Es ist normal, verschieden zu sein

Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, Januar 2015

4. Lebenslagen und Handlungsfelder

Im folgenden Kapitel sollen exemplarische Lebensbereiche bzw. Felder gesellschaftlicher Teilhabe im Mittelpunkt stehen, die für inklusives Handeln von besonderer Bedeutung sind. Dabei geht es darum, Herausforderungen zu benennen, die sich aus dem grundsätzlichen Paradigmenwechsel der Inklusion ergeben. An einigen Stellen können bereits konkrete Umsetzungsempfehlungen gegeben werden. An anderer Stelle gilt es, Visionen zu formulieren sowie nächste Schritte aufzuzeigen. Viele der Teilhabefelder sind nicht trennscharf zu unterscheiden bzw. greifen ineinander und stehen miteinander in Wechselwirkung.

Zwei Perspektiven sind für die nachfolgenden Betrachtungen leitend: zuerst die Perspektive der Menschen mit Behinderungen und dann der Blick auf die bestehenden Angebote, Dienste und Einrichtungen von Kirche und Diakonie und ihr Beitrag zur Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft.

Die konkreten Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen stehen dabei an erster Stelle. »Mit dem Begriff Lebenslage wird die Gesamtheit der Ressourcen und Beschränkungen bezeichnet, die eine Person bei der Verwirklichung eigener Lebensvorstellungen beeinflussen. Ressourcen und Beschränkungen können sich beispielsweise auf die wirtschaftliche Lage, auf die Bildung oder die soziale Einbindung beziehen, die für die Entfaltungsmöglichkeiten einer Person von Bedeutung sind.« [32] Noch vor der Beschreibung kirchlichen und diakonischen Handelns müssen wir einerseits fragen: Wo erfahren Menschen, die auf unterschiedliche Weise körperlich, geistig oder seelisch beeinträchtigt sind, im Zusammenwirken mit Umweltfaktoren Beschränkungen ihrer Teilhabechancen, d. h. werden dadurch erst behindert [33], und wo liegen Potenziale für Inklusion? Eine umfassende Analyse der Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen kann in dieser Orientierungshilfe nicht vorgenommen werden. Aber sie kann und soll für die eigenständigen Interessen, Lebensperspektiven und -planungen von Menschen mit Behinderungen sensibilisieren. Daraus resultiert andererseits die Frage, wie es gelingen kann, Menschen mit Behinderungen in der Entwicklung ihrer Lebensperspektiven und -planungen zu begleiten und in der Ausübung ihres Wunsch-Wahlrechtes zu unterstützen, und welche Konsequenzen dies für Angebote, Dienste und Einrichtungen von Diakonie und Kirche hat. Das ist die leitende Doppelperspektive für die Betrachtung der folgenden Bereiche.

4.1 Familie

Die Familie ist der erste inklusive Erfahrungsraum

In Familien gewähren Menschen generationenübergreifend einander Sorge und Verantwortung, schenken Unterstützung und Geborgenheit. Dabei spielt es im Zusammenhang der Inklusionsdebatte keine Rolle, um welche Familienkonstellation es sich handelt. Es geht um die Familie im weitesten Sinne als »verlässliche Gemeinschaft«. [34]

Für behinderte Menschen, insbesondere für Kinder mit Behinderungen, ist die Familie der zentrale Ort persönlicher Zuwendung. Hier erleben sie Nähe und Wärme, erhalten Pflege und Unterstützung, erproben ihre Möglichkeiten und Grenzen. Familie ist die erste und wichtigste inklusive Institution. Das Füreinander-da-Sein und eine lebendige Gemeinschaft täglich neu zu gestalten, ist eine große Herausforderung. Freiheit will verantwortlich gelebt werden, Verantwortung ohne Druck gelingen. Im Zusammenleben von Menschen mit Behinderungen erweisen Familien ihre Belastungsfähigkeit, unabhängig davon, ob eine Behinderung von Geburt an besteht oder im Laufe des Lebens z. B. durch Krankheit oder Unfall eingetreten ist. Mit Erziehung und Bildung, Pflege und Unterstützung nehmen Familien gesellschaftlich unverzichtbare Funktionen wahr, sie können sie aber nur erfüllen, wenn sie auf gut entwickelte Unterstützungssysteme zurückgreifen können und ihre Leistungen gesellschaftlich anerkannt und

gefördert werden. Hier liegt eine wichtige Aufgabe der öffentlichen Hand und anderer zivilgesellschaftlicher Akteure, aber auch der Kirche mit ihrer seelsorglichen und diakonischen Kompetenz. In Kirchengemeinden können Familien unmittelbar begleitet werden, wenn die Lebenswirklichkeit plötzlich anders als geplant aussieht. So bietet die Familie Ressourcen, die Zukunft zu meistern und die Gegenwart in aller Rätselhaftigkeit zu verstehen.

Herausforderungen für Familien

In Deutschland ist, aufgrund statistischer Mängel, die Datenlage zur Situation von Familien mit behinderten Kindern relativ dünn. Aber was generell für Familien gilt, gilt auch für Familien mit beeinträchtigten Kindern: Es gibt nicht dieFamilie (die meisten Kinder mit Behinderungen wachsen in ihren Familien auf, ca. 13.500 Kinder und Jugendliche leben außerhalb der Familie in Einrichtungen).

Jedes Kind, ob mit oder ohne Behinderungen, bringt große Veränderungen in das Leben seiner Eltern und bedeutet immer eine Herausforderung. Oft haben werdende Eltern schon recht konkrete Vorstellungen von ihrem »Wunschkind«, haben bestimmte Erwartungen und Hoffnungen. So reagieren manche Eltern mit tiefer Erschütterung, wenn ihr Kind mit einer Beeinträchtigung auf die Welt kommt. Viele Eltern fühlen sich verantwortlich für die Behinderung ihres Kindes und stoßen zudem auf Vorbehalte in ihrem sozialen Umfeld. Schuldvermutungen und Selbstvorwürfe münden bisweilen in die Theodizeefrage nach der Gerechtigkeit Gottes, der das Leiden zulässt.

Mutter eines Kindes mit Trisomie 21

Eine Mutter berichtet: Es war für mich sehr traurig, dass mich zur Geburt von Anna fast niemand beglückwünschte. Bei der Geburt meiner anderen Kinder war stets das Haus gefüllt mit Blumensträußen und Geschenken. Bei Annas Geburt erlebte ich viel Unsicherheit und Zurückhaltung, so als wäre uns ein Unglück passiert. Dabei haben wir uns so über Anna gefreut.

Eine andere Mutter berichtet: Als wir erfuhren, dass Luis eine Behinderung hat, waren wir sehr schockiert. Damit hatten wir nicht gerechnet. Alle unsere Erwartungen und Planungen waren zerstört und wir mussten sie nach einer Zeit neu zusammensetzen.

Gerade in der Anfangsphase nach der Geburt und den ersten Diagnosen spüren Eltern deutlich den Druck der neuen Herausforderung. Eltern können daran reifen — aber auch unter den Lasten zerbrechen. Der hohe Zeitaufwand für die Versorgung und Betreuung von Kindern mit Behinderungen — insbesondere wenn diese pflegebedürftig sind oder nicht allein gelassen werden dürfen — führt oft nicht nur zu einer starken physischen und psychischen Belastung insbesondere der Mütter, die in der Regel die Erziehung übernehmen, sondern auch die Beziehung der Eltern ist starken Belastungen ausgesetzt. Kontakte zu Freunden oder Bekannten werden nicht mehr gepflegt, Mitgliedschaften in Vereinen und Verbänden gekündigt, sodass diese Familien zunehmend in die Isolation geraten. Hinzu kommt, dass meistens die Mütter ihre Berufstätigkeit aufgeben und dies zu finanziellen Belastungen für die Familie führt, die durch öffentliche Leistungen nur ansatzweise kompensiert werden. Die Zahl alleinerziehender Mütter von behinderten Kindern ist überdurchschnittlich hoch.

Die gemeinsame Betreuung eines Kindes mit Beeinträchtigungen kann jedoch auch die Beziehung der Eltern stärken und eine Zunahme an Zuneigung und gegenseitigem Verständnis bewirken. Viele Eltern werden sich mehr und mehr der positiven Seiten ihres behinderten Kindes bewusst — wie beispielsweise der unmittelbaren Herzlichkeit, des Vertrauens —, und sie freuen sich über jeden Entwicklungsfortschritt.

Während Eltern nach der Geburt noch mit den Gefühlen beschäftigt sind, die auf sie einstürzen, müssen sie bereits Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten finden. Die für Familien mit Kindern mit Behinderungen zur Verfügung stehenden Leistungen werden in Deutschland von unterschiedlichen Leistungsträgern auf der Grundlage — oft nicht miteinander abgestimmter — rechtlicher Bestimmungen erbracht. Informieren sich Eltern über Hilfen, sehen sie sich einem komplizierten System von unterschiedlichen Trägerschaften und Zuständigkeiten gegenüber. Mit der im SGB IX im Jahr 2001 verankerten Komplexleistung Frühförderung sollten die Nachteile ausgeglichen werden. Da dies in der Praxis nicht funktioniert, erhielt der überwiegende Teil der betroffenen Kinder jedoch auch im Jahr 2012 noch keinen Zugang zur fachlich gebotenen Leistung.

Um eine gemeinsame Verantwortung für Familien zu übernehmen und um mehr Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen zu ermöglichen, ist die Versäulung der verschiedenen Leistungssysteme zu überwinden. Eine inklusionsorientierte Umstrukturierung der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe auch an den Schnittstellen zu anderen Systemen wie der Schule und des Gesundheitssystems sowie der Grundsicherung für Arbeitssuchende ist wünschenswert.

Geschwister

Die besondere Familiensituation fordert den Geschwistern viel ab. Sie wachsen damit auf, dass ein Mitglied der Familie stets erhöhte Aufmerksamkeit erhält, aber auch Zurückweisung und Ablehnung in der Umwelt erfährt. Früh tragen sie einen Teil der Verantwortung mit. Sie begegnen einem behinderten Geschwisterteil mit viel Zuneigung, in anderen Fällen lehnen sie aber das behinderte Kind ab und sind ihm gegenüber feindselig oder neidisch. Manchmal schämen sie sich, Freunde oder Freundinnen nach Hause einzuladen, damit das Geschwisterkind oder sie selbst nicht ausgelacht werden. Aber auch das behinderte Kind fühlt sich bisweilen zurückgesetzt, weil es z. B. nicht alle Aktivitäten mitmachen kann, häufiger krank, nur begrenzt mobil oder kommunikationsfähig ist.

