Es ist normal, verschieden zu sein

Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, Januar 2015

3. Inklusion als Aufgabe

Im Folgenden werden nun zentrale Aufgaben im Kontext von Inklusion benannt, die im nachfolgenden Kapitel 4 dann für einzelne gesellschaftliche und kirchliche Handlungsfelder entfaltet und konkretisiert werden.

3.1 Denken und Sprechen

Sprache kann unwillkürlich und unbedacht Exklusion bewirken. Deshalb steht am Anfang gelingender Inklusion eine Veränderung des Denkens und Sprechens. Menschen lernen, die eigenen Bilder und Vorstellungswelten dahingehend zu hinterfragen, ob und in welcher Form sie ausgrenzend wirken oder teilhabeorientiert sind. Wo nehmen wir andere als fremd, abweichend oder andersartig wahr? Wann empfinden wir Vertrautheit und Sympathie?

Worte schaffen Wirklichkeit

Worte haben Kraft, sie lassen Bilder entstehen und tragen zur eigenen Identität bei. Worte schaffen Beziehungen. Worte können aber auch verletzen, sie schaffen Wirklichkeit, die Menschen mit Behinderungen ausgrenzt. Wer sich in betroffene Mitmenschen versetzt, hört manchen Text, manches Wort mit anderen Ohren. Das zunächst Selbstverständliche wirkt aus ihrer Perspektive anders, verstörend, sogar beleidigend. Sprache kann Menschen herabsetzen und ausschließen, kann sie zu Außenseitern machen. Die Sprache in biblischen Texten und Gottesdienstliturgien bildet da keine Ausnahme. Metaphern in Bibeltexten sind nicht einfach zu ändern, aber ein aufmerksames und sorgfältiges Formulieren kann dem Verstehen Brücken bauen (vgl. Kap. 5).

Alle Menschen hören oder lesen Worte in ihrem persönlichen Kontext und verstehen sie entsprechend. Dadurch verschieben sich Bedeutungen oder stellen sich besondere Assoziationen ein. Im Gespräch z. B. mit blinden Menschen wagen manche nicht, das Wort »sehen« oder »betrachten« zu benutzen. Aber jeder blinde Mensch »sieht« fern, hat seine Freundin »gesehen« oder sagt bei der Begrüßung »schön, dich zu sehen«. Für Betroffene meint hier das Wort »sehen« ihre ganz besondere Art der Wahrnehmung, »sehen« ist zugleich riechen, berühren und hören. Dieser Sprachgebrauch weist auf die Vielfalt unterschiedlicher »Seherfahrungen« hin und bedeutet, dass nicht ein Verständnis von »Sehen« das einzig richtige ist. Der Austausch darüber fördert das gegenseitige Verständnis. In ähnlicher Weise ist ein sensibler Gebrauch biblischer und liturgischer Metaphern nötig, die auch diskriminierenden Charakter haben können. Wenn im Gottesdienst »Treib aus, o Licht, all Finsternis, behüt uns, Herr, vor Ärgernis, vor Blindheit und vor aller Schand ...« (EG 440,3) gesungen wird, klingt dieser Vers für einen von Blindheit betroffenen Menschen anders als für die übrige Gemeinde.

Worte verändern Realität — und Realität verändert Worte

Mit Sprache können Bewusstsein und Realität verändert werden. Gerade, wenn es um die Bezeichnung von Menschen mit Behinderungen geht, zeigt sich ein großer Wandel über die Jahrzehnte und Jahrhunderte. Sprach man lange Zeit ganz selbstverständlich von »Idioten« und »Krüppeln«, so setzte sich später der Begriff »Behinderter« durch. Unter der abstrakten Bezeichnung »Behinderter« hat man versucht, weitere Unterteilungen und Spezifizierungen zu schaffen, um Menschen mit Behinderungen zu klassifizieren: Körperbehinderte, Geistigbehinderte, Sinnesbehinderte, Lernbehinderte. Doch damit werden Menschen nach ihren Defiziten eingeteilt. Nicht ihre Fähigkeiten stehen dann im Vordergrund, ihre individuellen Möglichkeiten, sondern das, was von der definierten Norm abweicht. Sprechen wir von gehörlosen Menschen oder körperbehinderten Menschen, dann kommt ihr Menschsein in den Blick. Jedoch steht immer noch die Behinderung an erster Stelle. Die aus dem englischen Sprachraum stammende Bezeichnung »Menschen mit Handicap« hat sich ebenfalls in Deutschland verbreitet, da »Handicap« einen eher leichteren und weniger negativen Klang hat. Trotzdem bleibt auch hier die Definition über den Mangel im Vordergrund.

