"Und unsern kranken Nachbarn auch!"

Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik. Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2011, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05964-8

A.I. Herausforderungen und tragende Grundsätze des Gesundheitssystems

A.I.1. Herausforderungen für die sozialen Sicherungssysteme

  1. Die Grundprinzipien des deutschen Sozialstaats sind wesentlich von Christen entwickelt worden, die die Persönlichkeit und Würde des Einzelnen in den Mittelpunkt gestellt haben. Die Gründung von Einrichtungen, Netzwerken und Vereinen durch Diakonie und Caritas im 19. Jahrhundert und die Bereitschaft vieler engagierter Christen, sich an der sozialpolitischen Rahmensetzung zu beteiligen, waren dabei ebenso prägend wie die Sozial-und Wirtschaftsethiker der Freiburger Schule, die durch eine gestaltete Wettbewerbsordnung für eine effektive Wirtschaft sorgen und gleichzeitig durch eine stabile Sozialordnung sozialen Frieden gewährleisten wollten. Die Betonung der Notwendigkeit wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und die Sorge um soziale Gerechtigkeit waren stets zwei Seiten eines Ganzen. Kein Mensch lebt für sich allein; jeder und jede ist gefordert, die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und sie im Dienst für andere einzusetzen. Freiheit und Eigenverantwortung haben ihren Sinn nicht in sich selbst, sondern darin, Solidarität zu ermöglichen und zu stärken. Zugleich aber zeigt die Geschichte von Diakonie und Caritas, dass erst die Erfahrung von Solidarität ermöglicht, die eigene Freiheit und Verantwortung wahrzunehmen.
  2. Die Rahmenbedingungen sozialstaatlichen Handelns verändern sich durch die Globalisierung der Märkte. Der weltweit mögliche Austausch von Gütern und Dienstleistungen hat einerseits dazu geführt, dass staatlich oder gesellschaftlich finanzierte Sozialleistungen als Belastung im globalen Wettbewerb der Standorte begriffen werden. Angesichts der Tatsache, dass die Beiträge zur Sozialversicherung in Deutschland traditionell an die Arbeitseinkommen gebunden sind, erscheinen die Beiträge zur sozialen Sicherung dann als nachteilige Lohnzusatzkosten. Deswegen werden nachgelagerte Dienstleistungen, wo irgend möglich, ausgelagert. Dienstleistungen, die sich nicht verlagern lassen, stehen - wie die Gesundheitsbranche - unter erheblichem Kostendruck. Dabei geht es auch um die Frage, wie die Dienstleistungsfreiheit, die seit Mai 2011 im vereinten Europa gilt, und die unterschiedlichen Lohnverhältnisse in Ost und West in einen Ausgleich gebracht werden können. Gleichwohl dürfen Gesundheitsausgaben nicht nur als Kosten gesehen werden, die in jedem Fall zu vermeiden sind. Gesundheit ist wichtiger Bestandteil der Lebensqualität jedes Einzelnen. Ausgaben für das "Gut" Gesundheit sind daher auch Ausdruck individueller und gesellschaftlicher Präferenzen. Zudem sind Gesundheit und soziale Sicherheit wichtige Einflussfaktoren des Humanvermögens einer Gesellschaft und daher mitentscheidend für die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Gerade in hochentwickelten Gesellschaften ist die Gesundheitswirtschaft eine wichtige Wachstumsbranche, die menschlichen Bedürfnissen Rechnung trägt, viele Arbeitsplätze bereitstellt und zum Wirtschaftswachstum beiträgt.
  3. Fürsorge wurde bis weit in die Nachkriegszeit hinein in besonderem Maß durch Frauen ermöglicht, die auf berufliche Entfaltung verzichteten, einen großen Teil der Familienarbeit und der sozialen Arbeit unentgeltlich übernahmen, die häufig in schlechter bezahlten Sozialberufen tätig waren und auf diese Weise entscheidend zur Kohäsion der Gesellschaft beitrugen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter, aber auch die gesellschaftlich notwendige Inanspruchnahme der Qualifikationen von Frauen in der Arbeitswelt, hat zu einem grundlegenden Wandel der Geschlechterrollen und Familienstrukturen, aber auch der typischen "Frauenberufe" wie der Pflege geführt. Am Pflegebereich wird deutlich: Eine neue Balance von Produktivität und Fürsorge, von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und Solidarität ist noch nicht gefunden. Die folgenden Ausführungen zum Gesundheitssystem im Ganzen zeigen, dass es nicht ausreichen wird, bei Reformen im Finanzierungs- und Leistungsbereich allein auf eine Fortführung der bisher beschrittenen Wege zu setzen.