Häufig schildern Geschwister aber auch die Bereicherung, die sie durch ihren Bruder oder ihre Schwester erfahren. Sie werden lebenspraktischer, sozial kompetenter und entwickeln große empathische Fähigkeiten. Der Inklusionsort Familie bietet Entwicklungschancen, die oft unterschätzt werden. Viele Geschwister erleben sich als Teil einer »besonderen« Familie — und erleben das Besondere als völlig normal.

Erwachsen werden

Wenn Kinder mit Behinderungen heranwachsen, stellt sich bei ihnen der Wunsch ein, ein eigenständiges Leben zu führen. Dies kann einerseits zu Akzeptanzproblemen bei Eltern, Geschwistern und anderen Angehörigen führen. Andererseits spüren die Eltern häufig, dass ihre Kräfte begrenzt sind. Zugleich aber ist das Angewiesensein, die Verantwortlichkeit füreinander, in Familien mit solchen Erfahrungen besonders stark ausgeprägt. So suchen viele von ihnen nach Möglichkeiten, ein begleitetes Leben im nachbarschaftlichen Umfeld zu realisieren, damit der Auszug aus der Familie nicht den Charakter eines »Abgebens« hat und die bestehenden sozialen Kontakte nicht abbrechen. Vielen Eltern ist wichtig, dass die jungen Angehörigen nicht in der Sonderwelt von Heimen leben, sondern möglichst eigenständig und normal. Sie sollen ihre individuelle Persönlichkeit entwickeln, indem sie Unabhängigkeit, Selbstsorge und Selbstbestimmung anstreben. Es bleibt für alle Beteiligten unbefriedigend, dass häufig nur die Wahl bleibt zwischen stationärer Einrichtung oder betreutem Wohnen, zwischen vielen fremdbestimmten Regelmechanismen der Heimunterbringung oder dem Leben in der eigenen Wohnung mit stundenweiser Assistenz und der Gefahr der Isolation.

Der Sprung aus der behüteten Atmosphäre der Familie erfordert von allen Beteiligten die Fähigkeit, loszulassen und eine neue Rolle einzuüben. Er eröffnet aber auch das Vertrauen in eine selbstbestimmte Zukunft und neue, ungeahnte Teilhabemöglichkeiten in einer anderen Lebensgemeinschaft. Dieses Spannungsfeld von Autonomie und Angewiesenheit, das jede Familie prägt, wird in Familien mit Menschen mit Behinderungen besonders stark erfahren. Dabei wird deutlich: Wenn junge Menschen mit Behinderungen ausziehen, können sie Fähigkeiten entwickeln, die in der behüteten Atmosphäre der Familie nicht eingefordert oder ermöglicht wurden: für sich selbst sorgen, der Sehnsucht nach Zärtlichkeit Ausdruck verleihen, verantwortlich miteinander umgehen, Hausarbeit bewältigen, eigene Ansprüche durchsetzen und auch fremde Wünsche respektieren, eben erwachsen werden.

Partnerschaft und Sexualität

Zum Erwachsenwerden gehört auch das Eingehen von Partnerschaften und das Ausleben der Sexualität — ein besonders in Familien von Menschen mit geistiger Behinderung oft mit verständlicher Besorgnis besetztes Thema.

Wenn Menschen mit Behinderungen eine Partnerschaft eingehen, haben sie meist viele gesellschaftliche, sozialpolitische und finanzielle Hürden zu überwinden. Da der Ehewunsch zu den persönlichsten Rechten gehört, die ein Mensch hat, muss er auch Menschen mit Behinderungen gewährt sein. Das ist allerdings keinesfalls selbstverständlich. In den wenigsten Fällen liegt für diesen Bereich eine gesetzliche Betreuungsregelung vor. Darüber hinaus ist der Assistenzbedarf der Partner oft sehr unterschiedlich, sodass es in den bisher vorherrschenden Hilfestrukturen nicht einfach ist, das Zusammenleben eines Paares, das auf Leistungen aus der Eingliederungshilfe angewiesen ist, sozialrechtlich wie finanziell zu ermöglichen.

Zwar hat sich unter den Fachleuten in der Behindertenhilfe die Anerkennung des Rechts auf Partnerschaft, ein individuelles Sexualleben und eine eigene Intimsphäre durchgesetzt, doch in der alltäglichen Praxis ist die Verhinderung sexueller Wünsche insbesondere von Menschen mit geistiger Behinderung nach wie vor oft ein unausgesprochenes Ziel.

Zu den tabuisierten Themen gehört auch die Frage der Sexualassistenz. Wenn sich Menschen mit körperlicher Behinderung ein Sexualleben wünschen, zu dem sie Assistenz benötigen, und sich deswegen an Bezugs- oder Betreuungspersonen wenden, kommen diese nicht selten in ethische Konflikte. Das gilt vor allem dann, wenn der Wunsch nach Sexualassistenz in den Grenzbereich der Prostitution führt. Damit sind Fragen der Sexualethik angesprochen, die auch in der evangelischen Kirche durchaus umstritten und zu klären sind. In jedem Fall ist es aber wichtig, auch diese Aspekte der Behindertenhilfe bereits in der Ausbildung sensibel zu thematisieren und in der Praxis supervisorisch zu begleiten.

Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderungen bedürfen ebenso des Schutzes vor sexueller Gewalt wie Menschen ohne Behinderungen. Sie haben ein Recht auf angemessene Distanz und Selbstbestimmung, auch bei körpernahen Hilfeleistungen, auf die sie angewiesen sind. Gerade junge Frauen mit Behinderungen sind besonders häufig von sexueller Gewalt betroffen. Eine barrierefreie Aufklärung, die Förderung der sexuellen Selbstbestimmung beider Geschlechter, die Förderung der Beziehungsfähigkeit und Angebote zum Erlernen von Beziehungsgestaltungen sind wichtige Bausteine der Prävention.

Familiengründung und Elternschaft von Menschen mit Behinderungen

Auch Menschen mit Behinderungen wollen eine Familie gründen und Eltern werden. Sie stoßen aber mit ihrem Kinderwunsch noch immer auf Vorurteile: Eltern mit Behinderungen wird oft nicht zugetraut, dass sie ihre Kinder so gut betreuen und erziehen können wie andere Eltern auch. Mütter oder Väter, die von Geburt an eine Behinderung haben oder sie erst im Laufe ihres Lebens erworben haben, sehen sich oftmals im Alltagsleben verschiedenen Problemen gegenüber gestellt. Wie kann ich mein Kind wickeln, wenn ich mit dem Rollstuhl nicht unter die Wickelkommode fahren kann? Wer kann mit dem Kind auf den Spielplatz gehen, wenn die Mutter aufgrund der Folgen eines Schlaganfalls dazu nicht in der Lage ist? Wie können behinderte Eltern mehr Mobilität erlangen, um mit ihrem Kind gemeinsame Ausflüge zu unternehmen? Wer wird mit dem Kind Hausaufgaben machen, wenn es die Eltern schon bald im Lernen überflügelt? Wer ist der zuständige Kostenträger für die Hilfen?

Eltern mit Behinderungen sind aufgrund der eigenen Funktionseinschränkung, aber auch durch die vielfältigen Barrieren in der Gesellschaft bei der Wahrnehmung ihrer Elternrolle auf Unterstützung angewiesen, sei es in Form pädagogischer Begleitung oder aber als Assistenzdienstleistung. Die Bundesrepublik Deutschland ist laut Artikel 23 UN-BRK dazu verpflichtet, diese Unterstützung sicherzustellen. Das in Artikel 6 des Grundgesetzes sowie in § 1 SGB VIII verankerte Elternrecht auf Pflege und Erziehung der Kinder gilt gleichermaßen für Eltern mit und ohne Behinderungen.

Sofern Eltern derartige Hilfen gewährt werden, kommen zum einen Leistungen nach dem SGB VIII als Leistungen für das Kind in Betracht. Zum anderen kann es sich aber auch um Leistungen der Eingliederungshilfe als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§§ 53, 54 SGB XII in Verbindung mit § 55 SGB IX) handeln.

Bisher gibt es weder einen ausdrücklich formulierten Anspruch auf Elternassistenz noch auf begleitete Elternschaft. So machen Eltern mit Behinderungen, wenn sie einen Antrag auf Unterstützung (Elternassistenz, begleitete Elternschaft, Hilfsmittel, Kraftfahrzeughilfe) stellen, oft die Erfahrung, dass die Jugend-und Sozialämter die Anträge hin- und herschieben oder sich ohne Bedarfsprüfung für »nicht zuständig« erklären. Obwohl Gerichte bereits den Anspruch auf Elternassistenz als Teil der Eingliederungshilfe anerkannt haben, wird Elternassistenz auch weiterhin nicht oder erst nach langen Auseinandersetzungen gewährt. Sogar die Jugendämter vermissen hier eine gesetzliche Klarstellung. Um Eltern in der Wahrnehmung ihrer Elternrolle und ihrer Erziehungsverantwortung zu unterstützen, ist der Gesetzgeber gefordert, seinen Gestaltungsauftrag zu erfüllen, die Elternassistenz und begleitete Elternschaft eindeutig zu regeln.

Wahlverwandtschaft

Artikel 19 UN-BRK betont das Recht von Menschen mit Behinderungen, sich aussuchen zu können, wo und mit wem sie leben möchten. Für einige Menschen sind kleine, betreute Wohngruppen die Möglichkeit der Wahl, denn sie können Entfaltungsräume und zugleich Schutz vor Einsamkeit und Missbrauch bieten. Oft gelingt es dann auch, Beziehungen zur Nachbarschaft zu entwickeln. In der Zusammenarbeit mit diakonischen und anderen Trägern können Kirchengemeinden hier ihre spezifische Vernetzungskompetenz einbringen und ein inklusionsfreundliches Klima im Wohnviertel fördern. Die Einbindung ehrenamtlichen Engagements, die in Komplexeinrichtungen nur eingeschränkt erfolgen kann, bietet weitere Möglichkeiten.

Auch in der Wohngruppe kommt es auf das Miteinander an. Die Zusammensetzung der neuen »Wahlverwandtschaft« muss selbstbestimmt erfolgen. Dezentrale ambulant betreute Wohnformen sollten aber nicht nur Menschen mit geringem Unterstützungsbedarf zugetraut werden. Auch innerhalb der Wohngruppe kann Vielfalt die Gemeinschaft stärken. Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen dürfen ebenso wenig ausgeschlossen werden wie Mitbewohner ohne Behinderung.

Alter

Seit einigen Jahren werden neue Hilfeangebote für ältere Menschen mit Behinderungen und wachsendem Pflegebedarf entwickelt. An der Schnittstelle zwischen den Systemen Altenhilfe und Pflege einerseits und Eingliederungshilfe andererseits geht es dabei nicht zuletzt um die Frage, ob und wie ihr Recht auf Selbstbestimmung und ein eigenes Budget auch in Pflegeeinrichtungen gewahrt werden kann. Kommunen als Träger der Eingliederungshilfe ziehen häufig die Unterbringung in einer stationären Einrichtung vor, deren Leistungen von der Pflegeversicherung getragen werden. So erleben ältere Menschen mit Behinderungen einen »Verschiebebahnhof«, der ihre Rechte tangiert.