Um sich davon zu lösen, versuchte man, positive Umschreibungen zu benutzen. So wurde aus einem geistig behinderten Menschen ein anders begabter oder mental herausgeforderter Mensch, ein blinder Mensch wurde zum visuell herausgeforderten Menschen und ein Lernbehinderter wurde zu einem Menschen mit Lernschwierigkeiten. Aber auch diese Beschreibungen sind nicht ohne Probleme. Weitergeführt wurde dieser Ansatz, indem man von Menschen mit besonderen Bedürfnissen, Menschen mit Assistenzbedarf oder Menschen mit Anspruch auf Assistenz sprach. Das weltweite Netzwerk »People First«, in dem sich geistig behinderte Menschen zusammengeschlossen haben, tritt dafür ein, dass Menschen nicht mehr über ihre Lernschwierigkeiten oder ihren Assistenzbedarf definiert werden. Sie empfinden das als Diskriminierung, denn sie sehen sich zuerst einmal als Menschen, und dabei ist jeder Mensch einzigartig. Ihre Besonderheit bezeichnen sie als Eigenart. Nun wird nicht mehr von gehörlosen Menschen, sondern von Menschen, die gehörlos sind, gesprochen. Die Vielfalt der Begriffe zeigt das Bemühen, mit Sprache sensibel umzugehen. In dieser Orientierungshilfe wird zumeist von »Menschen mit Behinderungen« gesprochen.

Die Aufgabe: unterscheiden, ohne zu diskriminieren

Alle Begriffe sind tastende Versuche, die Realität zu beschreiben, Gruppen zu bilden, Menschen anzusprechen und hervorzuheben, ohne diskriminierend zu sein. Doch gleich, welche Begrifflichkeit man wählt, auch wenn man sensibel vorgeht — es gibt keine einfache Lösung für Unterscheidungen, die benennen, ohne zu diskriminieren. Inklusion beginnt deshalb mit dem Nachdenken über Sprache, mit einer verantwortungsvollen Suchbewegung:

  • Es geht nicht darum, über Menschen zu reden, sondern mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Behinderung sollte nicht sprachlos machen, auch wenn man um die sprachlichen Herausforderungen weiß.

  • Inklusion bedarf einer selbstreflexiven Sprache: Sie bedarf einer Sprache, die sich in die Perspektive des anderen hineindenkt. Wenn man statt: »Er ist an den Rollstuhl gefesselt« sagt: »Er benutzt einen Rollstuhl, um mobil zu sein«, dann verändert die Sprache den Blick auf die Situation. Die Herausforderung besteht darin, sich der eigenen Sprache bewusst zu werden und die Mitmenschen mit ihrer Situation im Blick zu behalten, am besten in die Suche nach einer angemessenen Sprache einzubeziehen. Es geht um eine Sprache, die ermöglicht und ermutigt.

3.2 Heterogenität

Eine inklusive Gesellschaft ist vielfältig. Heterogenität zeigt sich in unterschiedlichen Neigungen, Fähigkeiten, Kompetenzen, Lebensgeschichten und Lebenserfahrungen.

Es stellt sich damit die Aufgabe, Unterschiedlichkeit zuzulassen, ohne sie mit Auf- und Abwertungen zu versehen. Es geht um Gleichwertigkeit ohne Beliebigkeit. Dazu sind Standards des Zusammenlebens aus ethischer oder rechtlicher Perspektive zu formulieren und bei ihrer Verwirklichung Vielfalt zuzulassen. Dabei lösen sich feste Gruppenbeschreibungen auf und werden durch eine differenzierende Sprache ersetzt (vgl. 3.1).

Allerdings sind hier die Probleme nicht zu übersehen. An vielen Stellen sind subtile Formen der Differenzierung nötig, etwa in der Orientierung an Zielgruppen und Teilnehmendenkreisen oder in der Unterscheidung von Interessen. Hier jeweils zu reflektieren, was das Kriterium für eine Gruppenbildung sein kann und wie dieses heterogenitätssensibel gestaltet werden kann, bleibt eine Herausforderung (vgl. Kap. 4).

»Nichts ohne uns über uns« — Teilhabestandards

»Nichts ohne uns über uns« ist der griffige Slogan, den Menschen mit Behinderungen in diesem Kontext geprägt haben und der auf ihre umfassenden Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte verweist. Zu den Teilhabestandards gehören daher auch die Barrierefreiheit von Räumen, Sprache, Haltungen und Strukturen sowie der Grundsatz, dass über keinen befunden, gesprochen oder geplant wird, ohne ihn angemessen einbezogen zu haben.

Imperfektibilität als Folie für Heterogenität

Inklusion und die damit verbundene Radikalisierung von Heterogenität ermöglicht den Abschied von der Utopie des »perfekten Menschen« und gibt den Blick frei auf die Vielfalt des Imperfekten. Aus der Perspektive des christlichen Glaubens ist dies eine heilsame, geradezu befreiende Alternative: nicht dem perfekten Leben huldigen, sondern Ja sagen zum imperfekten, zum unvollkommenen Leben und gerade daran das »sehr gut« der Schöpfung (1 Mose 1,31) zu sehen (vgl. 2.2).

Dieser Weg macht unser Zusammenleben menschlich, das Miteinander barmherzig und das eigene Leben liebenswert. »Der imperfekte Mensch«, Titel einer Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden, erinnert an die biblische Botschaft, in der Nachfolge Jesu Raum zu schaffen für die, die festgelegten Normen anscheinend nicht genügen. Statt Menschen immer weiter zu perfektionieren, sollte der unvollendete und bruchstückhafte Charakter unseres Wesens in den Vordergrund treten: jede Persönlichkeit mit ihrer unverwechselbaren Geschichte, dem Erbe und den Lasten, die sie mitbringt, aber auch mit individuellen Varianten, mit Ecken und Kanten. Wo Menschen mit Mängeln und Macken, mit Schwächen und Grenzen akzeptiert werden, kann eine neue Kultur des Zusammenlebens entstehen.