  4. Die Verlängerung der Lebenserwartung verbindet sich in den letzten Jahrzehnten mit einer außerordentlich niedrigen Geburtenrate. Familienpolitische Korrekturen greifen nur bedingt und auf längere Sicht. Die Versorgung der älter werdenden Bevölkerung in den nächsten Jahren und Jahrzehnten scheint weder finanziell noch personell gesichert, wenn man auf das geringer werdende Pflegepotenzial schaut. Auf dem Hintergrund des demografischen Wandels und des "Standortwettbewerbs" in der globalisierten Gesellschaft ist deshalb seit langem ein Umbau der sozialen Sicherungssysteme in Richtung auf mehr Wettbewerb, Privatisierung und Eigenverantwortung im Gang. Beginnend mit der Pflegeversicherung, die als fünfte Säule des Sozialversicherungssystems, aber eben nur als "Teilkasko-Versicherung" eingeführt wurde, wurde der freigemeinnützige Wohlfahrtsmarkt für den Wettbewerb mit privaten Anbietern geöffnet. Zugleich wurde in der Arbeits- und Sozialversicherung mit der Agenda 2010 das Prinzip des "aktivierenden Sozialstaats" eingeführt und in der Rentenversicherung mit der "Riester-Rente" die zusätzliche Säule der finanziellen Eigenvorsorge aufgebaut. Wettbewerb und Eigenverantwortung sowie eine zunehmende Privatisierung von Leistungen und Risiken sind auch in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu beobachten. In der Konsequenz werden die einzelnen Versicherten zu mehr "Eigenverantwortung", eigenen Leistungen und Kostenbewusstsein aufgefordert.
  5. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland sich den Erhalt der solidarischen Sicherungssysteme wünscht, die gerade während der Wirtschafts- und Finanzkrise zu Stabilität beigetragen und eine schnelle wirtschaftliche Erholung ermöglicht haben. Auch international zeigt sich, dass das Konzept der sozialen Marktwirtschaft mit den sozialen Sicherungssystemen in Deutschland durchaus als vorbildlich verstanden wird. Zugleich allerdings zeigt sich Skepsis angesichts der Sorge um wachsende Kosten auf dem Hintergrund des demografischen und des Wandels im Krankheitspanorama. Dieser Text setzt sich mit der Frage auseinander, welche Veränderungen auch angesichts gesellschaftlicher Prozesse notwendig und wünschenswert sind und wie es gleichwohl gelingen kann, wachsende gesellschaftliche Spaltungen und Ungleichheiten zu vermeiden. Dabei ist zu beobachten, dass derzeit nicht alle gesundheitsrelevanten Themen wie Bildungsfragen, Familienförderung oder Fragen der Quartiersentwicklung in den Verantwortungsdiskurs über Gesundheitspolitik einbezogen werden. Die fehlende Berücksichtigung struktureller Bedingungsfaktoren für Gesundheit hat zur Folge, dass nicht alle relevanten Gesundheitspotenziale gleichermaßen erschlossen werden. Die Chancen auf ein Mehr an Gesundheit für alle werden damit reduziert - mit entsprechenden Folgen für den Krankenstatus der Bevölkerung und die Ausgaben im Gesundheitssystem. Wenn Gesundheitspolitik sich also lediglich um die Reduktion von Ausgaben im Gesundheitswesen bemüht, bleibt es leicht beim Verschieben von Zuständigkeiten und Kurieren von Symptomen.

