"Und unsern kranken Nachbarn auch!"

Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik. Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2011, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05964-8

A.V. Soziale Ressourcen im Gesundheitssystem

  1. Die öffentliche Debatte um die finanziellen und professionellen Ressourcen des Gesundheitssystems greift zu kurz. Für die Zukunft werden die sozialen und sozialmoralischen Ressourcen unserer Gesellschaft ebenso wichtig sein. Nur wenn die Sorge für andere, neben der um das eigene Fortkommen, weiterhin hohen Respekt und gesellschaftliche Wertschätzung erfährt, nur wenn junge Menschen frühzeitig lernen, sich nicht nur um die eigene Gesundheit und Fitness zu sorgen, sondern auch achtsam mit denen umzugehen, die gesundheitliche Einschränkungen erleben und der Hilfe anderer bedürfen, wenn in Familien und Schulen freiwilliges Engagement selbstverständlich gelernt wird, kann es auf Dauer gelingen, Menschen für Pflege- und Gesundheitsberufe, aber auch für nachbarschaftliches und ehrenamtliches Engagement zu gewinnen. Der Imageverlust der Pflegeberufe im Vergleich zu den letzten Jahren und die ersten Anzeichen eines Pflegenotstands machen deutlich: Es ist alles andere als selbstverständlich, dass junge Menschen oder auch Quereinsteiger bereit sind, sich in einem Sorgeberuf zu engagieren und zu qualifizieren. Diese besorgniserregende Tendenz wird sich fortsetzen, wenn die Entgelte in diesen Berufen nicht ausreichen, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Wegfall des Zivildienstes hat zudem gerade jungen Männern ein Lernfeld genommen, in dem erfahren werden konnte, wie befriedigend die Hilfe für andere sein kann. - Denn die Sorge um Leben und Gesundheit unserer Nächsten ist wesentliche Triebkraft der christlichen Tradition, wie Matthias Claudius' Abendlied-Bitte zeigt: "Verschon uns, Gott, mit Strafen und lass uns ruhig schlafen. Und unsern kranken Nachbarn auch!"
  2. Die neuzeitliche Diakonie begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem breiten, aus dem Glauben gegründeten Engagement angesichts der wachsenden Nöte der beginnenden Industriegesellschaft. Das Engagement der Gemeinden, die Spendenbereitschaft der Bürger, die Bildungsanstrengungen der Einrichtungen, die Gründung von Gemeinschaften und Netzwerken gingen der Professionalisierung voraus und waren der Nährboden für die Entwicklung der Sozialberufe und der Freien Wohlfahrtspflege. Aus der Berufung zur Nächstenliebe entstand erst mit der Zeit eine moderne und nach Bedarfen differenzierte Berufsdynamik und eine vielfältige Entwicklung von spezifischen Professionen und Arbeitsfeldern, wie wir sie heute in den medizinischen Fachdisziplinen, in Kranken- und Altenpflege, in Heilpädagogik, Atemtherapie, Physiotherapie und anderen kennen. So wurden aus Hospizen Krankenhäuser und Fachkliniken, Altenheime und vielfältige Dienstleistungsangebote, und dieser Prozess nahm in dem Maße zu, wie die sich entwickelnde Gesundheitsbranche durch Sozialversicherungen gestützt und ökonomisch gefördert wurde. So entscheidend diese Entwicklung nicht zuletzt für die Gesundheit der Bevölkerung (und den demografischen Wandel) war, so wenig darf in Vergessenheit geraten, dass weder Politik noch Recht oder Ökonomie allein für die zugrunde liegenden sozialen und sozialmoralischen Ressourcen sorgen oder sie gesetzlich einfordern können. Empathie und Zuwendung, Kooperationsfähigkeit und Engagement lassen sich nicht erkaufen oder durch politische Programme erzwingen; sie bedürfen der inneren Motivation und hängen nicht zuletzt von dem Maß an Respekt und Würde ab, das Menschen einander zusprechen.