Sensibilität für menschliche Vielfalt aufzubauen bedeutet, eine selbstreflexive Lebenshaltung zu erlernen, die die eigenen Gewohnheiten nicht überhöht, sondern relativiert. Es ist eine kirchliche und gesellschaftliche Aufgabe, diese »Heterogenitätssensibilität« zu fördern, festgelegte Muster der Wahrnehmung zu reflektieren und zu durchbrechen und vielfältige Handlungsoptionen anzubieten. Hier sind Bildungsangebote und ein entsprechendes Klima der Akzeptanz von herausragender Bedeutung. Positive Vorbilder, wie ein Leben mit Imperfektibilität gelingen kann, sind zu stärken, zu fördern und zu verbreiten.

3.3 Gedenken und Erinnern

Eine weitere Aufgabe auf dem Weg zu gesellschaftlicher Inklusion liegt in der Entwicklung einer angemessenen Gedenk- und Erinnerungskultur angesichts des Schicksals von Menschen mit Behinderungen in der Geschichte, vor allem angesichts der Massenmorde im Nationalsozialismus.

Gedenken an die Ermordeten während des Nationalsozialismus

Es ist noch nicht lange her, dass in Deutschland Tausende von Menschen als sogenanntes »lebensunwertes Leben« ermordet wurden. Diese sogenannten Euthanasiemorde wurden von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung befürwortet oder zumindest gebilligt. Die Dehumanisierung der Gesellschaft war zur Zeit des Nationalsozialismus so weit vorangeschritten, dass manchmal selbst diejenigen Menschen, die als Angehörige, Verwandte, Freunde oder Pflegende eine enge Bindung zu den ihnen Anvertrauten hatten, mit diesem Vorgehen einverstanden waren. Im Rahmen der »Aktion T4« (nach der Adresse des zentralen Organisationsbüros der sogenannten »Euthanasiemorde« in der Tiergartenstraße 4 in Berlin) wurden, systematisch geplant, etwa 70.000 Menschen in Deutschland getötet. Auch wirtschaftliche Überlegungen im Zusammenhang mit eingesparten Mitteln im Sozial- und Gesundheitsbereich und die Bereicherung am Besitz der Getöteten motivierten den NS-Staat zu dieser unfassbaren Aktion. Ferner wurden bereits von 1934 an etwa 400.000 Menschen zwangssterilisiert (wobei alleine 6.000 zu Tode kamen). Leitend war hier die irrige Idee der nationalsozialistischen Rassenideologie, damit zu einer höheren Entwicklung des Erbgutes beizutragen (Eugenik). Dabei spielte auch der seit den 1920er Jahren dominanter werdende gesellschaftliche Utilitarismus eine fatale Rolle.

Die Spur der Erinnerung

Grafeneck auf der Schwäbischen Alb war die erste von insgesamt sechs T4-Tötungsanstalten und zugleich die erste »Mordfabrik« im Deutschen Reich. Zum 70. Jahrestag der Beschlagnahmung des Schlosses Grafeneck für »Zwecke des Reiches« wurde im Oktober 2009 eine zehn Zentimeter breite und fast 80 km lange lilafarbene Linie der Erinnerung von Grafeneck bis zum damaligen Innenministerium nach Stuttgart gezogen. Dort saßen einst die Schreibtischtäter, die die Tötungsbefehle aus Berlin umsetzten.

Die »Spur der Erinnerung« gemahnte an die 10.654 getöteten Menschen mit einer geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigung. Auf den ersten Metern wurde sie von einer Rollstuhlfahrerin mit dem Pinsel gezogen. Entlang der Linie fanden an vielen Orten insgesamt 160 Veranstaltungen und Gedenkgottesdienste statt. Behinderteneinrichtungen, Schulen, Gemeinden und Vereine beteiligten sich. Mehr als 1.000 Schüler und Schülerinnen hatten sich zuvor im Unterricht intensiv mit dem sogenannten Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten auseinandergesetzt.

Viele Einrichtungen der Behindertenhilfe haben sich damals an diesem mörderischen Treiben beteiligt. Es muss heute selbstverständlich sein, dass die nachfolgenden Institutionen sich mit dieser Geschichte auseinandersetzen, sie kritisch aufarbeiten und der Opfer öffentlich gedenken. Inklusion heißt eben auch, sich an die in jener Zeit sowie die in den Jahrhunderten zuvor begangenen Gräueltaten an Menschen mit Behinderungen immer wieder zu erinnern. Eine zentrale Bedeutung hat folglich das in Berlin entstehende nationale Mahnmal.