A.I.2. Tragende Grundsätze und Systeme der Absicherung von Gesundheitsrisiken

  1. Gesundheitsrisiken werden heute über eine Vielzahl von staatlichen und privaten Systemen mit unterschiedlichen Anspruchsberechtigungen und Zugangsvoraussetzungen abgesichert. Fasst man den Begriff Gesundheitsrisiko eng, sodass vor allem die Absicherung der mit Krankheit und Pflegebedürftigkeit verbundenen Belastungen in den Blick genommen wird, dann findet Gesundheitssicherung hauptsächlich im Bereich der Kranken- und Pflegeversicherung statt. Seit 1995 besteht für die Pflegeversicherung, seit 2009 für die Krankenversicherung für jede Person mit Wohnsitz in Deutschland eine Versicherungspflicht. Dabei stehen - anders als in anderen europäischen Staaten - sozialstaatlich organisierte (Gesetzliche Krankenversicherung, Soziale Pflegeversicherung) und privatwirtschaftliche Systeme (Private Krankenversicherung, Private Pflegepflichtversicherung) substitutiv nebeneinander, d.h., die Vollversicherung in einem System schließt eine Vollversicherung im anderen System im Regelfall aus. Der weit überwiegende Teil der Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und Sozialen Pflegeversicherung sind Pflichtmitglieder im staatlichen System und besitzen entsprechend keine Möglichkeit, alternativ eine vollständige Absicherung im privaten System zu wählen; für diesen Personenkreis ist lediglich der Abschluss privater Zusatzversicherungen möglich. Eine rein private Absicherung ist hingegen für Selbstständige und Besserverdienende vorgesehen, während Beamte durch die Beihilfe teilgesichert und im Übrigen ohne faktische Wahlmöglichkeit in die Privatversicherung gedrängt werden. Heute sind in der Gesetzlichen Krankenversicherung und Sozialen Pflegeversicherung mehr als 70 Millionen, in der Privaten Krankenversicherung (PKV) und Privaten Pflegepflichtversicherung knapp neun Millionen Menschen versichert.
  2. Die Gesetzliche Krankenversicherung als Regelsystem der Absicherung des Krankheitsrisikos ist eine Solidargemeinschaft. Der solidarische Charakter der Gesetzlichen Krankenversicherung wird durch verschiedene Regelungen auf der Beitrags- und der Leistungsseite zum Ausdruck gebracht. So sind die Beitragsverpflichtungen der Versicherten unabhängig von ihrem Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand ("Risikosolidarität") und werden monatlich bis zu einer Beitragsbemessungsgrenze einkommensabhängig erhoben ("Einkommenssolidarität"). Nicht erwerbstätige Ehegatten und Kinder werden zudem beitragsfrei mitversichert ("Familiensolidarität"). Gesetzliche Krankenversicherungen dürfen die Aufnahme Versicherungswilliger und -berechtigter nicht ablehnen ("Kontrahierungszwang") und zudem Leistungen nicht ausschließen, die Bestandteil des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) sind. Die Beitragsverpflichtungen erwerbstätiger Versicherter werden grundsätzlich zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern geteilt, auch wenn der Arbeitnehmer- mittlerweile den Arbeitgeberanteil übersteigt. Entsprechend wird auch die Selbstverwaltung Gesetzlicher Krankenkassen als Körperschaften öffentlichen Rechts von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern ausgeübt. Nach §2a SGB V soll die Gesetzliche Krankenversicherung die besonderen Bedürfnisse behinderter und chronisch kranker Versicherter beachten und nach § 20 Abs. 1 SGB V zu einer Verminderung sozial bedingter Ungleichheiten von Gesundheitschancen beitragen. Die Verpflichtung zur Übernahme gesamtgesellschaftlicher Aufgaben hat zur Folge, dass der Gesetzlichen Krankenversicherung neben den Beitragszahlungen auch steuerliche Mittel aus dem Bundeshaushalt zufließen. Auch die Soziale Pflegeversicherung ist gemäß § 1 Abs.1, 2 SGB XI als Regelsystem der Absicherung des Pflegebedürftigkeitsrisikos eine Solidargemeinschaft, die inhaltlich grundsätzlich der Organisation der Gesetzlichen Krankenversicherung folgt. Anders als dort ist der Schutz der Sozialen Pflegeversicherung jedoch als Teilversicherung ausgestaltet: Familiäre, nachbarschaftliche oder ehrenamtliche Pflege- und Betreuungstätigkeiten sollen nicht ersetzt, sondern ergänzt, Pflegebedürftige von privaten Aufwendungen entlastet, aber nicht vollständig entbunden werden.
