"Und unsern kranken Nachbarn auch!"

Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik. Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2011, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, ISBN 978-3-579-05964-8

Vorwort

Der Zugang zu Heilung ist ein zentrales Thema für die christliche Gemeinde - auch wenn die damit verbundenen Fragen oft an die Gesundheitspolitik, an Ärztinnen und Ärzte oder Pflegende delegiert werden. Wie wichtig dieses Thema aber für die Kirche ist, das zeigt sich an einer biblischen Geschichte, in deren Mittelpunkt der Zugang zum Heiland Jesus Christus steht. Vier Männer versuchen, einen Gichtbrüchigen auf einer Trage zu Jesus zu bringen, als er in der Synagoge von Kapernaum predigt. Weil aber kein Durchkommen ist, entscheiden sie sich, aufs Dach zu steigen, das Schilfdach abzudecken und die Bahre mit ihrem Freund an Seilen hinunterzulassen, direkt vor Jesu Füße. Der Kranke wird geheilt, der Lahme kommt wieder auf die Füße. Das Wunder geschieht durch die Kraft des Heilandes, aber es geschieht eben auch durch die Kraft des Glaubens, weil dieser Kranke Freunde hatte, die ihm den Weg gebahnt haben.

Gesundheit ist also nicht nur eine Frage guter Selbstsorge. Um gesund zu bleiben, sind wir immer auch auf die Solidarität anderer angewiesen. Wir brauchen eine Krankenversicherung, die auch schwere Risiken abdecken kann, professionelle Hilfe in Not, aber auch die ganz praktische Unterstützung unserer Familie, unserer Nachbarn und Freunde. Wir brauchen die Gemeinschaft, die uns aufrichtet, wenn wir allein aufgeben würden. In seinem Abendlied "Der Mond ist aufgegangen" hat der bekannte Dichter Matthias Claudius die gegenseitige Anteilnahme als eine Basis unseres Lebens beschrieben. Dort heißt es am Ende: "Verschon uns, Gott, mit Strafen und lass uns ruhig schlafen. Und unsern kranken Nachbarn auch!"

Dass wir uns mit unseren Mitmenschen in Solidarität verbinden - im Gebet, in wechselseitigen Hilfen, aber auch in allen Konsequenzen, die daraus für Medizin, Pflege und Gesundheitspolitik folgen -, dazu ruft der Rat der EKD auf. Deshalb überlegen wir: Wie ist es in Zukunft möglich, allen Bürgerinnen und Bürgern den gleichen und gerechten Zugang zu den notwendigen Gesundheitsleistungen zu erhalten? Wie muss sich die Lastenverteilung in den Kassen, wie müssen sich Institutionen und Dienstleister, aber auch unsere Nachbarschaften ändern, damit das gelingt? Was kann die Kirche dazu beitragen?

Die vorliegende Denkschrift analysiert die aktuellen Herausforderungen der Gesundheitspolitik und mahnt vor allem an, in unserem weiterhin reichen Land das Prinzip der Solidarität nicht aufs Spiel zu setzen. Sie gibt Empfehlungen, wie unser Gesundheitssystem so weiterentwickelt werden kann, dass die Menschen - Patienten wie Beschäftigte - im Mittelpunkt stehen.

Dem Vorsitzenden der Ad-hoc-Kommission, Prof. Dr. Peter Dabrock, und allen Kommissionsmitgliedern danke ich für die Vorbereitung dieser Denkschrift.

Hannover, im Oktober 2011

Präses Nikolaus Schneider
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

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