Gedenken im Kontext des schwierigen Wegs auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft

Aber nicht nur die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus bedürfen einer Gedenk- und Erinnerungskultur, sondern die gesamte Geschichte der Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen aus dem gesellschaftlichen Leben. Auch ist daran zu erinnern, dass der Gedanke der Inklusion von den Betroffenen hart erstritten worden ist, etwa im Ringen um die Anerkennung des Behindertensportes, um das Recht auf gemeinsamen Unterricht in allgemeinbildenden Schulen oder in der Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung (z. B. durch das sogenannte »Krüppeltribunal«, das sich 1981 gegen ein Urteil auf Schadensersatz bei Anwesenheit von Menschen mit Behinderungen im Urlaub wandte). Die Beschreibung dieser Auseinandersetzungen und die Würdigung ihrer Protagonisten sind wichtige Bestandteile des Aufbaus einer inklusiven Erinnerungskultur.

3.4 Medizinische Diagnostik

Die Herausforderungen und Aufgaben, die sich aus der Forderung nach Inklusion ergeben, berühren auch die Praxis der Pränataldiagnostik und die daraus häufig folgenden Schwangerschaftsabbrüche sowie weitere Aspekte medizinischer Diagnostik. In der Öffentlichkeit werden sie jedoch selten im Zusammenhang mit Inklusion diskutiert.

Der Gesetzgeber sieht vor, dass ein Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich rechtwidrig ist, aber unter gewissen Bedingungen dennoch straffrei bleibt; z. B. dann, wenn er »unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden« (sogenannte medizinische Indikation) [28].

1995 wurde die bis dahin bestehende Regelung aus dem Gesetz gestrichen, Schwangerschaften straffrei abbrechen zu können, wenn das Kind möglicherweise oder sicher mit Behinderungen zur Welt kommen wird (sogenannte embryopathische Indikation). Dies ist im Sinne ethischer Grundsätze zu Recht erfolgt und unterstützt den Gedanken der Inklusion. Seitdem wird jedoch mit der Begründung, dass die Frau die Geburt eines solchen Kindes psychisch nicht verkraften könne, sehr häufig Gebrauch von der medizinischen Indikation gemacht.

In diesen Fällen ist ein Schwangerschaftsabbruch nach einer vorausgehenden ärztlichen Beratung ohne Befristung möglich und wird ohne Einschränkungen gewährt.

In der Ausübung der regulären Schwangerenvorsorge stehen bei der medizinischen Diagnose immer früher einsetzbare und gesundheitlich immer weniger riskante Analyseverfahren zur Verfügung. Da inzwischen immer differenzierter nach Chromosomenabweichungen und organischen Fehlbildungen geforscht werden kann, erhalten die werdenden Eltern sehr viele — oftmals verunsichernde — Informationen. Das Angebot früher Untersuchungen und Eingriffe suggeriert die Vermeidbarkeit von Erkrankung und Behinderung durch medizinischen Fortschritt und bedient den (unbewussten) Wunsch nach einem gesunden, ja möglichst »perfekten« Kind. Die öffentliche Meinung vermittelt, dass dafür legitime Lösungen zur Verfügung stehen. Der gesetzlich definierte Anspruch auf psychosoziale Beratung in einer Schwangerschaftsberatungsstelle [29], der auch Beratung vor der Inanspruchnahme von Untersuchungen umfasst, um mögliche kommende Verunsicherungen abwägen oder bewältigen zu können, wird deshalb kaum genutzt und wohl auch von Ärztinnen und Ärzten oder Kirchengemeinden zu wenig vermittelt.

Weder in der Forschung noch in der Anwendung wird in der Regel unterschieden, welche Erkenntnisse aus diagnostischen Verfahren gezogen werden: ob sie zur verbesserten Behandlung und Heilung der Kinder verhelfen können oder ausschließlich das Risiko eines Schwangerschaftsabbruchs erhöhen, weil sie ein bisher noch nicht oder grundsätzlich nicht behandelbares Phänomen diagnostizieren.

Schwangere bzw. werdende Eltern, die in einer solchen Situation das Kind trotzdem bekommen wollen, lehnen unter Umständen einige der weiteren möglichen Untersuchungen ab. Man spricht vom »Recht auf Nichtwissen«, wenn ein Schwangerschaftsabbruch so oder so nicht in Frage kommen wird. Werdende Eltern geraten dabei in Bedrängnis, für jede unterlassene Untersuchung schriftlich attestieren zu müssen, dass sie die Untersuchung abgelehnt haben. Der Hintergrund hierfür liegt in dem Druck, den Ärztinnen und Ärzte erfahren, die Gefahr laufen, für eine ungenügende Aufklärung der werdenden Eltern belangt und bei Geburt eines kranken Kindes zu erheblichen Schadensersatzforderungen verklagt zu werden. (Ein solches Urteil hat der Bundesgerichtshof im Jahr 2002 gegen einen Gynäkologen gefällt und mit dem erlittenen »Unterhaltsschaden der Eltern« begründet, weil ein Schwangerschaftsabbruch aus Unkenntnis der Behinderung des Kindes unterblieb.) Hier muss sich die Rechtsprechung im Sinne der Inklusion neu überprüfen lassen.