  3. Gesetzliche Krankenversicherung und Soziale Pflegeversicherung sind als beitragsfinanzierte, selbstverwaltete Zweige der sozialen Sicherung grundsätzlich so konzipiert, dass sie sich aus Beiträgen ihrer Mitglieder und deren Arbeitgeber finanzieren, ihre Finanzierung somit vom Bundeshaushalt unabhängig ist. Dennoch hat der Gesetzgeber im vergangenen Jahrzehnt verschiedentlich in die Finanzierung der GKV eingegriffen, (1) durch niedrig angesetzte Beiträge insbesondere für Erwerbslose, durch die der Bundeshaushalt und andere Zweige der sozialen Sicherung geschont wurden, (2) durch Übertragung von Leistungen an die Krankenkassen, die zuvor Aufgaben der Länder und Gemeinden waren, etwa auf dem Gebiet der Prävention, und (3) durch von Jahr zu Jahr variierende, in letzter Zeit deutlich steigende Steuerzuschüsse mit unterschiedlichen Begründungen. Die Einführung des Gesundheitsfonds im Jahr 2009 führte schließlich dazu, dass die Kassen keinen direkten Einfluss mehr auf den allgemeinen Beitragssatz haben; der weit überwiegende Teil ihrer Einnahmen fließt ihnen in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Mitgliederzahl und -struktur aus dem zentralisierten Gesundheitsfonds zu. Autonom können sie nur noch den einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag festlegen.
  4. Das System der Gesetzlichen Krankenversicherung ruht nach § 1 SGB V auf den beiden Grundprinzipien Solidarität und Eigenverantwortung - und zwar in dieser Reihenfolge. In der Ausdeutung dieser Formel wird wahrgenommene Eigenverantwortung im Umgang mit Gesundheitsrisiken und Behandlungsfragen häufig in einem Spannungsverhältnis zu den sozialen Verantwortlichkeiten gesehen, denen Menschen als Mitglieder einer Solidargemeinschaft unterliegen. Einerseits ist eigenverantwortliches Handeln in vielen Fällen zwingend auf Hilfe durch die Solidargemeinschaft angewiesen, z.B. wenn der Einzelne die Lasten einer Erkrankung nicht mehr allein tragen kann; er kann und soll in diesem Fall auf gesellschaftliche Unterstützung und Befähigung zurückgreifen, damit er überhaupt noch eigenverantwortlich handeln kann. Andererseits ergibt sich - wie überall dort, wo ein Risiko gemeinschaftlich abgesichert wird - auch die Gefahr, dass sich individuelle Verhaltensweisen und Ansprüche durch die Existenz der Solidargemeinschaft verändern und vor allem nach eigenen Bedürfnissen ausgerichtet werden (sog. "Moral Hazard" bzw. Verhaltensrisiko). Der Gesetzgeber steht somit vor der ständigen Aufgabe, im Bereich der Gesundheitsversorgung eine Balance zwischen solidarischer Vorleistung für und individualisierter Anforderung an eigenverantwortliches Handeln zu finden. Diese Aufgabe stellt sich im System der Gesetzlichen Krankenversicherung besonders akzentuiert, da die Versicherten zum größten Teil Pflichtmitglieder sind und sich einem möglichen unsolidarischen Verhalten anderer nicht entziehen können.
  5. Die für eigenverantwortliches Handeln notwendigen Vorleistungen des Gesundheitssystems werden vor allem durch den Grundleistungskatalog der GKV definiert, der seit 2009 auch für den Basistarif der PKV maßgeblich ist. Anforderungen an eigenverantwortliches Handeln ergeben sich zum einen durch Ausgliederungen aus dem Regelleistungsbereich der GKV ("fakultative Eigenverantwortung") und zum anderen durch die Knüpfung der vollständigen Regelleistungen der GKV an die Erfüllung bestimmter Bedingungen ("obligatorische Eigenverantwortung"). Zur fakultativen Eigenverantwortung sind vor allem die nicht oder nicht mehr erstattungsfähigen individuellen Gesundheitsleistungen ("IGeL") sowie die nur über Wahltarife erstattungsfähigen Leistungen der GKV zu zählen. Eigenverantwortung soll hier über eine vollständige Privatisierung der Zahlungsverpflichtungen oder über die Zuordnung einzelner Versicherter zu einem vom Regelleistungskollektiv der GKV separierten Zusatzversicherungskollektiv erzielt werden. Obligatorische Eigenverantwortung findet sich z.B. in der Abhängigkeit des Festzuschusses für Zahnersatz von regelmäßigen zahnärztlichen Prophylaxeuntersuchungen und bei der Differenzierung der Zuzahlungsbelastungsgrenze chronisch kranker Versicherter nach Maßgabe der Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen. Durch die Sanktionierung bestimmten Verhaltens soll so eine Rückbindung individuell eigenverantwortlichen Handeln an die Erfordernisse der Solidargemeinschaft erreicht werden.