A.V.1. Entwicklung der Professionen

  1. Neben bekannten Berufen in Medizin und Pflege, neben therapeutischen und Assistenzberufen entstehen neue Berufsgruppen, die oftmals zwischen den einzelnen Sparten angesiedelt sind: operationstechnische Assistenten, medizinische Qualitätsmanager, Hygienebeauftragte. Andere sind lange eingeführt und stehen vielleicht nicht jedem vor Augen, wenn von Berufen im Gesundheitswesen die Rede ist: Podologen, medizinische Masseure, Kinderkrankenschwestern, Atem- oder Physiotherapeuten. Einige dieser Berufe werden - wie Ärzte oder Apotheker - seit langer Zeit als "Professionen" verstanden, andere - wie die Pflegenden oder die Logopäden - kämpfen seit längerer Zeit um dieses Selbstverständnis.
  2. Mit dem Begriff "Profession" werden alle Berufsgruppen bezeichnet, die - nicht ohne Gegenleistungen - mit einem besonderen gesellschaftlichen Status verbunden sind. Neben Ärzten und Apothekern gehören Rechtsanwälte oder auch Pfarrer zu den "klassischen Professionen": Ihre Tätigkeit bezieht sich auf gesellschaftlich für wesentlich gehaltene Problembereiche. Für die Zusage verlässlicher und auch am Gemeinwohl orientierter Dienste genießen sie die Vorteile einer vergleichsweise hohen Autonomie und Selbstregulierung - z.B. in der Aus-, Weiter-, Fortbildung ihrer Mitglieder oder in einer eigenen Gerichtsbarkeit. Erwartet wird ein Ethos, das den Klienten und anvertrauten Menschen in den Mittelpunkt des Interesses stellt.
  3. Aufgrund der wachsenden Diskrepanz zwischen fachlichen Standards und ökonomischer Begrenzung haben Medizinerinnen und Mediziner, die bislang einen besonders privilegierten Status genossen, den Eindruck, dass Bedeutung und Freiheit der traditionellen Professionen abnehmen. Im Jahr 2002 veröffentlichte eine multinationale Gruppe von ärztlichen Organisationen eine "Charta on Medical Professionalism", in der versucht wurde, den skizzierten gesellschaftlichen Vertrag zu bekräftigen bzw. zu erneuern. Die Charta sieht die Professionen durch eine Vielzahl von Entwicklungen bedroht, nicht zuletzt durch die Überbetonung einer ökonomischen gegenüber der fachlichen Steuerung: "Professionalism is the basis of medicine's contract with society." Sie benennt die Werte, Verhaltensweisen und Beziehungsformen, die das Vertrauen, das die Öffentlichkeit in alle klinisch Tätigen setzt, stärken können. Die Charta formuliert vertraute professionelle Pflichten und Tugenden, die offenbar einer erneuten Selbstvergewisserung (nach innen) und einer offensiven Behauptung (nach außen) bedürfen. Die darin enthaltenen Verpflichtungen können als Konkretisierung des § 1 Abs. 1 der Bundesärzteordnung ("Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung.") und als Ausfüllung der vier medizinethischen Grundprinzipien Patientenautonomie, Nicht-Schädigung, Wohlergehen und Gerechtigkeit verstanden werden.
  4. Auf diese Weise soll in Erinnerung gerufen werden, dass die Mitglieder der Professionen im Gesundheitswesen eine soziale Rolle und Haltung beanspruchen, zugeschrieben bekommen und schützen wollen, die über die ökonomischen Interessen des eigenen oder des sie beschäftigenden Betriebes weit hinausgehen. Dies gilt jedoch heute nicht mehr nur für Ärztinnen und Ärzte, die diese Selbstverpflichtungen neu formulieren, weil sie sie als bedroht erleben, sondern auch für andere Berufsgruppen wie die Pflegenden, die diesen privilegierten Status seit den 1970er Jahren für sich anstreben. Ein Dialog der verschiedenen Professionen und Akteure, die einander - vor allem im deutschen Gesundheitssystem - in einer strengen Hierarchie zugeordnet sind, ist deshalb dringend notwendig. Dabei geht es auch um Fragen unterschiedlicher professioneller Ethiken.
  5. Schaut man auf Autonomie und Selbstregulierung, die unabhängige Festlegung der professionsspezifischen fachlichen Standards der eigenen Arbeit, eigene Sanktionsmöglichkeiten und hohe gesellschaftliche Anerkennung, ist deutlich erkennbar, dass die Pflege sich noch im Professionalisierungsprozess befindet. Dieser wurde durch die in den 1990er Jahren mit der Einführung pflegebezogener Studiengänge und der damit verbundenen Akademisierung der Pflege weiter vorangetrieben. Die sich abzeichnende Statusaufwertung der Pflegeberufe insbesondere gegenüber dem Medizinberuf wird durch gesetzliche Regelungen zur Qualitätsentwicklung und Qualitätsüberprüfungen und die Folgen der demografischen Entwicklung - Personalnotstand in der Pflege und einsetzender Ärztemangel vor allem im ländlichen Bereich - weiter forciert.
  6. Ausbildungsreformen werden zwar - zum Beispiel im Blick auf eine gemeinsame Grundausbildung - diskutiert, ihre fachliche Fundierung steckt jedoch trotz vielfältiger Modellversuche und Grundsatzpapiere noch in den Anfängen. Dies gilt insbesondere für die Sicherstellung von Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Qualifizierungsstufen, die Festlegung von Qualifikationsprofilen für angelernte Tätigkeiten, Fachausbildung und Weiterbildungsprofilen, die Verbesserung der praktischen Ausbildungsteile und die Vereinheitlichung der Schulformen. Auch dies mindert die Attraktivität des Berufes und verstärkt die bestehenden Rekrutierungsprobleme. Fachpflege fokussiert sich dadurch zunehmend auf die Übernahme von Steuerungs- und Durchführungsverantwortung und auf die Übernahme eigenverantwortlicher klinischer Tätigkeiten in der stationären wie ambulanten Versorgung. Einzelne pflegerische und betreuende Maßnahmen werden dann auf un- und angelernte Kräfte delegiert und mit dem Argument der Alltagsnähe legitimiert. Die Diskrepanz zwischen dem Anspruch an professionelles Handeln und der Versorgungspraxis verstärkt sich und kann sich negativ auf die weitere Professionalisierung der Pflege und die Attraktivität des Berufsfeldes auswirken.