Wer Mutter oder Vater werden möchte, kann sich bereits heute vorab mit den Herausforderungen eines Lebens mit einem behinderten Kind vertraut machen: Neben den Schwangerschaftsberatungsstellen stehen die Einrichtungen der Behindertenhilfe (z. B. des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe) zur Verfügung, um ihnen Auskunft und Beratung zu gewähren. Diese Unterstützungsmöglichkeiten sollten noch besser bekannt gemacht werden. Allein durch verbesserte Information wird jedoch der Wandel nicht eintreten. Im Wesentlichen ist es die Not der Betroffenen, eine drohende schmerzliche Lage rasch beenden zu wollen, die der Informationssuche, Selbstbefragung und ergebnisoffenen Abwägung entgegensteht. Von den beteiligten Angehörigen bzw. den Beraterinnen und Beratern wird ihnen zumeist die Schnelligkeit und Eindeutigkeit des Schwangerschaftsabbruchs als beste Lösung angeboten.

Vor diesem Hintergrund müssen sich Eltern zunehmend für ihre Entscheidung, ein Kind mit Behinderungen auf die Welt zu bringen, rechtfertigen. Diese Mentalität steht einer inklusiven Gesellschaft entgegen und führt zu einem inakzeptablen Verständnis von Behinderung als vermeidbarem Übel.

Trisomie 21 (sogenanntes Down-Syndrom)

Laut dem britischen National Down Syndrome Cytogenetic Register entscheiden sich 94 Prozent der Frauen, bei denen durch einen vorgeburtlichen Test eine Trisomie 21 des Kindes festgestellt worden ist, für einen Schwangerschaftsabbruch. Demgegenüber ermöglichen der medizinische Fortschritt und eine angemessene Förderung solchen Kindern heute vielfach ein erfülltes und langes Leben. Der »Welt-Down-Syndrom-Tag« ermutigt in jedem Jahr mit Aktionen und Filmen [30] zur Elternschaft. Das gewählte Datum, der 21. März, symbolisiert das charakteristische Merkmal des Down-Syndroms, nämlich das dreifache Vorhandensein des 21. Chromosoms.

Diese Fragen stellen sich auch im Hinblick auf die Präimplantationsdiagnostik (PID). Hier ist an die Äußerung der EKD aus dem Jahr 2011 zu erinnern und festzuhalten, dass sich das christliche Menschenbild darauf gründet, »dass der Mensch nicht sein eigener Schöpfer ist, sondern dass sich alles Leben Gott verdankt. Darin, dass jeder Mensch zum Gegenüber Gottes geschaffen ist, liegt die nicht ableitbare, nicht verzweckbare Würde eines jeden Menschen begründet. Eine mit einer Zulassung der PID bei bestimmten Krankheitsbildern zwingend gegebene Selektion zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben ist damit nicht vereinbar. Die Zulassung der PID relativiert dieses Menschenbild, wenn sie dazu dient, auszuwählen und letztlich festzulegen, welches Leben >lebenswert< ist und welches nicht. Auch könnte ein noch so sorgfältig erarbeiteter Kriterienkatalog keine überzeugende Grenze zwischen lebensunverträglicher und zu bejahender Behinderung angeben.« (EKD 2011) [31]

Deshalb haben Eltern das Recht auf Nichtwissen. Es sollte jederzeit gleich selbstverständlich sein, eine pränatale Diagnostik bzw. eine Diagnostik im Lebenslauf in Anspruch zu nehmen oder diese abzulehnen. Schwangere und Paare, bei denen während der Schwangerschaft eine Behinderung des Kindes diagnostiziert wird, brauchen seelsorgliche Begleitung und psychosoziale Beratung in ihrer Entscheidungsfindung vor, während und nach der Diagnostik. Auf diese muss von behandelnden Ärzten offensiver hingewiesen werden. Sie dürfen sich nicht für ihre Entscheidung rechtfertigen müssen, entweder keine Diagnostik durchgeführt oder ein als behindert diagnostiziertes Kind zur Welt gebracht zu haben. Im Gegenteil: Ihnen gebührt Respekt, Anerkennung und Unterstützung. Sie brauchen eine Kultur des Willkommenseins und Dazugehörens, selbstverständliche Möglichkeiten und Aufgaben christlicher Gemeinden. Eltern müssen sich darauf verlassen können, dass ihnen alle Möglichkeiten der gesellschaftlichen Unterstützung für das Leben mit einem behinderten Kind zur Verfügung stehen. Dafür muss medizinisches und psychologisches Personal fortgebildet sowie seelsorglich begleitet und ethisch beraten werden. Diese schwierige ethische Situation erfordert eine entsprechende Gedenk- und Erinnerungskultur, z. B. durch Friedhofsfelder für Föten bzw. Embryos und entsprechende Gedenkgottesdienste, wie sie seit Längerem auch für totgeborene Kinder gestaltet werden. Jenseits der Fragen von Verantwortung und Schuld, die bei einem ethischen Dilemma thematisiert werden, geht es in allen diesen Fällen um Trauer, die Raum und Zeit zur Verarbeitung braucht.