Dabei kommt allerdings in den Blick, dass viele ältere Menschen unter Behinderungen und chronischen Erkrankungen leiden, die viel später im Lebenslauf erworben worden sind. Dazu gehören Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit genauso wie Erblindung und Schwerhörigkeit, aber auch Demenzerkrankungen. Auch wenn beim Thema »Leben mit Behinderungen« der Blick zuerst auf genetische Fragen fällt — tatsächlich ist niemand davor geschützt, im Laufe des eigenen Lebens durch eine Erkrankung oder einen Unfall eine Behinderung zu erfahren. Die Wahrscheinlichkeit, diese Erfahrung zu machen, nimmt mit dem Alter zu. Insofern liegt es in der Verantwortung der Kommunen, Wohnquartiere und Verkehrssysteme so auszustatten, dass sie barrierefrei für viele Anwohner und Anwohnerinnen nutzbar sind.

4.2 Erziehung und Bildung

Mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen sowie lebenslanges Lernen zu gewährleisten (Art. 24 Abs. 1) und zu diesem Zweck geeignete Maßnahmen zu ergreifen (Abs. 3). Volle und wirksame Inklusion (Abs. 3c) soll im Bereich der formalen, non-formalen und informellen Bildung von klein auf bis ins hohe Alter ermöglicht werden. Dies ist eine wichtige, langfristige und nicht unumstrittene Aufgabe. Sie erfordert die gemeinsame Anstrengung aller Kräfte im weiten Feld der Bildung. Die öffentliche Debatte um Inklusion wird gerade in diesem Handlungsfeld intensiv geführt.

Inklusion in Kindertageseinrichtungen

In Kindertageseinrichtungen hat die gemeinsame Erziehung, Bildung und Betreuung für Kinder mit und ohne Behinderungen ihren Ursprung in Deutschland. Seit Mitte der 1980er Jahre sind die Bestrebungen um eine integrative Pädagogik insbesondere in den evangelischen Kindertageseinrichtungen erfolgreich umgesetzt worden. Sie gelten als Motor und vielerorts als Keimzelle für die Integration von Kindern mit Behinderungen und stellen die institutionellen Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung und gegen die Ausgrenzung dieser Kinder aus dem Alltag von Kindertageseinrichtungen sicher.

Ausgangspunkt dieser Entwicklungen waren regionale Initiativen von Eltern, Fachleuten, Politik und Verwaltung, gemeinsame Lernorte für alle Kinder in Kindertageseinrichtungen zu schaffen. Begründet wurde das Anliegen damit, dass für jedes Kind ein Leben so normal wie möglich gestaltet werden sollte. Heute sind in allen Bundesländern die rechtlichen

Voraussetzungen und institutionellen Möglichkeiten definiert, damit Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam Kindertageseinrichtungen besuchen können. Mit einer Beteiligungsquote von 75 Prozent aller Kinder mit (drohender) Behinderung am Regelsystem ist die Kindertagesbetreuung Vorreiterin einer inklusiven Bildung, Erziehung und Betreuung im deutschen Bildungssystem. Kritisch zu hinterfragen sind hierbei jedoch die regionalen Disparitäten, die sowohl in der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen als auch in der sogenannten Integrations- bzw. Inklusionsrate deutlich werden: Die Bildungsbedingungen für Kinder mit besonderem Förderbedarf variieren landesspezifisch massiv, die Regelungen in den Landesausführungsgesetzen und Verwaltungsrichtlinien sind nicht vergleichbar und führen im Ergebnis dazu, dass die Betreuungsquote dieser Kinder in integrativen Regeleinrichtungen zwischen 42 Prozent (z. B. Baden-Württemberg) und 100 Prozent (z. B. Sachsen-Anhalt) auseinanderklaffen und die Rahmenbedingungen der Bildungs- und Betreuungssituation nicht nur zwischen den Bundesländern, sondern bis auf die kommunale Ebene hinab differieren [35].

Die Anforderungen an die Kindertageseinrichtungen sind in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Die Erkenntnis, welche hohe Bedeutung frühkindliche Entwicklungs- und Lernprozesse für das spätere Leben des einzelnen Kindes haben, hat zu einer verbesserten Sensibilität geführt. Frühkindliche Bildung hat eine zentrale Bedeutung für die Biographie eines Menschen und die institutionelle Erziehung, Bildung und Betreuung in den Kindertageseinrichtungen ist stark in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Ziel der Inklusion ist es, jedem Kind ein Aufwachsen in einer vielfältigen Gemeinschaft zu ermöglichen. Der Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindertageseinrichtung erweitert sich um den individuellen Anspruch, dass die Kindertageseinrichtung als inklusives Angebot konzipiert ist und demnach jedes Kind dort seinen Platz in der Gemeinschaft erhält. Der in der UN-Behindertenrechtskonvention konkretisierte Auftrag zur Bewusstseinsbildung betrifft alle Menschen und ihren Umgang mit Vielfalt. Ein Bewusstsein der eigenen Würde zu entwickeln, ist nur möglich durch die Erfahrung sozialer Achtung in der Gemeinschaft. Bildung von Anfang an bedeutet, diesen Aspekt in der pädagogischen Arbeit mit allen Kindern zu gestalten [36].

Gefordert ist eine pädagogische Konzeption, die ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit und Individualität bietet. Eine wichtige Voraussetzung für inklusive Elementarpädagogik ist die Zusammenarbeit in einem interdisziplinären Team, das alle didaktischen, methodischen und therapeutischen Aspekte einbezieht. Inklusion ist kein statischer oder messbarer Zustand, der irgendwann erreicht ist, sondern ein dynamischer Prozess, der täglich neu gelebt wird. Damit stellen sich spezifische Herausforderungen für Träger von Kindertageseinrichtungen sowohl in der Leitbild- und Konzeptentwicklung als auch in der Personalentwicklung. Um Tageseinrichtungen für Kinder zu unterstützen, sich zu einer inklusiven Einrichtung umzugestalten, wurde ein Index für Inklusion in Kindertagesstätten [37] vorgelegt. Dieser Index versteht sich als Qualitätsentwicklungsinstrument. Er beinhaltet eine Sammlung von Materialien, Aussagen und Fragen zur Qualität, die eine alle Kinder willkommen heißende Bildungseinrichtung ausmachen. Es geht darum, eine Einrichtung für alle zugänglich zu machen, dafür zu sorgen, dass alle willkommen sind, ihre Potenziale entfalten und aktiv teilhaben können. Das bedeutet auch, eine Lerngruppe als unteilbar anzusehen und alles und alle am Bildungsprozess Beteiligte in den Blick zu nehmen: Kinder, Eltern, die Erzieher und Erzieherinnen, die Kultur der Einrichtung, die Inhalte bis hin zum Gebäude. Der Index möchte die Partizipation von allen Kindern wie auch der Erwachsenen steigern. Es geht um die Kunst des gleichberechtigten Zusammenlebens und Lernens von sehr verschiedenen Menschen. Es geht also nicht vor allem um die Bedürfnisse und Anliegen der Kinder mit besonderem Förderbedarf. Denn Behinderung wird nicht mehr zuerst als Merkmal eines Menschen verstanden, sondern vor allem als gesellschaftliches Phänomen.

Der Index führt diesen Ansatz konsequent weiter. Jedes Kind hat seinen individuellen Förderbedarf. Und jedes Kind kann etwas zur Gestaltung der Gemeinschaft beitragen. Fast möchte man sagen, eine Einrichtung ist dann inklusiv, wenn auf die künstliche Einteilung der Kinder in Kategorien verzichtet wird.

Kinder- und Jugendhilfe

Kinder und Jugendliche wachsen heute in Deutschland in sich ständig verändernden Lebenswelten auf. Die Familie bleibt weiterhin eine entscheidende Instanz für das Aufwachsen von jungen Menschen. Unter den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen, die an das Aufwachsen gestellt werden, wächst jedoch die Bedeutung von institutionellen Formen der Bildung, Betreuung und Erziehung und ihr Einfluss auf die Lebenswelten junger Menschen. Nahezu alle Kinder verbringen einen wesentlichen Teil ihrer Zeit in Kindertageseinrichtungen. In der Schule vollzieht sich der Ausbau der Ganztagsangebote unter dem Primat von Chancen und Bildungsgerechtigkeit vergleichsweise rasant. Erzieherinnen, Lehrkräfte und Sozialpädagogen prägen heute viel stärker als in der Vergangenheit das Leben der Heranwachsenden. Das pädagogische Setting und die didaktische Inszenierung gehören heute zum Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen.

Mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) sind im deutschen Sozialrecht die Leistungen geregelt, die Kinder, Jugendliche und ihre Familien in Anspruch nehmen können und die dazu beitragen sollen, dass »positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder-und familienfreundliche Umwelt« [38] geschaffen und erhalten werden. Der überwiegende Teil junger Menschen mit Behinderungen fällt jedoch nicht unter die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII, sondern unterliegt den Normen der Eingliederungshilfe im SGB XII.

Die UN-Behindertenrechtskonvention erfordert eine Politik der Chancengerechtigkeit und einer inklusiv orientierten Veränderung der gesetzlichen Regelwerke und der Organisationen. Junge Menschen sollen zukünftig unter ganzheitlichen Aspekten betrachtet und nicht mehr nach einzelnen Merkmalen oder Eigenheiten eingeordnet werden. Dies hat nicht nur Folgen für Institutionen, die sich an bestimmten Merkmalen ausrichten, sondern auch für die gesetzlichen Teilzuständigkeiten. Sie müssen miteinander verkoppelt werden, um den inklusiven Umbau der Institutionen zu befördern. Im Zusammenhang mit einer inklusiven Ausrichtung der Erziehungshilfe wird im politischen Diskurs eine »Große Lösung« diskutiert, welche die Leistungen für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen im SGB VIII unter dem Dach der Jugendhilfe zusammenführt. Die Idee der »Großen Lösung« entspricht einem Gesellschaftskonzept, in dem Vielfalt die Norm ist und separierende Einrichtungen überflüssig sind, da notwendige individuelle Förderung im Kontext von Regeleinrichtungen leist- und umsetzbar ist.

Eine große Herausforderung ist, dem jeweils individuellen Förderbedarf von jungen Menschen und ihren Eltern gerecht zu werden. Eine »Große Lösung« darf nicht zur Reduzierung von Förderleistungen für junge Menschen und ihre Eltern führen. Diese berechtigte Sorge behindert jedoch die notwendige rechtliche und organisatorische Reform der gesetzlichen Rahmenbedingungen und den organisatorischen Umbau. Für eine sinnvolle Förderstrategie ist die verbindliche Kooperation des Schul-, Gesundheits-, Erziehungshilfe- und Eingliederungssystems nötig. Die Versäulung ist zu überwinden. Die Bündelung in der Kinder- und Jugendhilfe ersetzt die aktuell getrennten Zuständigkeiten von Eingliederungshilfe und Kinder- und Jugendhilfe.