  6. Die privaten Absicherungssysteme des Krankheits- und Pflegebedürftigkeitsrisikos unterscheiden sich deutlich von den gesetzlichen Regelsystemen. Während jedoch in der Privaten Pflegepflichtversicherung bei der Beitragserhebung und Leistungserbringung gemäß § 110 SGB XI eine größere Zahl von Elementen der Sozialen Pflegeversicherung analog berücksichtigt wird (z.B. Kontrahierungszwang, Verbot von Leistungsausschlüssen und Prämiendifferenzierungen nach dem Geschlecht, beitragsfreie Mitversicherung von Kindern), sind die Unterschiede zwischen Privater und Gesetzlicher Krankenversicherung sehr stark ausgeprägt. In der Privaten Krankenversicherung erfolgt die Prämienerhebung nach dem individuellen Äquivalenzprinzip. Das heißt: Für jeden Versicherten wird die Versicherungsprämie so bemessen, dass über die gesamte Versicherungslaufzeit voraussichtlich eine Deckung von Prämieneinnahmen und Versicherungsausgaben erreicht wird. Entsprechend ist die Versicherungsprämie abhängig vom Gesundheitszustand und Eintrittsalter der Versicherten; bislang hängt sie zudem vom Geschlecht der Versicherten ab und ist aufgrund erwarteter höherer Versicherungsausgaben für Frauen relativ höher [2]. Für Kinder und nicht erwerbstätige Ehegatten muss eine eigenständige Versicherungsprämie gezahlt werden. Private Versicherer sind berechtigt, einzelne Versicherungswillige abzulehnen oder Leistungsausschlüsse zu vereinbaren. Eine weitere Folge der individualisierten Prämienerhebung in der Privaten Krankenversicherung ist, dass Prämien "nach Art der Lebensversicherung" erhoben werden. Bei Versicherungseintritt wird eine Kalkulation für die gesamte voraussichtliche Versicherungsdauer vorgenommen und eine Prämie ermittelt, die bei Konstanz aller Rechnungsgrundlagen bis zum Versicherungsende unverändert bleiben soll. In jungen Jahren zahlen Versicherte auf diese Weise Prämien, die höher als ihre erwarteten Versicherungsausgaben sind, und sammeln so Alterungsrückstellungen an; im Alter werden die Alterungsrückstellungen aufgelöst und ermöglichen Prämien, die geringer als die erwarteten Krankheitskosten sind ("Kapitaldeckungsverfahren"). Berücksichtigt wird bei diesem Verfahren allerdings nur, dass die individuellen Gesundheitskosten im Laufe des Lebens zunehmen. Allgemeine Kostensteigerungen im Gesundheitssystem werden hingegen nicht einkalkuliert. Die von den Versicherten zu entrichtenden Prämien steigen daher - trotz der Alterungsrückstellungen - im Zeitablauf stark an und betragen im Alter ein Vielfaches der Einstiegstarife. In jedem Fall werden die Gesundheitsausgaben aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt; nur die Umverteilungswege sind unterschiedlich.
  7. Begreift man gesetzliche und private Systeme der Absicherung von Gesundheitsrisiken als Elemente einer Gesamtordnung, dann wird deutlich, dass künftige Herausforderungen für die Gesundheitspolitik immer auch beide Systeme betreffen müssen. Diese Herausforderungen werden in den folgenden Abschnitten benannt, ohne im Einzelnen zwischen beiden Systemen zu unterscheiden. Da die gesetzlichen Regelsysteme für knapp 90 Prozent der Bevölkerung maßgeblich sind, werden sie in dieser Denkschrift jedoch einen prominenteren Teil einnehmen. Das Nebeneinander beider Systeme bringt jedoch auch spezifische Problemstellungen mit sich, die in ihren Auswirkungen immens sein können; auch diese werden daher angesprochen.
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