Aufbau von Kooperationsstrukturen bei PND

Die drei Bundesfachverbände Deutscher Evangelischer Krankenhausverband, Evangelische Konferenz für Familien- und Lebensberatung sowie der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe haben von 2011 bis 2014 ein Kooperationsprojekt »Aufbau von interprofessionellen Kooperationsstrukturen bei PND« durchgeführt, um zwischen den Arbeitsbereichen der Verbände und den dort ansässigen Berufsgruppen zu einem gemeinsamen Vorgehen bzw. einer abgestimmten Kooperation in Bezug auf die Beratung von schwangeren Frauen, deren Partnern und den Paaren insgesamt zu kommen und die Kooperation so zu verbessern, dass den betroffenen Personen bestmögliche Hilfe, Beratung und Unterstützung geboten werden kann. Dabei ist es ein wesentliches Anliegen, sich in verbindlicher Weise so zu organisieren, dass man einander kennt, vertrauensvoll und vorurteilsfrei zusammenarbeitet und gemeinsam alle Optionen für die betroffenen Personen nutzt.

3.5 Recht und politische Teilhabe

Die rechtliche Umsetzung der Menschenrechtsperspektive in Anlehnung an das Inklusionsverständnis der UN-Behindertenrechtskonvention ist im alltäglichen Leben längst noch nicht durchgehend gelungen. Gute rechtliche Rahmenbedingungen können Inklusion erleichtern und befördern. Ungenügende erschweren das Gelingen von Inklusion oder schließen sie sogar aus.

Unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzung von Menschenrechten geht es darum, Inklusion in die Breite der gesellschaftlichen Praxis zu bringen; denn die Anerkennung von Inklusion als gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe geht über Fragen der sogenannten Behindertenpolitik weit hinaus und umfasst Fragen der Antidiskriminierung, der Jugend-, Kinder- und Altenpolitik, der Migrationspolitik, der Ökumene, des interreligiösen Dialogs sowie der Genderpolitik.

Das Verständnis von Inklusion als menschenrechtliche Leitnorm bedingt eine Fülle gesellschaftlicher und kirchlicher Aufgaben. Es gilt, Barrieren abzubauen und allen Menschen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen (vgl. Kap. 4). Dabei sind alle Formen von Behinderung in gleicher Weise anzuerkennen. (Manche Behindertengruppen haben eine bessere gesellschaftliche Lobby als andere. Sichtbare Behinderungen unterscheiden sich in ihrer Akzeptanz je nach Grad und Schwere und werden anders wahrgenommen als unsichtbare, wie z. B. psychische Behinderungen. Hier gilt es, gegebenenfalls subtile gegenseitige Diskriminierungen abzubauen.)

Außerdem sind verbesserte Wahlmöglichkeiten bereitzustellen. Unter der Prämisse einer ökonomisch freien Entscheidung sollen Menschen z. B. die Möglichkeit haben, zwischen ambulanten Wohnformen und Heimunterbringung zu entscheiden (vgl. Kap. 4).

Insgesamt verpflichtet die menschenrechtliche Leitnorm den Staat, die Kirche, Unternehmen, Schulen, NGOs und andere Akteure des gesellschaftlichen Lebens, diesem Thema hohe Aufmerksamkeit zu widmen. Inklusion ist keine Frage der persönlichen Vorliebe, der zufälligen Priorisierungen oder der Entscheidungsprozesse von Gremien, vielmehr ist sie eine gesellschaftliche Pflicht. Auch die Kirche kann für sich nicht in Anspruch nehmen, einen Sonderraum darzustellen, ihr ist aufgegeben, ihren spezifischen Beitrag zur Umsetzung dieser Leitnorm zu leisten.

Dabei geht es aber nicht nur darum, dass Institutionen und Gremien Rahmenbedingungen schaffen, die andere Menschen betreffen. Das Recht aufTeilhabe zielt auch darauf, die Betroffenen selbst wie auch ihre Angehörigen und Freunde zur politischen Gestaltung zu ermutigen — sodass »Behindertenpolitik« eben auch die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen umfasst. Was das angeht, sind bis heute starke Defizite festzustellen: Selbst in Gremien der »Behindertenhilfe« fehlen zum Teil noch die Betroffenen. Zwar engagieren sich viele Menschen ehrenamtlich für Menschen mit Behinderungen, doch diese selbst sind noch viel zu selten ehrenamtlich tätig. Das Beispiel der langjährigen Arbeit von Kirche und Diakonie in Essen (Aktion Menschenstadt) zeigt, dass es dazu viele Möglichkeiten von der Bahnhofsmission bis zur Museumsführung gibt. Und auch in Quartiersarbeit, Nachbarschaftshilfe und Kommunalpolitik haben Selbsthilfegruppen von Menschen mit Behinderungen angefangen, sich aktiv zu beteiligen und sich selbst für eine gute Veränderung der Rahmenbedingungen einzusetzen. Ein Empfang im Rathaus, eine Auszeichnung am Tag des Ehrenamts, ein Nachbarschaftsladen kann dabei eine Initialzündung sein. Das Recht auf politische Teilhabe ist wesentlich, wenn es darum geht, das eigene Leben in allen seinen Dimensionen zu gestalten.

3.6 Sozialleistungssysteme als Grundlage für die Finanzierung von Inklusion

Im Ringen um Inklusion und die Herausforderungen der Finanzierung geht es auch um die zukünftige Gestalt unseres hoch ausdifferenzierten Sozial- und Gesundheitssystems. Die fünf Säulen der Sozialversicherung und die ergänzenden Leistungen der Sozialhilfe sind bereits in hohem Maß auf die Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnitten. Dabei sind nicht nur die Leistungen der Sozialversicherungen (insbesondere Kranken- und Pflegeversicherung) ausdifferenziert, sondern auch die unterschiedlichen Leistungen der Sozialhilfe, die das Existenzminimum sichern und dann greifen, wenn Menschen durch das Netz der Sozialversicherungen zu fallen drohen (z. B. Hilfe zur Gesundheit oder Eingliederungshilfe).