Kirche und Diakonie als gesellschaftliche Institutionen und als Trägerinnen von Einrichtungen und Diensten stehen in der Verantwortung für die Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft. Kooperationen zwischen Kirchengemeinden, der Kinder- und Jugendhilfe und den Behindertenhilfeträgern können wesentlich dazu beitragen, dass das gesellschaftliche Leben inklusiver und damit lebenswerter wird.

Individualität und Egalitätserwartungen als sensibel auszusteuernde Balancen im Bildungssystem

Das Bildungswesen hat gesellschaftlich die Funktion, auf der Basis von Gleichheit zugleich Verschiedenheit zu ermöglichen. Alle Heranwachsenden müssen die Institution Schule durchlaufen, alle jungen Menschen sollen bestmöglich gefördert werden. Ihre Individualität soll geachtet und entwickelt werden. Unter der Perspektive der Einbindung aller in das Schulsystem ist mit der Durchsetzung der Schulpflicht das Recht auf Bildung für alle fast durchgängig erreicht. Kein junger Mensch wird heute mehr wegen »Bildungsunfähigkeit« aus dem Bildungswesen ausgegrenzt, wie dies bis weit in das 20. Jahrhundert hinein noch für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen galt [39]. Unter der Perspektive der besten Förderung aller jedoch beginnt die Kontroverse, ob und inwiefern Inklusion verwirklicht ist und wie diese aussehen sollte. Die UN-Behindertenrechtskonvention hat Inklusion mit der gemeinsamen Beschulung aller gleichgesetzt und verbindet mit dieser Form der Beschulung die Vision bestmöglicher Förderung.

Aus dieser Perspektive kommt das differenzierte Bildungswesen unter Veränderungsdruck. Dieses war im Förderschulbereich angetreten, durch eine äußere Differenzierung nach Schularten die Qualität der Förderung für junge Menschen mit Behinderungen zu erhöhen. Bis in die 1980er Jahre haben die Förderschulen einen wesentlichen Betrag dazu geleistet, dass diese Schülergruppe ihren Bildungsanspruch einlösen konnte. Durch die Aufteilung in unterschiedliche Förderschulen und die Ausdifferenzierung der Fachrichtungen wurde eine sonderpädagogische Fachlichkeit aufgebaut, die ihresgleichen sucht. Mit der behinderungsspezifischen Förderung war der Gedanke verbunden, einen beschützten Lernraum für Kinder und Jugendliche zu schaffen. Zugleich war es der Versuch, soziale Eingliederung auf dem Weg einer zeitlich begrenzten institutionellen Ausgliederung zu erreichen und damit den gesellschaftlichen Bildungsanspruch bestmöglich zu verwirklichen. Eingliederung durch Ausgliederung zu ermöglichen, erwies sich jedoch nicht als zielführend. Letztlich geht es heute um die Frage, wie viel Ungleichbehandlung von Heranwachsenden im Bildungswesen in welchen Formaten gesellschaftlich als sinnvoll und möglich angesehen wird oder wie Individualisierung und Egalitätserwartungen gleichzeitig bedient und untereinander in einem System ausgesteuert werden, das Differenzen erzeugt und z. B. in Form von Abschlussnoten zertifiziert [40]. Da Eltern für ihr Kind jeweils das von ihnen vermutet Beste wünschen und das Schulsystem zum Schauplatz ideologischer Debatten und bildungspolitischer Profilierungen einlädt, wird in diesem Feld besonders leidenschaftlich um Inklusion gerungen.

Die Ambivalenz von Förderschulen zwischen Förderung und der Entwicklung zur inklusiven Schule

Im Schulwesen hat sich bis in das Jahr 2000 ein separiertes Sonder- bzw. Förderschulwesen mit einer breiten Ausdifferenzierung entwickelt. Diese Entwicklung zur schulischen Separierung wurde — neben dem in Deutschland dominanten Gedanken differenzierter Schulformen — durch die traumatischen Erfahrungen der nationalsozialistischen Euthanasiemorde von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen gefördert. In den 1970er Jahren wurden unter anderem mit dem Gedanken der Wiedergutmachung zahlreiche Sonderschulen gegründet, die neben dem Ziel der Förderung und Integration Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen auch einen Schutzraum gewährleisten sollten. Mit zehn separaten Förderschularten nimmt Deutschland weltweit einen Spitzenplatz in der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung der behinderungsspezifischen Förderung ein. Diese an sich wünschenswerte zielgerichtete Förderung hatte allerdings den Nachteil, dass sie exkludierende Nebenwirkungen hatte. Außerdem hat dieses Angebot auch zu einer zunehmenden Hierarchisierung von Schularten und der Abschulung von Schülerinnen und Schülern in die Förderschule geführt. In kaum einem Land der Welt sind ferner so viele Schülerinnen und Schüler sonderbeschult wie in Deutschland.

Vier zentrale Befunde [41]

Der Anteil der Schüler mit Förderbedarf (Förderquote) ist in Deutschland in den vergangenen Jahren stetig angestiegen: Von 2008/09 bis 2011/12 von 6,0 auf 6,4 Prozent. Diese Tendenz zur vermehrten Diagnose besonderer Förderbedarfe hat sich zum Schuljahr 2012/13 weiter fortgesetzt: Die Förderquote liegt in Deutschland im Schuljahr 2012/13 bei 6,6 Prozent. Die Spannweite zwischen den Bundesländern um diesen bundesweiten Mittelwert beträgt dabei mehr als 5 Prozentpunkte: Sie reicht von 5,0 Prozent in Niedersachsen bis hin zu 10,1 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern.

Der Anteil der Förderschüler an allgemeinen Schulen (Inklusionsanteil) ist von 18,4 Prozent (2008/09) über 25 Prozent (2011/12) auf nunmehr 28,2 Prozent (2012/13) angewachsen. Den höchsten Anteil an Förderschülern im Gemeinsamen Unterricht vermeldet Bremen (63,1 Prozent), im bundesdeutschen Vergleich am geringsten fällt der Inklusionsanteil in Niedersachsen (14,7 Prozent) aus.

Trotz des steigenden Inklusionsanteils bleibt die Exklusionsquote — also der Anteil der Förderschüler, die keine allgemeine Schule besuchen — unverändert bei ca. 4,8 Prozent. Auch hier zeigen sich mit Blick auf die Bundesländer deutliche Unterschiede: Die Exklusionsquote variiert vom deutschlandweiten Spitzenwert 2,3 Prozent (Bremen) bis hin zu 7,1 Prozent in SachsenAnhalt.

Mit 27,4 Prozent (2012) verlässt nur gut ein Viertel aller Förderschüler die Förderschule mit mindestens einem Hauptschulabschluss, allerdings bei leicht steigender Tendenz. Auch hier ist die Varianz zwischen den Bundesländern groß: Während in Berlin etwa 40 Prozent der exklusiv beschulten Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf die Schule mindestens mit einem Hauptschulabschluss beenden, erreicht dies in Brandenburg nur etwa jeder Zehnte. Zudem gelingt es Bundesländern wie z. B. Berlin oder Bremen bei steigendem Inklusionsanteil und sinkender Exklusionsquote dennoch, gleichzeitig den Anteil der aus dem Förderschulsystem kommenden Absolventen mit mindestens einem Hauptschulabschluss zu steigern.

Diese Zahlen machen deutlich, dass neben dem Förderbedarf auch andere exkludierende Mechanismen zum Besuch einer Förderschule führen. Die Umsetzung von Inklusion im Förderbereich steht vor der Herausforderung, einerseits das differenzierte Know-how zu erhalten, andererseits aber Inklusion zu ermöglichen und die Tendenzen zur Abschulung zu stoppen. In diesem Zusammenhang ist es unverständlich, dass viele Bundesländer bei der Novellierung der Schulgesetze neben der Öffnung der allgemeinen Schulen zögern, auch eine inklusive Umgestaltung der Förderschulen vorzusehen, obwohl die Kultusministerkonferenz in ihrem Beschluss vom 20. Oktober 2011 dies ausdrücklich ermöglicht: »Es bleibt den Ländern überlassen, inwieweit sich Förderschulen für Kinder und Jugendliche ohne Behinderung öffnen, um dort gemeinsames Lernen zu ermöglichen.« [42] Vielfach sind dort inklusionsfreundliche Haltungen vorzufinden sowie eine hohe Kompetenz für individuelles Lernen. Auch die räumlichen Rahmenbedingungen sind bereits barrierefrei und eröffnen ein breites Spektrum für handlungsorientierten Unterricht. Das gilt besonders auch für Schulen in evangelischer Trägerschaft (vgl. unten).

Der inklusive Umbau des Schulsystems hat gerade erst begonnen. Er wird noch Jahre dauern. Die Veränderung des Schulwesens braucht Zeit und verbindliche Qualitätskriterien. Auch wenn die inklusive Umgestaltung des Bildungswesens mit einer Vielzahl von Zwischenschritten einhergeht, muss das Ziel einer inklusiven Schule, dass keine Schülerin und kein Schüler mehr ausgegrenzt wird, doch klar bleiben. Einerseits sind viele Lehrerinnen und Lehrer der allgemeinen Schulen bisher nicht genügend auf die neue Situation vorbereitet: Es gibt noch zu viel Frontalunterricht und zu wenig Lernbegleitung mit individuellen Förderplänen. So erfahren sie die Notwendigkeit, auch Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf zu unterrichten, als Überforderung. Andererseits gibt es nicht genug sonderpädagogische Fachkräfte, die die allgemeine Schule mit ihrer Kompetenz bereichern könnten. Statt Doppelbesetzung im Unterricht werden häufig nur wenige Förderstunden genehmigt. Der notwendige fachliche Austausch der unterschiedlichen pädagogischen Kompetenzen kommt zu kurz; für Beratungszeiten gibt es noch keine arbeitszeitliche Anrechnung. So ist die schulische Wirklichkeit oft weit von der Idee gemeinsamen Lernens entfernt. Parallel zu inklusiven Fortbildungen der Regelschullehrkräfte müssen positive Erfahrungen mit inklusiven Unterrichtsmodellen ermöglicht werden. Dazu sind im Rahmen einer Vorfeldarbeit gemeinsame Projekte von Förderschulen und allgemeinbildenden Schulen hilfreich. Die neue Schule wird Zeit brauchen, wenn Inklusion gelingen soll. Deshalb kann es für eine Übergangszeit sinnvoll sein, dass man zwischen Förderschule und gemeinsamem Unterricht wählen kann.

