"Und unsern kranken Nachbarn auch!"

Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik. Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2011, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05964-8

C.I. Herausforderung Eigenverantwortung: Menschen stark machen und beteiligen

  1. Auch wenn es in der heutigen individualisierten Gesellschaft plausibel ist, dass Gesundheit wesentlich abhängt von persönlichem Gesundheitsverhalten, und es darum ebenfalls plausibel ist, dass Gesundheitsförderung auch am individuellen Verhalten ansetzen sollte, sprechen nahezu alle empirischen Daten dagegen, dass sich durch Verhaltensprogramme - beispielsweise zum Bewegungs- oder Ernährungsverhalten - die Gesundheit der Gesamtbevölkerung wesentlich verbessern lässt. Erst Verhältnisstrategien - z.B. Reduktion der Verfügbarkeit von gesundheitsriskanten Produkten oder der Zugangsbarrieren zu gesundheitsdienlichen Ressourcen - gewährleisten nachhaltige Gesundheitsgewinne für alle Menschen. Exemplarisch zeigt die Tabakprävention, dass verhaltenspräventive Maßnahmen - etwa Aufklärung, Kompetenzförderung und Widerstandstrainings gegen sozialen Druck - enttäuschend geringe Effekte erzielen im Vergleich zu verhältnisbezogenen Maßnahmen wie Steuererhöhungen, Verfügbarkeitsbeschränkungen und Werbeverboten. Wenn überhaupt, werden verhaltensorientierte Maßnahmen vornehmlich bei den begünstigten Bevölkerungsgruppen zu Gesundheitsgewinnen führen, deren gesundheitliche Ressourcen jedoch ohnehin ausreichend sind. Bei den Bevölkerungsgruppen, die unterdurchschnittlich ausgestattet sind mit zentralen gesundheitlichen Ressourcen, sind verhaltensorientierte Strategien in den meisten Fällen und im besten Fall nutzlos, im schlechteren Fall sogar schädlich, weil die mangelnden Möglichkeiten und Fähigkeiten zu gesundheitsgerechtem Verhalten und die vergeblichen Verhaltensänderungsbemühungen zu gesundheitsbelastenden Selbst- und Fremdstigmatisierungen führen.
  2. Um die Gesundheit aller Menschen in gleicher (bzw. gerechter) Weise zu fördern, ist es unerlässlich, Gesundheitsförderung im Sinne der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation so anzulegen, dass sie auf individuelles und gesellschaftliches Empowerment und eine strukturelle Beeinflussung der Umwelt und Lebenswelt angelegt ist. Dabei ist die gesundheitliche Ungleichheit innerhalb der Bevölkerung, die in allen wohlhabenden Staaten des Nordens zu beobachten ist, im Sinne einer Stärkung der Benachteiligten zu verringern. Empfehlenswert ist daher eine Politik, die transparenter als bisher offenlegt, welche Aktivitäten dazu beitragen sollen, gesundheitsschädliche Verhältnisse zu verändern, und welche Aktivitäten im Grunde nur auf Verhaltensänderung abzielen. Darüber hinaus sollte - da eine trennscharfe Transparenz vermutlich schwierig herzustellen sein wird - darüber nachgedacht werden, Politik für einen gewissen Zeitraum (z.B. fünf Jahre) vornehmlich auf Strategien der Verhältnisänderung zu konzentrieren: einerseits, weil die Menge der derzeit verfügbaren Programme zur Verhaltensänderung - einerlei, ob zu Ernährung, Bewegung, Stressbewältigung, Sucht u.v.m. - mittlerweile bereits sehr groß ist und ein Richtungswechsel keine Unterversorgung erzeugen würde. Andererseits belegen einzelne Gesundheitsfelder eindrücklich den Nutzen der Verhältnisorientierung. In der Unfallprävention zum Beispiel sind verhältnisorientierte Strategien wie Straßenschwellen und Leitplanken seit langem wirksamer Standard. Verhältnisse statt Verhalten zu fokussieren heißt, die Verantwortung für Gesundheit auf alle Schultern gerecht zu verteilen - nicht nach Maßgabe der individuellen Betroffenheit, sondern gemäß der verfügbaren Macht zur Veränderung gesundheitsriskanter Verhältnisse.
  3. Gesundheit für alle zu mehren erfordert auch, alle gleichermaßen zu beteiligen. Diejenigen, die ökonomisch und sozial in einer gesicherten Position sind, sind nicht nur zur Eigenverantwortung, sondern auch zur gesellschaftlichen Verantwortung für die sozial Benachteiligten aufgefordert. Aber auch diejenigen, die ökonomisch wie sozial in schwächeren Positionen sind, müssen zur Verantwortung für sich selbst und ihre eigene Familie befähigt werden. Damit das strukturell gelingt, bedarf es politischer Anstrengungen, um soziale Ungleichheit zu reduzieren und Bildungs- und Teilhabechancen zu verbessern. Zur Erhöhung der Teilhabechancen könnte auch beitragen, Formen direkter Bürgerbeteiligung in der von vielen als intransparent wahrgenommenen Gesundheitspolitik und insbesondere in der gemeinsamen Selbstverwaltung einzuführen (vgl. Ziffern 131f).
