur Gesundheitsförderung im Betrieb und durch transparente Organisationsstrukturen mit Gestaltungsmöglichkeiten für die Beschäftigten kann einem Berufsausstieg entgegengewirkt werden. Dazu zählen weiterhin das Bemühen um mitarbeiter- und patientenfreundliche Arbeitszeitmodelle, die Ermöglichung von und Verpflichtung der Beschäftigten zu kontinuierlicher Weiterqualifikation und Maßnahmen zur Personalentwicklung.
    • Eine Imageverbesserung der Pflegeberufe lässt sich kaum durch Anzeigenkampagnen erreichen. Wirksamer sind attraktive Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, gesicherte und ausreichend entlohnte Beschäftigungsverhältnisse (Vollzeitstellen statt geringfügig Beschäftigter) und eine Betonung der Professionalität von Pflegearbeit, die nicht durch Dequalifizierungstendenzen unterlaufen werden darf.
  6. Eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung kann und darf sich aber nicht auf die Bereitstellung medizinischer und pflegerischer Dienstleistungen beschränken. Vielmehr geht ein ermittelter Pflegebedarf vielfach auch mit einem hauswirtschaftlichen Hilfebedarf - insbesondere in Altenhaushalten - einher bzw. besteht oftmals auch ohne Vorlage einer anerkannten Pflegestufe. Da dieser Hilfebedarf derzeit nicht zufriedenstellend abgedeckt ist, kommt es zu Fehlversorgungen und einer durchaus vermeidbaren Inanspruchnahme stationärer Versorgungsangebote. Der Sicherstellung niedrigschwelliger Alltagshilfen ist deshalb für die Versorgungsqualität und die Vermeidung von Unter- und Fehlversorgungen unabdingbar. Haushaltsnahe Dienste und ambulante Pflegedienste müssen möglichst quartiernah vorgehalten, professionelle und lebensweltliche Hilfen verschränkt werden. Der Wegfall des Zivildienstes bzw. sein Ersatz durch Freiwilligendienste wird dabei in den nächsten Jahren zusätzliche Herausforderungen mit sich bringen. Gerade auch die Kirche muss sich deshalb mit mehr Phantasie und guten Trägerstrukturen für Freiwilligendienste, qualifizierte Ausbildung und Begleitung, aber auch für die innere Motivation zum Engagement einsetzen.
  7. Nicht alle pflegebedürftigen Menschen verfügen über die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu benötigten Hilfen. Insbesondere bei komplexen Problemlagen und/oder dem Fehlen von unterstützenden Angehörigen ist deshalb ein professionelles Case-Management vonnöten, um pflegebedürftige Menschen bei der Inanspruchnahme von Hilfen und der Koordination der unterschiedlichen Hilfeleistungen zu unterstützen. Darüber hinaus bilden transparente und niedrigschwellige Informationsangebote eine Grundvoraussetzung, um selbstbestimmte Entscheidungen über das gewünschte und benötigte Hilfeangebot zu treffen. Auch für derartige Informations-, Beratungs- und Koordinationsangebote sind ausreichende Finanzierungsgrundlagen zu schaffen.
  8. Der professionellen Pflege zur Bearbeitung der sich stellenden Aufgaben sind Grenzen gesetzt. Zusätzlich benötigen daher alle Menschen beim Eintritt von Pflegebedürftigkeit und im Sterbeprozess die Solidarität der Gesellschaft durch
    • die Ausweitung von Angeboten im Bereich Palliative Care in der ambulanten und stationären Versorgung,
    • Pflegeangebote in Krankenhäusern, stationären Altenpflegeeinrichtungen und in der ambulanten Versorgung, die die Bedarfe schwerpflegebedürftiger und gerontopsychiatrisch erkrankter älterer Menschen berücksichtigen,
    • die Stützung informeller Helfer, die Pflegeverantwortung übernehmen
    • und unterstützende ehrenamtliche Hilfen zur Stärkung bzw. Ergänzung von Selbsthilfepotenzialen.