Viele Förderschulen sind in evangelischer Trägerschaft — sei es in der Trägerschaft der Diakonie, von evangelischen Elternverbänden, evangelischen Vereinen, Kirchengemeinden oder Landeskirchen. Inklusion ist für evangelische Schulen — im Förderschulbereich wie im allgemein- und berufsbildenden Bereich — in gleicher Weise eine Herausforderung wie für staatliche Schulen. Als Trägerin von zahlreichen Bildungseinrichtungen sieht sich die evangelische Kirche in gleicher Weise wie die öffentliche Hand in der Pflicht, diesen herausfordernden Weg der Konversion des Bildungswesens aktiv und konsequent zu beschreiten. Darüber hinaus nimmt sie ihre Bildungsmitverantwortung wahr, indem sie das öffentliche Bildungswesen in diesem Prozess nach Kräften partnerschaftlich unterstützt.

Von der Förderschule zur Inklusion in der allgemeinen Schule

Nach der rechtlichen Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention darf es keine Förderschulpflicht mehr geben. Jede Schülerin und jeder Schüler hat das Recht auf gemeinsamen Unterricht in einer allgemeinen Schule vor Ort. Mehr noch: Für alle Lernenden sollen inklusive Angebote zur Verfügung stehen. Damit ist das Recht auf eine inklusive Bildung kein Sonderrecht von Kindern mit einer Behinderung, sondern eine pädagogische Perspektive auf die bestmögliche Förderung eines jeden Kindes. Die weit ausdifferenzierte und hoch professionalisierte Sonderpädagogik in Deutschland hat in der segregierenden und integrativen Beschulung die Bildungs- und Förderfähigkeit aller Schülerinnen und Schüler aufgezeigt. Nun gilt es, diese hohen sonderpädagogischen Kompetenzen für die allgemeine Schule und damit für alle Schülerinnen und Schüler fruchtbar zu machen. Das schließt nicht nur die Inklusion in der Regelschule, sondern auch die Öffnung der Förderschule für alle Kinder explizit ein. Bisher standen bei der Schulwahl die Fragen im Vordergrund, ob ein Kind »schulfähig« ist. In einer inklusiven Schule muss die Frage nun lauten, welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, damit ein jedes Kind die optimalen Lernbedingungen bekommt, d. h. ob die Schule »kindfähig« ist.

Was bedeutet dieses im Einzelnen?

  • Inklusion ist eine Aufgabe in Kindertagesstätten und Schulen. Bereits der Kindergarten muss zu einer alle Kinder willkommen heißenden Bildungseinrichtung entwickelt werden. Jede Kindertagesstätte muss für alle zugänglich sein und es jedem Kind ermöglichen, seine Potenziale zu entfalten und aktiv am Gruppenleben teilnehmen zu können (vgl. oben).
  • Wohnortnahe inklusive Schulen, die im gemeinsamen Unterricht ein binnendifferenziertes, individualisiertes und kooperatives Lernen ermöglichen, werden jedem Schüler und jeder Schülerin gerecht und vermeiden Selektion, Versäulung, Abschulung, Stigmatisierung und Beschämung.
  • Mit ihrem Umfeld vernetzte Schulen lassen eine plurale, vielfältige Schullandschaft mit unterschiedlichen Schulprofilen und breiten Wahlmöglichkeiten entstehen. Das gilt in besonderem Maße auch für Gymnasien und berufliche Schulen.
  • Förderschulzentren haben ein hohes Maß an sonder- und allgemeinpädagogischer Kompetenz aufgebaut. Diese können zu inklusiven Schulen für alle Kinder oder zu inklusiven Schwerpunktschulen bzw. Kompetenzzentren weiterentwickelt werden. Die in der praktischen Arbeit gewonnene Kompetenz kann damit für alle Schülerinnen und Schüler fruchtbar gemacht werden und sichert die erworbene Fachlichkeit [11]. Gerade in der Umbauphase zu einem inklusiven Bildungssystem ist die gegenseitige Öffnung sowohl der allgemeinen Schulen gegenüber den Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf als auch der Förderschulen gegenüber den Schülerinnen und Schülern ohne besonderen Förderbedarf voranzutreiben. Die Bundesländer sollten die Möglichkeit der Öffnung von Förderschulen für inklusiven Unterricht grundsätzlich ermöglichen.
  • Für das Gelingen von Inklusion ist die (Weiter-)Entwicklung einer unterstützenden, fördernden und an den individuellen Ressourcen orientierten Unterrichtskultur von Bedeutung. Dieses stellt viele Lehrkräfte vor besondere Herausforderungen. Dafür sind entsprechende Unterstützungsmaßnahmen wie Hilfen für einen kompetenzorientierten Unterricht und entsprechende Fortbildungen erforderlich. Eine aufgaben- und kompetenzorientierte Unterrichtskultur kommt allen Schülerinnen und Schülern, auch den hochbegabten, zugute. In diesem Kontext sind verbindliche Qualitätsstandards für den inklusiven Unterricht bezüglich interdisziplinärer Fachlichkeit, Personalschlüssel, Raum- und Materialausstattung zu entwickeln, die sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen der Inklusions- und Förderpädagogik orientieren.
  • Die Lehrerversorgung ist stärker als bisher interdisziplinär zu denken; eine angemessene interdisziplinäre Personalversorgung ist zu gewährleisten. Lehrkräfte mit besonderen förderpädagogischen Kompetenzen sind für alle Schulen vorzusehen, auch für Schulen in freier Trägerschaft. Inklusionsberatung sollte für jede Schule ermöglicht werden. Multiprofessionelle Teams aus schulpädagogischen, sonder- und sozialpädagogischen, heilpädagogischen, psychologischen und medizinisch-therapeutischen Fachkräften unterstützen die Inklusion.
  • Auch im inklusiven Unterricht ist eine den Unterricht begleitende Diagnostik erforderlich. Diese dient dazu, gemeinsame Beschulung zu unterstützen und eine Etikettierung zu vermeiden. Die Diagnostik in der inklusiven Schule geht nicht von der durchschnittlichen »Normalität«, sondern von dem individuellen Leistungsvermögen eines Kindes oder Jugendlichen aus. Sie orientiert sich nicht an Defiziten, sondern öffnet den Blick für Stärken und zeigt Barrieren auf, die das gemeinsame Lernen erschweren. Die Diagnostik trägt dazu bei, dass die erforderlichen Vorkehrungen getroffen werden, um individuelle Handicaps nicht zu einer Behinderung des eigenen und gemeinsamen Lernens werden zu lassen.
  • Eine barrierefreie, geeignete Raumausstattung ist in Schulen zu gewährleisten. Für ein inklusives Schulsystem sind Schulbaurichtlinien zu erarbeiten, die eine nicht einschränkende und nicht behindernde Lernumgebung mit den entsprechenden Räumlichkeiten (z. B. Teilungsräume, Therapie- und Auszeitenräume und Arbeitszimmer für das Lehr-, Förder- und Fachpersonal) vorsehen.
  • Eine Schulseelsorge, die das gemeinsame Lernen und Leben in der Gemeinschaft der Verschiedenen im Blick hat, ist von besonderer Bedeutung. Sie sorgt in interdisziplinärer Kooperation mit Schulpsychologie, Schulsozialarbeit, sonderpädagogischer Förderung und außerschulischen Partnern dafür, dass Kinder und Eltern mit Verletzungs- und Ausgrenzungserfahrungen seelsorgliche Begleitung finden. Sie unterstützt eine inklusive Schulkultur, pflegt einen achtsamen, wertschätzenden Umgang mit Differenzen und hilft, Ausgrenzung und Mobbing zu vermeiden.

Dieser Umbau zum inklusiven Schulwesen muss zügig erfolgen, aber nicht überhastet. Auf diesem Weg ist die Entwicklung inklusiver Schwerpunktschulen als Kompetenzzentren für inklusive Pädagogik mit besonderen personellen und sächlichen Ressourcen ein wichtiger Meilenstein, um die Schulen in der Region auf dem Weg zur inklusiven Entwicklung kompetent und praxisorientiert zu unterstützen.

Religionsunterricht

Im Blick auf das Verhältnis von Religionsunterricht und Inklusion sind übergreifende Grundlagen und Perspektiven zu berücksichtigen, die in der Denkschrift »Religiöse Orientierung gewinnen« [44] thematisiert werden. Im Übrigen gelten für den Religionsunterricht die gleichen obengenannten inklusionspädagogischen Qualitätsstandards. So ist in Klassen mit Kindern mit Behinderungen eine ausreichende personelle Ausstattung zu gewährleisten. Religionslehrkräfte, die in ihrem Fachunterricht nur zwei Stunden in einer Klasse sind, brauchen eine besondere Unterstützung, um für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen nach ihrem individuellem Bedarf eine kontinuierliche pädagogische Begleitung zu gewährleisten. Der Religionsunterricht muss sich weiterentwickeln, um junge Menschen mit Behinderungen angemessen zu fördern. Die für den Religionsunterricht Verantwortlichen sind auf besondere Weise herausgefordert, Inklusion durch geeignete Aus-, Fort- und Weiterbildungen, didaktische Konzepte, Unterrichtsideen, Materialien und erweiterte inklusive Beratungsangebote zu ermöglichen. Darüber hinaus ist es naheliegend, Inklusion in Kirche und Gesellschaft eigens zum Thema im Religionsunterricht zu machen. Insgesamt müssen der konfessionelle Religionsunterricht und das konfessionellkooperative sowie interreligiöse Lernen unter den Vorzeichen der Inklusionspädagogik neu bedacht werden.

Der besondere Anspruch an Bildungseinrichtungen in evangelischer Trägerschaft

Mit Schulen in evangelischer Trägerschaft verbindet sich der Anspruch, evangelisches Bildungsverständnis in besonderer Weise deutlich zu machen. Hohe fachliche Anforderungen an Schülerinnen und Schüler sind mit besonderer Förderung, einem diakonischen Verständnis, Sozialkompetenz und der Kompensation von Benachteiligungen aller Art zu verbinden. In diesem Sinne sollten evangelische Bildungseinrichtungen modellhaft und mutig im Hinblick auf unterschiedliche Formen von Inklusion vorangehen und das in vielen Jahren erworbene Know-how für die Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher in den Bildungsdiskurs um Inklusion einbringen. Damit ist die Forderung nach der Weiterentwicklung und Umgestaltung von evangelischen Bildungseinrichtungen zu inklusiven, bildungsgerechten Kindertageseinrichtungen, Schulen und Bildungsstätten verbunden. Ebenso ist die entschiedene Unterstützung benachteiligter Kinder und Jugendlicher notwendig, insbesondere derjenigen, die aufgrund von Lernschwierigkeiten, sozio-ökonomischer Lebensbedingungen, Migrationsgeschichte oder einer fehlenden gesellschaftlichen Lobby geringere Lernchancen besitzen.