Diese Ausdifferenzierung geht zum Teil mit Problemen in der Verzahnung zwischen Sozialversicherung und Sozialhilfe sowie ambulanten und stationären Leistungen einher. Viele Bürgerinnen und Bürger sind aber kaum noch in der Lage, die Vielfalt der Angebote zu durchschauen, was es ihnen erschwert, bedarfsgerechte Leistungen in Anspruch zu nehmen und ihre Rechte auf Teilhabe und Selbstbestimmung einzufordern.

So enthält das gut ausgebaute Sozialsystem eben auch einen Widerspruch: Einerseits zählen die verschiedenen Teile des Sozialgesetzbuchs alle Gruppen auf, die tendenziell hilfebedürftig sind. Rechtsansprüche wurden formuliert, Hilfesysteme geschaffen, Ausbildungen und Fortbildungen entwickelt. Immer weiter differenzierten sich die Ansprüche aus. Im deutschen Sozialstaat hat, wer hilfebedürftig ist, einen Rechtsanspruch auf Hilfe. Andererseits bleibt auch, wer einen Rechtsanspruch wahrnimmt, »Hilfeempfänger«. Denn die in den Gesetzen geregelten Ansprüche der Betroffenen sind meist defizitorientiert, d. h. durch Krankheit, Behinderung etc. bestimmt und nur sekundär auf Teilhabe- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten ausgerichtet. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass inzwischen von »Kunden« der sozialen Dienste gesprochen wird.

Der Sozialstaat hat vermehrt Züge eines Sozialmarktes bekommen, auf dem Dienstleistungen und Produkte angeboten, verglichen und verkauft werden. In Folge dieser Logik arbeiten Kassen wie Nutzer mit dem günstigsten, kompetentesten und effektivsten Anbieter im jeweiligen Sektor zusammen. Die Bedeutung konfessioneller Zugehörigkeiten, Milieus und langfristiger subsidiärer Beziehungen ist in den Hintergrund getreten.

Dieser Umbau des Sozialstaates wird in der Regel finanziell begründet: Bei wachsenden Staatsschulden und gedeckelten Kassen auf der einen Seite und steigenden Ansprüchen gerade in Medizin und Pflege auf der anderen Seite könnten — so wird erwartet — Markt und Wettbewerb die passenden Angebote besser steuern. Ohne Frage war es ein wichtiger Schritt nach vorne, Menschen mit Behinderungen, Pflege- oder Eingliederungsansprüchen als Gegenüber auf Augenhöhe zu verstehen, die gegebenenfalls mit eigenem Budget und mit Beratungsleistungen selbst in der Lage sind, sich die notwendigen Module einzukaufen und sich die entsprechenden Hilfen für Wohnen und Arbeit, für Freizeit und Pflege zusammenzustellen. Aber die Leistungen zu überschauen und zu koordinieren, ist anspruchsvoll, und die Ressourcen sind begrenzt.

Wenn mit Inklusion das Ziel erreicht werden soll, dass Menschen ihr Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe wahrnehmen können, bedarf es professioneller Assistenz- und Beratungssysteme zur Auswahl und Inanspruchnahme der jeweils passenden Leistungs- und Unterstützungsangebote. Ihre Inanspruchnahme darf dabei nicht von der persönlichen finanziellen Situation der Betroffenen abhängig sein, sondern muss allen Betroffenen zur Verfügung stehen. Die Vielfalt der Angebote und Anbieter macht es darüber hinaus nötig, dass es Qualitätssicherungssysteme gibt, die garantieren, dass die erbrachten Leistungen auch den aktuellen fachlichen Standards entsprechen. Nur so kann verhindert werden, dass im Sinne eines »Preiskampfes« die Betroffenen minderwertige Leistungen erhalten. Neben der Verwirklichung individueller Rechtsansprüche können nur vernetzte Strukturen im Gemeinwesen (wie z. B. in den Projekten der Gemeinwesendiakonie) und das Engagement der Zivilgesellschaft Menschen mit Behinderungen eine umfassende Teilhabe ermöglichen. Insofern bedarf es auch weiterhin der »sozialen Anwaltschaft von Kirche und Diakonie«, um die Teilhabe- und Selbstbestimmungsrechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken.

Dabei lässt sich — von der Reform der Kinder- und Jugendhilfe über die Psychiatrie bis zur Ambulantisierung der Behindertenhilfe — an die Emanzipationsbewegungen von Betroffenen, Angehörigen und Engagierten anknüpfen. Sie ging einher mit der Öffnung der Einrichtungen ins Gemeinwesen, der Entwicklung professioneller Netzwerke und einer aktiven Engagementpolitik auch in den Kirchengemeinden. Das alles geschah freilich in den 1970er und 1980er Jahren vor dem Hintergrund des Ausbaus des Wohlfahrtsstaats. Diese Phase mit ihrem stabilen Wachstum war bestimmt durch eine Rechtsentwicklung, die einerseits die Autonomie sowie das Wunsch- und Wahlrecht des Hilfeempfängers betonte und andererseits die Subsidiarität der Freien Wohlfahrtspflege respektierte.