A.V.2. Soziale Netze und spirituelle Ressourcen

  1. Effektiv gestaltete Behandlungsprozesse bei immer kürzeren Liegezeiten im Krankenhaus, die Entwicklung und Vernetzung von hoch spezialisierten Kompetenzzentren, die Verknüpfung von Kliniken mit niedergelassenen Ärzten und die wachsende Zahl ambulanter Operationen zeigen: Stationäre Behandlungs- und Versorgungsstrukturen stellen den kleinsten Teil der Behandlungskette dar, der auch für pflegebedürftige ältere Menschen immer mehr in den Hintergrund tritt. Auch in den Pflegeeinrichtungen für alte und behinderte Menschen selbst werden die Pflege- und Behandlungsstrukturen immer deutlicher von der Finanzierung und Gestaltung des Wohn- und Lebensumfelds getrennt. Schon bei Einführung der Pflegeversicherung mit dem Grundsatz "ambulant vor stationär" wurde die Richtung hin zu einer vernetzten und integrierten, quartiersbezogenen Versorgung markiert. Dabei spielte auch eine Rolle, dass der Prozess der Professionalisierung nicht unbegrenzt vorangetrieben werden kann. Nicht nur die Zahl der professionellen Pflegekräfte müsste nämlich in den nächsten 20 Jahren verdoppelt werden, sondern auch die Entgelte für Fachpflege könnten angesichts der steigenden Nachfrage deutlich zunehmen - und sollten das mit Blick auf die mit dem Beruf verbundenen Belastungen auch. Angesichts dieser Herausforderungen ist die gute Kooperation zwischen Fachkräften, Hilfskräften, Nachbarschaftsnetzen und Ehrenamtlichen unverzichtbar.
  2. Die gängige professionelle Modularisierung, Standardisierung und Segmentierung in den Pflegediensten steht in Spannung zu der Tatsache, dass Heilung sowie der Umgang mit Krankheit und Verletzlichkeit personale, existenzielle und auch religiöse Geschehen sind. Wo es um die elementaren Bedürfnisse eines verletzlichen Menschen geht, können distanzierende Beschreibungen und Behandlungen, die den Patienten immer auch zum Objekt machen, nur begrenzt erfolgreich sein. Empathie und Intuition sind hier ebenso gefragt wie Solidarität. Je hilfebedürftiger Menschen sind, desto bedeutungsvoller wird die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.
  3. Schon jetzt eröffnen Seniorengenossenschaften, Mehrgenerationenprojekte und Demenznetzwerke neue Möglichkeiten. Eine neue Bürgerbewegung entsteht, in der "junge Alte" ihre Zukunft aktiv gestalten und in der vor allem die Angehörigen Demenzerkrankter die Teilhabe wie die Pflegesituation von Älteren in unserer Gesellschaft zum öffentlichen Thema machen. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit, angesichts einer durchschnittlichen häuslichen Pflegezeit von acht Jahren, Beruf und Pflegearbeit gut vereinbaren zu können, wächst.
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