Inklusion als Thema von pädagogischer Aus-, Fort- und Weiterbildung

Für das Personal in Bildungseinrichtungen ist durch Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen eine pädagogische Qualifikation für inklusive Arbeit zu ermöglichen. Neben unterschiedlich qualifiziertem Personal im Kontext der frühen Förderung ist auch an Erzieher und Erzieherinnen zu denken, die in der Phase des Change Managements zu sogenannten »Inklusionsassistenten« weitergebildet werden. Langfristig muss es jedoch das Ziel von Aus-, Fort- und Weiterbildung sein, Erfahrungsräume für interdisziplinäre Teams zu schaffen, in denen eine inklusive Haltung gelebt und eingeübt werden kann. Das bedeutet, dass Pädagogen systematisch auch auf die Arbeit in multiprofessionellen Teams vorzubereiten sind. Die Kooperation von interdisziplinären Teams in allen Bildungsbereichen schafft eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Inklusion nicht mit einem Qualitätsverlust verbunden ist, sondern zu einem Bildungsgewinn für alle führt. Es ist erfreulich, dass viele Pädagogische Institute der Landeskirchen sich dieser Herausforderung bereits stellen.

Individualorientierte Leistungen und Assistenz

Die Bildungsfinanzierung ist einer der Bereiche der staatlichen Finanzierung, der besonders stark an die Finanzierung von Institutionen (z. B. der Schule) und besonders wenig an den Einzelbedarfen (z. B. der Schülerinnen und Schüler) orientiert ist. Dies führt dazu, dass bei der Aufnahme von Kindern mit Behinderungen in Regelschulen der Besuch meist nur durch zusätzliche Leistungen der Eingliederungshilfe bzw. der Kinder-und Jugendhilfe ermöglicht wird. Diese müssen oft in einem vergleichsweise aufwendigen Verfahren individuell bewilligt werden. Neben gezielten individuellen Fördermaßnahmen wie Unterricht in lebenspraktischen Fähigkeiten und der Bereitstellung von Hilfsmitteln besteht die Leistung oftmals in zusätzlichen Stunden für Schulbegleiter bzw. Schulassistenten oder Integrationshelfern. Oft werden diese durch externe Dienstleister eingestellt. Systematisierte Aufgabenbeschreibungen und Qualitätsanforderungen an Kenntnisstand und Ausbildung für diese Mitarbeitendengruppe liegen in der Regel nicht vor. Vor allem aufgrund der fehlenden Einbindung in die Schulorganisation werden damit teilweise unbefriedigende Erfahrungen gemacht, weil sie nur einen pflegerischen und unterstützenden Auftrag haben, aber nicht pädagogisch arbeiten dürfen. Dennoch ist deren Einsatz — je nach Situation und wenn die individuellen Anspruchsvoraussetzungen vorliegen — erforderlich und hilfreich. Dabei kommt es nach bisherigen Erfahrungen entscheidend auf den koordinierten Einsatz dieser Personen sowie die kooperative Aufnahme in der jeweiligen Einrichtung an. Kommunal- und Schulverwaltung sollten mit einer möglichst frühzeitigen Abstimmung mit allen Beteiligten die ressourceneffiziente Deckung des vorhandenen individuellen Bedarfs bewerkstelligen. Ähnliche Anforderungen gelten für die nach- oder ganztagsschulische Kindertagesbetreuung, den Schülertransport bzw. Schülerspezialtransport und andere Leistungen. Da Geld jeweils nur einmal ausgegeben werden kann, wäre eine stärker am individuellen Bedarf orientierte Förderung effektiver, die alle Ressourcen aus einer Hand bereitstellt. Denkbar ist z. B. bei Trägerkonzentration auf kommunaler Ebene eine Bündelung der Ressourcen für eine gesamte Schule. Der bürokratische Aufwand würde reduziert und die jeweilige Schule könnte dadurch eine wesentlich flexiblere Deckung der jeweiligen Bedarfe gewährleisten und selbständiger organisieren.

Beispiel: Kosten der segregierenden Beförderung

Die Beförderung eines behinderten Kindes zu einer 20 km entfernten Förderschule kostet im Land Brandenburg ca. 13.000 Euro im Jahr. Besucht das Kind die Grundschule am Wohnort, entfallen diese Kosten weitgehend bzw. könnten der Grundschule zur Verbesserung der pädagogischen Ausstattung zur Verfügung gestellt werden.

Wie sich die Kosten des separierenden Sonderschulsystems im Verhältnis zu einem inklusiven Schulwesen verhalten, wird kontrovers diskutiert. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Finanzen im System vorhanden sind, aber neu verteilt werden müssen [45].Werden alle finanziellen Faktoren wie z. B. Personal, Beförderung, Verwaltung und Betrieb einbezogen, sind die Kosten im Vergleich integrative versus Sonderbeschulung in etwa gleich [46]. Ein inklusives Schulsystem, das auf eine separierende Doppelstruktur verzichtet, ist diesen Berechnungen nach kostenneutral, für den langfristigen Umbau des Bildungswesens müsste jedoch zusätzlich Geld investiert werden.

4.3 Wohnen und Leben

Eine zentrale Aufgabe im Hinblick auf Inklusion liegt in der Frage, wie der Sozialraum gesellschaftlich organisiert wird. Sind Nachbarschaft und Wohnviertel so gestaltet und organisiert, dass sich jeder Mensch entsprechend seiner Möglichkeiten und Präferenzen entfalten kann? Im Folgenden werden unterschiedliche Arenen der Sozialraumgestaltung thematisiert, ehe vor diesem Hintergrund Empfehlungen für die schrittweise Umsetzung des Inklusionsgedankens formuliert werden.

In der sozialen und diakonischen Arbeit mit und für Menschen mit Behinderungen ist die sozialräumliche Orientierung ein dringendes Anliegen. Zunehmend werden Unterstützungsangebote und Assistenzleistungen für Menschen mit Behinderungen nicht mehr am Rande der Städte und Gemeinden in großen Einrichtungen, sondern gemeindeintegriert angeboten. Viele Einrichtungen befinden sich in einem Prozess der Dezentralisierung; sie mieten Wohnungen, in denen Menschen mit Behinderungen eigenständig leben können, bieten neue Wohngruppen an und schaffen ambulante Unterstützungsangebote und Begegnungsmöglichkeiten. Die lange Erfahrung und hohe professionelle Kompetenz, die die »Sondereinrichtungen« in diesen Veränderungsprozess einbringen, werden auch im ambulanten Kontext gebraucht. Die Prozesse der Verschränkung zwischen Dienstleistern und zivilgesellschaftlichen Gruppen in den Quartieren, zwischen beruflich und freiwillig Mitarbeitenden, Gemeinde und Diakonie sind zu unterstützen, intensiv voranzutreiben und zu bestärken.

Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen äußern selbstbewusst berechtigte Ansprüche an Wohnqualität und an ein Leben »mittendrin« im Gemeinwesen. Die Wünsche beziehen sich auf normale Erwartungen an eine eigene Wohnung — natürlich barrierefrei und in einer toleranten Nachbarschaft.

Dazu bedarf es baulicher und verkehrstechnischer Standards, Festlegungen in den Aktionsplänen der Länder oder Kommunen und auch kommunaler Anreizprogramme. Gleichzeitig geht es aber auch um ein Leben mit Unterstützungssicherheit und fachlich kompetenter, passförmiger Begleitung. Diese Ansprüche versuchen diakonische Einrichtungen in ihren Angeboten umzusetzen. Dabei reichen die Angebote von kleinen, modernisierten bzw. modernen Wohnheimen bis hin zu niedrigschwelligen Begleitangeboten in eigener Wohnung.

Gemeinsames Leben

Ein Beispiel findet sich in Bielefeld im Projekt Verler Dreieck der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, das Wohnmöglichkeiten und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen bereithält, die üblicherweise wegen des Umfang ihres Unterstützungsbedarfs in einem vollstationären Wohnheim betreut würden: Das Projekt Verler Dreieck folgt der Vorstellung eines »gemeinde-integrierten« Lebens in einer normalen Nachbarschaft mit der notwendigen Versorgungsstruktur über 24 Stunden täglich.

In Zusammenarbeit mit einer Genossenschaft wurde das Siedlungsgebiet »Verler Dreieck« entwickelt, das 255 zum Teil barrierefreie Wohnungen mit unterschiedlichen Grundrissen bietet. 20 Menschen mit Behinderungen haben hier in verschiedenen Häusern ihre Unterkunft gefunden. Natürlich gab es im

Vorfeld auch Bedenken, Ängste, Unsicherheiten und Vorurteile seitens der Siedlungsbewohnerschaft. Noch bevor die ersten neuen Mitbewohner einzogen, haben sich die Mitarbeitenden vorgestellt, das Konzept wurde erläutert. Dieser Austausch und vor allem die 24-Stunden-Erreichbarkeit und die Präsenz vor Ort haben letztendlich dazu geführt, dass die Siedlungsbewohnerinnen und -bewohner dem Vorhaben offen gegenüber standen.

Der erste Einzug eines jungen Paares in eine der angemieteten Wohnungen stellte auch den Sozialhilfeträger vor Herausforderungen. Bei dem jungen Paar gab es unterschiedliche Unterstützungsbedarfe: Die junge Frau hat einen sehr umfangreichen Unterstützungsbedarf und der junge Mann einen geringen. Die klassische Trennung von ambulanten und stationären Hilfeleistungen wurde hier von der Realität eingeholt. Menschen mit Behinderungen, die sich verlieben, fragen nicht vorher, wie sie betreut werden und ob ihre Beziehung aus diesen Gründen überhaupt eine Zukunftsperspektive haben kann. Sie verlieben sich einfach wie alle anderen Menschen auch.

Beide Unterstützungsformen werden nun von einem Team aus einer Hand erbracht. Die Leistungen umfassen dabei das komplette Spektrum von Beratung, Assistenz, Anleitung, Begleitung bis hin zu umfassender Hilfestellung oder auch stellvertretender Übernahme. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit ist die Inanspruchnahme der Angebote, die der Stadtteil bietet. Hierzu gehören beispielsweise Angebote der Kirchengemeinde, der Vereine, Kulturangebote, aber auch der Aufbau nachbarschaftlicher Beziehungen sowie die Nutzung des ortsansässigen Einzelhandels oder auch der Gastronomie.

Solche und ähnliche Beispiele finden sich mittlerweile überall. Hier wird versucht, die Wünsche nach einem selbstbestimmten Leben unabhängig von den Fähigkeiten ernst zu nehmen. Dabei geht es diakonischer Behindertenhilfe darum, jede und jeden Einzelnen als Person mit eigenen Zielen, mit eigenem Willen und mit einer eigenen Lebensplanung zu achten und zu unterstützen. Wünsche, Interessen und die Vorstellungen zur eigenen Lebensplanung bilden die Grundlage für die Assistenzleistungen der Dienste und Einrichtungen.