Inzwischen haben Kritiker jedoch den Eindruck, dass der Prozess der Inklusion angesichts unübersichtlicher politischer Rahmenbedingungen, ungeklärter Schnittstellen im Sozialversicherungssystem und leerer kommunaler Kassen eher ein Sparprozess auf Kosten der Betroffenen, der Zivilgesellschaft und insbesondere des Ehrenamts ist und dass die Vielfalt der Angebote häufig lediglich im Sinne der Wettbewerbsdynamik genutzt wird. Es kann nicht übersehen werden, dass die ausstehende Föderalismusreform wie auch die Schuldenbremse solche Sorgen durchaus realistisch erscheinen lassen. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn Eltern wie Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Mitarbeitende diakonischer Einrichtungen und Dienste befürchten, dass im Zuge der Inklusion das hohe professionelle Niveau von Pflege, gesundheitlicher Versorgung, Bildung und Förderung in Deutschland verloren gehen könnte.

Im Allgemeinen werden Leistungen und Entgelte zwischen Sozialversicherungsträgern bzw. Sozialhilfeträgern (Leistungsträgern) und Leistungserbringern grundsätzlich gleichberechtigt ausgehandelt. Da das Geld in der Regel von den Leistungsträgern kommt, dürfte das Verhandlungsgleichgewicht in vielen Situationen jedoch nicht gegeben sein, und auch diakonische Dienste und Einrichtungen als Leistungserbringer müssen sich an den Ansprüchen der Leistungsträger, ihren Erwartungen und Standards orientieren. Der nun eingeschlagene Weg der Inklusion kann aber nur zum Ziel führen, wenn die Leistungserbringer in die Lage versetzt werden, die dafür notwendige Infrastruktur vorzuhalten, und auch die Möglichkeit bekommen, ausreichende personelle Voraussetzungen zu schaffen. Die mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention verbundenen neuen Wohnformen und veränderten Formen der Assistenz und Begleitung sind nur mit einer Veränderung der Infrastruktur zu leisten. Und auch im Blick auf die Mitarbeitenden kann es nicht um Einsparungen in Quantität und Qualität gehen, vielmehr bedarf es breiter Initiativen, um neue Formen der Kooperation und Fortbildungen zu ermöglichen, die zu einer erfolgreichen Gestaltung des Wandels beitragen. Im Übergang zu einem inklusiven System bedürfen Mitarbeitende wie Träger als Leistungserbringer einer finanziellen und rechtlichen Sicherheit, um ihre Angebote auch weiterhin im erforderlichen Umfang und der erforderlichen Qualität bereitstellen zu können.

Die langjährige Erfahrung der Fachkräfte, Einrichtungen und Dienste ist entscheidend, um den Wandel zu einer inklusiven Gesellschaft zu bewältigen. Der Erfolg dieser Entwicklung wird auch davon abhängen, dass sie ihre Kompetenz, ihre Erfahrung und ihre Hoffnungen in den Prozess einfließen lassen. Schließlich verfügen sie schon heute über umfangreiches Know-how sowohl in der Assistenz von Menschen mit Behinderung als auch in der Qualitätssicherung und sind aktuell in der Gewinnung und Koordination von Freiwilligen und der Sozialraumplanung tätig.

Kirche und Diakonie mit ihren Experten, ihren Gemeinden, Schulen und Nachbarschaften stehen also vor einer besonderen Herausforderung. Als Trägerinnen mit langer Erfahrung haben sie die Aufgabe, sich fundiert und kritisch zu den laufenden Prozessen zu äußern, Fehlentwicklungen zu benennen und sich selbst für Veränderungen einzusetzen:

  • Die Entwicklung eines bundesweiten »Gesetzes zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen« einschließlich Zusammenführung von Leistungen für junge Menschen mit und ohne Behinderungen sowie anderer Leistungen der Sozialgesetzgebung, die eher an den Bedarfen von Menschen als an jenen von Institutionen auszurichten sind, ist zu unterstützen. Dabei geht es auch um die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung sowie die finanzielle Unterstützung von Nachbarschafts- und Quartierspflege.
  • Bei Leistungen des Sozialstaates sollte konsequent die betroffene Person mit ihrem Umfeld und weniger das Interesse der unterschiedlichen, durch die Versäulung des Sozialversicherungssystems definierten Institutionen für einzelne »Betroffenengruppen« im Mittelpunkt stehen. Quartiersbezogene Leistungen und die Öffnung von Dienstleistungen und Einrichtungen zu Angehörigen wie in die Nachbarschaft müssen dabei ebenso im Blick sein wie die Zusammenarbeit von Einrichtungen und eine Beratung, die den betroffenen Personen hilft, ihr Wunsch- und Wahlrecht wirklich auszuüben.
  • Ambulante Unterstützungsangebote im Sozialraum sind auszubauen und Wahlmöglichkeiten zu schaffen. Dabei ist die Kompetenz der bestehenden Fachdienste und Einrichtungen zu nutzen.
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