  4. Die Realisierung eigenverantwortlichen gesundheitsbezogenen Handelns erfordert schließlich auch von den Professionellen im Gesundheitssektor die Entwicklung einer entsprechenden Haltung, die Unterstützung und offene Information mit Gesprächen auf "Augenhöhe" verbindet. Die Stärkung von Eigenverantwortung und Selbstbestimmung setzt die Befähigung voraus, sich über bestehende Versorgungsmöglichkeiten fundiert zu informieren und kompetent Entscheidungen treffen zu können. Da dies angesichts der komplexer und vielfältiger werdenden Angebote zunehmend schwieriger wird und höhere Anforderungen an Inanspruchnehmer stellt, die nicht von allen bewältigt werden können, sind hier entsprechende Hilfestellungen durch Professionelle bereitzustellen. Zudem ist kritisch zu hinterfragen, inwieweit Menschen in existenziellen gesundheitlichen Notlagen überhaupt über uneingeschränkte Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten verfügen oder auch nur den Wunsch haben, selbst Entscheidungen zu treffen. Repräsentative Befragungen verweisen darauf, dass Menschen im Krankheitsfall zwar mitreden, aber nicht mitentscheiden möchten. Dennoch sind die im Gesundheitssektor beschäftigten Professionen für einen partizipativen Umgang mit unterstützungsbedürftigen Menschen und die Infragestellung der eigenen Deutungsmacht zur Ermittlung eines Hilfebedarfs zu qualifizieren. Von besonderer Bedeutung ist darüber hinaus auch die zielgruppengerechte Befähigung von Betroffenen zur Übernahme von Eigenverantwortung durch die Bereitstellung von Hilfestellungen für benachteiligte Gruppen sowie eine gesetzlich verankerte Stärkung des Nutzer- und Verbraucherschutzes (z.B. Patientenbeauftragte; Verbandsklagerechte). Genauso wichtig ist die Bereitstellung von Hilfestellungen für benachteiligte Gruppen, die Installation von Patientenbeauftragten und Ombudspersonen, die Beteiligung der gesundheitlichen Selbsthilfe und der Verbände behinderter Menschen an der Leistungsgestaltung und eine gesetzlich verankerte Stärkung des Verbraucherschutzes wie z.B. im Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz.
  5. Die veränderte Situation älterer Menschen wie die von Menschen mit Behinderung zeigt: Eine reine Fokussierung auf das Gesundheitssystem greift zu kurz, wenn danach gefragt wird, wie man die Gesundheit der Einzelnen wie der Bevölkerung erhalten oder gar verbessern kann. Neben der zu Recht geforderten Verantwortung der Einzelnen für die Erhaltung der eigenen Gesundheit und der Schaffung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für gesundes Verhalten sind selbstkritisch gesellschaftliche Ungleichbehandlungen festzustellen, die im Ergebnis zu Exklusion führen und Menschen gerade nicht zu einem selbstbestimmten Leben befähigen.
  6. So bleibt z.B. die Inklusion chronisch kranker, pflegebedürftiger und behinderter Menschen in alle Bereiche der Gesellschaft eine wichtige Aufgabe des sozialen Rechtsstaates. Sie wird nicht nur durch medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation, Behandlung und Pflege hergestellt, sondern auch durch eine Veränderung der gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge erreicht. Dazu sind alle Lebensbereiche für behinderte Menschen zugänglich und barrierefrei zu gestalten. Universelle strukturelle und praktische Zugänglichkeit (Art. 9 BRK) ist ein wichtiges Merkmal einer sozial gestalteten Gesellschaft, in der behinderte und (noch) nicht behinderte Menschen in Kindergarten, Schule, Arbeitswelt, Gemeinde, Kirche und Freizeit zusammen leben, lernen und arbeiten und es keine absondernde Einrichtungen mehr gibt. Das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit ist im Internationalen Pakt über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte als soziales Menschenrecht anerkannt (Art. 12 Sozialpakt). Ein gleichberechtigter und effektiver Zugang behinderter Menschen zum Gesundheitswesen ist Gegenstand der Behindertenrechtskonvention (Art. 25 BRK).
  7. Da die gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen wir leben - Bildung und Herkommen, Einkommen und Familiensituation - erheblichen Einfluss auf unsere Fähigkeit zur Selbstsorge haben, bleibt es Aufgabe des Gesundheitswesens, der Bildungs- und Sozialpolitik, der Zivilgesellschaft und der Kirchen, die Selbstsorge von Menschen möglich zu machen. Die Herausforderung aber, die Ordnung des eigenen Lebens zu gestalten, auf Ernährung und Bewegung, den Wechsel von Anstrengung und Entspannung zu achten, Familie und Freundschaften ebenso zu pflegen wie die eigenen Kompetenzen zu bilden und damit vorzusorgen, bleibt immer auch eigenverantwortliche Aufgabe jedes Einzelnen. Wir müssen einander und uns selbst zumuten, unser Leben mit den verfügbaren, aber immer auch begrenzten Ressourcen zu gestalten. Es gehört zur Lebenskunst, dass wir auf unsere Endlichkeit antworten.
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