Der Alltag in der unmittelbaren Umgebung, aber auch Menschen und Beziehungen geben Sicherheit und Orientierung. Das gilt für ältere Menschen genauso wie für Menschen mit Behinderungen oder für Migrantinnen und Migranten. Zur Entwicklung einer inklusiven Haltung braucht das Gemeinwesen allerdings auch als Ganzes Beratung und Unterstützung, um Überforderungsrisiken entgegenzuwirken. Politische Programme wie »Soziale Stadt« oder auch politisch geförderte Konzepte wie »Kirche findet Stadt« aus dem Feld der Gemeinwesendiakonie können mit Stadtteilarbeit und Stadtteilläden dazu beitragen.

Individuelle Teilhabeleistungen und Finanzbedafe für Inklusion anerkennen

Die Schaffung von ambulanten Angeboten im Sozialraum bedingt eine veränderte Philosophie der Finanzierung öffentlicher Sozialleistungen. Nicht mehr die gewohnten, standardisierten Strukturen der Sozialgesetzgebung und der Einrichtungen sollen im Mittelpunkt stehen, sondern die Bedürfnisse jedes einzelnen Menschen. Eine Ressourcenzuweisung zu den Einzelnen gibt ihnen die Möglichkeit, selbstbestimmt die Formen der Unterstützung zu wählen, die ihnen besonders entsprechen. Dies schließt ausdrücklich auch die Möglichkeit ein, eine institutionalisierte Assistenz- und Unterstützungsleistung zu wählen.

Sozialräumlich eingebundene Assistenz- und Unterstützungsleistungen müssen nicht zwingend teurer sein als institutionalisierte Hilfen, sie sind aber auch kein Angebot zur Einsparung. Vielmehr ist davon auszugehen, dass für die Übergangszeiten, d. h. die Umsetzung sozialräumlich orientierter Angebote, zunächst höhere Finanzressourcen als bisher im Sinne des »Change Managements« zu veranschlagen sind. Die häufig geäußerte Idee, dass die Ambulantisierung finanziell weniger aufwendig ist als die bisherige Behindertenarbeit und dass Inklusion vor diesem Hintergrund zu einem Sparmodell bzw. zu einer Ressourcenverschlechterung für Menschen mit Behinderungen führt, ist irreführend. Vielmehr entstehen im Übergang zur Inklusion folgende spezifische Finanzbedarfe:

  • im Hinblick auf die Förderung gesellschaftlicher Achtsamkeit. Für die Verankerung von Inklusion im Sozialraum ist es notwendig, die Menschen, die bisher durch die nicht vorhandene Inklusion kaum Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderungen hatten, für diese Begegnung zu sensibilisieren. Das beginnt bei der Finanzierung allgemeiner Informationskampagnen, geht über die sorgfältige Vorbereitung von Wohnumgebungen für ambulante Wohngruppen bis hin z. B. zur Schulung des Kassenpersonals von Supermärkten, um den Einkauf von Menschen mit Behinderungen angemessen zu begleiten.
  • im Hinblick auf die Möglichkeit sozialräumlicher Bewegung. Die Mehrkosten zur Ermöglichung von Mobilität und Bewegungsfreiheit, etwa im Hinblick auf reale und virtuelle Barrierefreiheit oder im Hinblick auf die Finanzierung von Assistenz, sind aufzubringen.
  • im Hinblick auf die Förderung inklusiven Denkens. An vielen Stellen der Gesellschaft — Stadtverwaltungen, Medien, im Einzelhandel, im Bildungsbereich etc. — sind Bildungsangebote sowie spezifische Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu schaffen, die Menschen ermöglichen, inklusiv zu denken, ihre Erfahrungen systematisch zu erweitern und ihre Professionalität entsprechend zu entwickeln.
  • im Hinblick auf die Förderung sozialräumlicher Bindungen. Inklusion gelingt nur, wenn Menschen die Möglichkeit haben, sich im öffentlichen Raum zu begegnen. Dafür braucht es z. B. in Wohnanlagen Begegnungsräume, entsprechend einladend gestaltete Grünflächen, Inklusionsprogramme in der Quartiersarbeit etc.

Häufig ist es so, dass das damit verbundene Investment für die gesamte Bevölkerung einen Gewinn an Lebensqualität bringt. So profitieren eben auch ältere Menschen, Fahrradfahrer, Menschen, die einen Kinderwagen schieben oder große Einkäufe haben, von barrierefreien Zugängen — und nicht nur jene, die ohne Inklusion spezielle Fahrbereitschaften nutzen würden. Inklusive Quartiersgestaltung bietet zugleich der Wohnungswirtschaft die Chance, den Ertragswert der eigenen Immobilien zu steigern: Mietverhältnisse bleiben länger bestehen. Das Interesse am Erhalt der Wohnung steigt. Niemand wird widersprechen, wenn neben dem baulichen Zustand und der Ausstattung einer Immobilie auch ihr Standort als wesentlicher Faktor für ihren Wert benannt wird. Naheliegend müssten daher auch gewerbliche Besitzer von Immobilien ein Interesse an einer zukunftsträchtigen Gestaltung ihres sozialen Umfelds haben. Wohnungsbaugesellschaften sind deshalb wichtige Ansprechpartner für die Gemeinden vor Ort. Gute Kooperationen auch mit diakonischen Trägern zeigen, dass eine verlässliche Zusammenarbeit gelingen kann, in der auch im Blick auf die vorhandenen Mieter Vorbehalte abgebaut werden können. Gelingt es, zu neuen Kooperationen zu kommen, haben alle Partner gewonnen: zuvorderst die Bürgerinnen und Bürger im Quartier im Hinblick auf ihre je persönliche Lebensqualität, zugleich aber, wie oben beschrieben, die Wohnungswirtschaft und nicht zuletzt auch die Gemeinden, wenn sich Immobilienunternehmen z. B. am barrierefreien Umbau von Gemeindehäusern, Kindertagesstätten und Kirchengebäuden beteiligen.

»Wohn Quartier4«

Auch wenn der Begriff »Inklusion« bei der Konzeptionierung dieses Projektes keine Verwendung fand, bietet der Ansatz eine hervorragende Plattform für eine inklusive Stadtentwicklung.

Erarbeitet wurde das Konzept vom Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche im Rheinland in Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Erwachsenenbildungswerk Nordrhein und der HOCHTIEF Construction AG als Handlungskonzept, um eine Antwort auf den demographischen Wandel zu suchen. Denn eine lebenswerte Zukunft hängt maßgeblich von einer menschengerechten Ausstattung der Quartiere ab.

Die Initiatoren von »WohnQuartier4« knüpfen an Erfahrungen des Bund-Länder-Programms »Soziale Stadt« an und nehmen Qualitätsstandards auf, die im »Essener Modell« für Quartiersmanagement herausgearbeitet worden sind. In Fortführung dieser Ansätze wurden vier zentrale miteinander verknüpfte Faktoren beschrieben: »Wohnen & Wohnumfeld«, »Gesundheit & Service und Pflege«, »Partizipation & Kommunikation« sowie »Bildung & Kunst und Kultur«.

Das hier zugrunde liegende Verständnis von Partizipation meint dabei nicht bloß »Bürgerbeteiligung«. Ziel ist es vielmehr, die Bürgerinnen und Bürger vor Ort dazu zu befähigen, ihren Stadtteil selbständig und gleichberechtigt entwickeln zu können. Nach Abschluss der

Modellphase ist »WohnQuartier4« zum Beratungsund Qualifizierungskonzept »Inklusive Quartiersentwicklung« weiterentwickelt und um den Faktor »Arbeit & Beschäftigung« ergänzt worden — als Impulsgeber für und Begleiter von Kirchengemeinden, Einrichtungen und Initiativen, die sich inklusiver und quartiersorientierter engagieren wollen [47].

Quartiersgestaltung versteht sich als Netzwerkarbeit und beginnt immer mit der Analyse der Gegebenheiten durch die Bürgerinnen und Bürger. Anschließend werden mit den Menschen vor Ort gemeinsame Wege in die Zukunft gesucht. Prozesse dieser Art sind nur dann von nachhaltigem Wert, wenn sie inklusiv gestaltet werden. Letztlich geht es um »gute Nachbarschaft« im Sinne von angemessener Lebensqualität für eine Vielzahl von Menschen, die in ihrer Unterschiedlichkeit aufeinander angewiesen sind.

Vernetzung unterschiedlicher Akteure im Sozialraum und der Sozialgesetzgebung

Tatsächlich ist allerdings zurzeit eine zunehmende Versäulung und Verselbständigung der unterschiedlichen Akteure festzustellen. Für jede Lebenslage gibt es ein besonderes Angebot ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass die Einzelnen eben unterschiedliche Bedarfe haben, die aufeinander abgestimmt werden müssen. Im Sinne der Betroffenen geht es jedoch darum, alle sozialstaatlichen Leistungen vernetzt in den Blick zu nehmen. Der Deutsche Städtetag hat für diese Anforderung den Begriff der »sozialräumlichen Landschaft« geprägt. Aus der Perspektive der betroffenen Personen müssen die Zuständigkeiten von Institutionen sowie die unterschiedlichen Leistungssysteme reflektiert und abgestimmt werden. Damit wird es notwendig, bisher entkoppelte Rechtssysteme — wie etwa das Kinder- und Jugendhilferecht, das Sozialhilferecht, das Eingliederungshilferecht sowie das Bildungs- und Schulrecht — und die mit diesen Bereichen verknüpften Leistungssysteme und Akteure aufeinander zu beziehen.

Barrierefreiheit

Die Forderung nach Barrierefreiheit bezieht sich auf alle Bereiche gesellschaftlichen Handelns, aufWohnungen und den öffentlichen Raum, aber auch auf die Gestaltung von Veranstaltungen, Homepages oder Broschüren und Zeitschriften.

Wie weit der Begriff Barrierefreiheit zu verstehen ist, wird deutlich, wenn man die verschiedenen Bedürfnisse der möglichen Teilnehmenden bei der Planung einer Veranstaltung einbezieht, um niemanden vorab auszuschließen. Für die Gesamtplanung einer Veranstaltung ist die Leitfrage hilfreich: Was braucht ein Gast, um sich willkommen zu fühlen und teilhaben zu können? Betroffene Menschen sollten dabei in die Planungen einbezogen werden.