  9. Die sich verändernden Familienkonstellationen begrenzen die Handlungsmöglichkeiten familialer Solidarität. Neben einer Ausweitung professioneller Unterstützungsmöglichkeiten werden Maßnahmen zur Aufrechterhaltung nachbarschaftlicher Solidarität sowie Anreize und Freiräume für bürgerschaftlich Engagierte als ergänzende Hilfen zu professionellen Diensten zunehmend bedeutsamer. Zivilgesellschaftliche Initiativen sollten daher gestärkt werden. Schon jetzt eröffnen Seniorengenossenschaften, Mehrgenerationenprojekte und Demenznetzwerke neue Möglichkeiten. Eine neue Bürgerbewegung entsteht, in der "junge Alte" ihre Zukunft aktiv gestalten und vor allem die Angehörigen Demenzerkrankter die Teilhabe wie die Pflegesituation von Älteren in unserer Gesellschaft zum öffentlichen Thema machen. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit, angesichts einer durchschnittlichen häuslichen Pflegezeit von acht Jahren, Beruf und Pflegearbeit gut vereinbaren zu können, wächst. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine "Pflegezeit" erinnern daran, dass auch unter den Bedingungen einer Erwerbsgesellschaft die Pflege wie die Erziehung zu den selbstverständlichen familiären Aufgaben gehört, die allerdings ohne eine gute Infrastruktur und bezahlbare Dienstleistungen, ohne öffentliche Unterstützung wie Vereinbarkeitsregeln in der Wirtschaft nicht zu leisten sind.
  10. Da sich Bedarfslagen und Kompetenzen zur Selbsthilfe bei gesundheitlich beeinträchtigten Menschen in erheblichem Ausmaß voneinander unterscheiden, ist insbesondere die Unterstützung ökonomisch und bildungsbezogen benachteiligter Gruppen sowie für ältere Menschen mit brüchigen sozialen Netzwerken gefordert. Dazu müssen die beratenden und edukativen Anteile in Medizin und Pflege ausgebaut werden. Außerdem braucht es niederschwellige Zugäng zu Hilfeangeboten unter Berücksichtigung des jeweils milieuspezifischen Lebenskontextes und die Beteiligung aller Professionellen, Dienste und Einrichtungen an vernetzten Versorgungsstrukturen.
  11. Eine Orientierung an den Lebenskontexten gesundheitlich beeinträchtigter Menschen setzt die Abgabe von Definitionsmacht der Medizin und der Pflege voraus, zu entscheiden, welche Hilfen ein Mensch benötigt. Dies erfordert ein neues Selbstverständnis der an den Hilfen beteiligten Berufen sowie erweiterte Kompetenzen für die Bedürfnisfeststellung, Bedarfserhebung, Wahrnehmung, Kommunikation und Selbstreflexion.
  12. Die Unterstützung hilfebedürftiger Menschen ist eine Querschnittsaufgabe, die sektoren- und berufsgruppenübergreifend zu erfolgen hat. Es ist deshalb auf eine funktionierende Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure und Felder hinzuwirken. Dies ist bislang aus unterschiedlichen Gründen nur unzureichend erfolgt und setzt u.a. eine klare Positionierung professioneller Pflege insbesondere gegenüber der Medizin und der sozialen Arbeit voraus, die sich vor allem auch am Bedarf der Hilfebedürftigen und weniger an berufspolitischen und ökonomischen Interessen orientieren sollte. Dies ist zu respektieren und sozial zu verstärken. Die auch im Interesse der Kranken und der Bevölkerung liegende Bindung an die genannten professionelle Pflichten und Tugenden ist ein fragiles Gut, das langsam erworben, aber rasch verloren wird, wie die Kollusion bestimmter ärztlicher Gruppen mit der laufenden Ökonomisierung der Medizin zeigt.
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