Bei der Barrierefreiheit kommt zunächst die Erreichbarkeit des Ortes in den Blick. Haben Menschen mit Gehbehinderung, mit Rollator, Rollstuhl oder auch Kinderwagen die Möglichkeit hineinzukommen? Bietet das Gebäude Orientierungshilfen für Menschen, die schlecht sehen? Bei der Bereitstellung von Informationen im Vorfeld und während einer Veranstaltung kann man die Planung leicht mit dem Zwei-Sinne-Prinzip überprüfen. Alle Informationen von der Hinweistafel bis zum Vortrag sollten mindestens durch zwei Sinne (z. B. Hören, Sehen, Fühlen) wahrnehmbar sein. Sind die Planenden erst einmal sensibilisiert, so wird es später selbstverständlich, ein Podium zu haben, das auch für Rollstühle erreichbar ist, eine funktionierende Verstärkeranlage einzusetzen sowie vorab zu klären, ob Dolmetschende für gehörlose oder taubblinde Menschen gebraucht werden. Wenn genügend Helferinnen und Helfer vorgesehen werden, die Einzelne bei der Orientierung im Gebäude und bei individuellem Assistenzbedarf unterstützen können, trägt dies zum Gelingen jeder Veranstaltung bei. Wenn dann noch ein einladendes Umfeld geschaffen wird, in dem für die Pause nicht nur Stehtische aufgestellt sind, sondern auch Tische mit Stühlen und einem freien Platz für den Rollstuhl, wenn Pausen genügend Zeit für alle anbieten und bei den angebotenen Speisen auf individuelle Bedürfnisse geachtet wird, dann fühlen sich alle als Gäste willkommen.

Wie gestalte ich eine Veranstaltung barrierefrei? [48]

Ob eine Veranstaltung barrierefrei ist, lässt sich anhand von folgenden Fragen überprüfen: Können dieses Angebot Menschen wahrnehmen,

  • die eine Gehbehinderung haben?
  • die mit einem Rollstuhl oder Rollator kommen?
  • die schlecht sehen, sehbehindert oder blind sind?
  • die schlecht hören oder gehörlos sind?
  • die Lernschwierigkeiten haben?
  • die an psychischen Erkrankungen leiden?

Um diese Fragen positiv beantworten zu können, hilft der Blick auf folgende Themenbereiche:

  • Weg zur Veranstaltung (u. a. barrierefreier öffentlicher Nahverkehr, Rampen, Aufzug)
  • Möglichkeiten des Ortes (u. a. Behinderten-WC, Akustik im Raum, Beleuchtung)
  • Kommunikation während der Veranstaltung (u. a. Verstärkeranlage, leichte Sprache, Dolmetschende)
  • Informationen (u. a. kontrastreiche Gestaltung, große Schrift, Unterlagen digital, in Punktschrift oder zum Hören)
  • Verpflegung und ausreichende Pausen (u. a. Unterstützung bei Büfetts, spezielle Nahrungsangebote)
  • Helferinnen und Helfer für mögliche Assistenz (u. a. Abholung, Begleitung im Gebäude)
  • Budget (u. a. Mehrausgaben für Dolmetschende, Sonderfahrdienste).

Über das Quartier hinaus: Mobilität, Sport und Urlaub

Zu einem barrierefreien Quartier gehören auch Verkehrssysteme, die es Menschen mit Behinderungen, aber auch älteren Verkehrsteilnehmenden und Eltern mit kleinen Kindern ermöglichen, sich selbständig und ohne Gefahr in der eigenen Nachbarschaft, Stadt und Region zu bewegen. Tatsächlich ist allerdings der individuelle Nahverkehr weiterhin sehr stark auf das eigene Auto ausgerichtet, während die öffentlichen Verkehrssysteme von Ampelschaltungen bis zu Einsteigzeiten von einer Reaktionsgeschwindigkeit ausgehen, mit der bei vielen Verkehrsteilnehmenden nicht (mehr) zu rechnen ist. Zudem besteht derzeit ein Nebeneinander der Verkehrssysteme und Fahrdienste für Menschen mit und ohne Behinderungen. Berechnungen zeigen, dass eine Integration unterschiedlicher Dienste allen Beteiligten zugute käme und keinesfalls zu höheren Kosten führen müsste.

Eigenständig unterwegs sein zu können, Freunde zu besuchen, zur Chorprobe zu fahren oder Sport zu treiben und natürlich auch in den Urlaub zu fahren, das sollte für Menschen mit Behinderungen genauso selbstverständlich sein wie für jeden und jede andere. Zu einem gelingenden Leben gehören nicht nur Arbeit und an den individuellen Bedarfen orientierte grundlegende Teilhabeleistungen, sondern auch die Möglichkeit, in Freizeit und Urlaub neue Perspektiven auf das eigene Leben zu entdecken. Oft ist das allerdings nur dann realisierbar, wenn Unterstützung und Begleitung ermöglicht und finanziert werden.

Blindenfußball — Sportbegeisterung kann verbinden

Auch blinde Menschen spielen Fußball, dafür ist ihr Gehör besonders wichtig. Der Ball hat eingebaute Rasseln, die den Spielern signalisieren, wo sich das Leder gerade befindet. Auch sonst ist einiges anders, als wir Sehende es kennen. Spielfeld, Tor und Ball sind kleiner, die Längsseiten durch Banden begrenzt und auch die Spielzeit ist verkürzt. Gespielt wird mit vier blinden Feldspielern und einem sehenden Torwart. Dazu gibt es noch zwei sehende Rufer, die bei der Orientierung helfen. Neben dem Gehör braucht beim Blindenfußball ein Spieler einen guten Orientierungssinn, Intuition und Körperbeherrschung, denn blinde Fußballer führen den Ball ganz eng, fast wie an den Fuß geklebt. Aber trotzdem gilt hier wie beim Fußball: Das Runde muss ins Eckige. Und für viele blinde und sehbehinderte Menschen ist Fußball die größte Leidenschaft — genauso wie für sehende Menschen. Auch wenn es sehenden Menschen sicher schwerfallen dürfte, sich auf dem Spielfeld blind zu orientieren, aber beim Zuschauen und als Fans sind alle gemeinsam dabei, ob sehend, blind oder sehbehindert. Denn das Spiel wird von zwei Reportern live, ähnlich wie bei einer Rundfunkreportage, kommentiert, sodass alle am Spielfeldrand nichts verpassen [49].

Nachbarschaft leben

Wenn sich Inklusion als Paradigma in sozialräumlichem Denken und netzwerklichem Handeln aller Beteiligten im Sinne gleichberechtigter Partnerschaft konkretisiert, dann gehört dazu wesentlich die Bereitschaft, vorhandene Strukturen daraufhin zu befragen, inwieweit sie eine größtmögliche Offenheit für die angestrebte Gemeinschaft Verschiedener garantieren. Die Renaissance des Begriffs »Nachbarschaft« im sozialethischen Diskurs ist im Kontext von Inklusion gerade auch für das Selbstverständnis von Kirche hilfreich: Man ist eben nicht Nachbar, Bürger und dann auch noch Christ, sondern als Christ immer auch Nachbar und Bürger. Wer sich als Nachbar versteht, weiß um die unbedingte Notwendigkeit der gemeinsamen Gestaltung gedeihlichen Miteinanders vor Ort.

Nachbarschaft kann nur als Partnerschaft von Menschen gelingen, die ihre Unterschiedlichkeit tolerieren, auch wenn sie sich einander nicht ausgesucht haben. Angesichts der immer höheren Fluktuationsrate insbesondere in städtischen Ballungsräumen ist inklusives Denken geradezu gefordert: Niemand ist »immer schon da« und begrüßt andere als »Neue«. Gemeinden, die dieses Handlungsprinzip angenommen haben, können zu Motoren der Quartiersentwicklung werden.

Handlungsperspektiven im Kontext sozialräumlicher Inklusion

Diese Überlegungen verweisen auf folgende konkrete Handlungsmöglichkeiten:

  • Menschen mit Behinderungen haben das Recht, so zu wohnen und zu leben, wie sie möchten. Sie müssen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben. Ambulante, gemeinwesenintegrierte Wohn- und Unterstützungsangebote müssen ausgebaut und zugänglich gemacht werden. Das Wunsch- und Wahlrecht muss konsequent sowie unabhängig von Lebensalter und Umfang des Unterstützungsbedarfs Anwendung finden. Es ist sicherzustellen, dass die Unterstützungsleistungen individuell bedarfsgerecht im Rahmen eines Gesamtplanes erbracht werden.
  • Menschen mit Behinderungen müssen Zugang zu allen gesellschaftlichen Bereichen haben und daran teilhaben können. Der Zugang zu Straßen, Plätzen und Gebäuden, zu Angeboten der Kultur und der Freizeitgestaltung, zu Beförderungsmitteln sowie zu Medien und Informationen muss barrierefrei gestaltet werden. Der beste Wohnraum versagt, wenn bereits vor der Wohnungstür Barrieren lauern und der nächste Lebensmittelladen nicht aufgesucht werden kann. Der Öffentliche Personennahverkehr ist entsprechend zu gestalten.
  • Um den inklusiven Sozialraum und eine verlässliche Infrastruktur zu schaffen, müssen Leistungserbringer und -träger gemeinsam die Unterstützungsangebote bedarfsgerecht planen und ausgestalten. Die Kommunen haben hier durch ihre Pflicht zur Daseinsvorsorge eine besondere Verantwortung. Menschen mit Behinderungen sind hieran zu beteiligen.
  • Es muss barrierefreier Wohnraum zu erschwinglichen Mieten bereitgestellt werden. Eine barrierefreie Umweltgestaltung (universal design) muss weiter konsequent umgesetzt werden. Für eine politische Teilhabe müssen Möglichkeiten der barrierefreien Kommunikation zur Verfügung stehen. Dazu muss der Aufbau von Selbstvertretungsgruppen auf der kommunalen, Landes- und Bundesebene gefördert werden. Zur Stärkung der Selbstvertretungskompetenz von Menschen mit Behinderungen sind barrierefreie Bildungsangebote und flächendeckende, unabhängige Beratungsstrukturen, unter Einbeziehung von Peer-Beratung, also von Betroffenen für Betroffene, zu entwickeln und zu finanzieren.

4.4 Arbeit

Die UN-Behindertenrechtskonvention beschreibt in Artikel 27 das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird. Zwischen diesen Zielvorgaben und der tatsächlichen

Beschäftigungssituation von Menschen mit Behinderungen besteht jedoch auch fünf Jahre nach Ratifizierung der Konvention eine erhebliche Diskrepanz. So ist festzustellen, dass sich die Teilhabe- bzw. Arbeitsmarktchancen von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in den letzten Jahren eher ungünstig entwickelt haben. Die Arbeitslosenquote (erwerbsfähiger) Menschen mit einer Schwerbehinderung ist seit Jahren überdurchschnittlich hoch und liegt mit derzeit fast 15 Prozent weit über der allgemeinen Arbeitslosigkeit von rund 6,5 Prozent im November 2012. Zudem bleibt der Personenkreis der nicht erwerbsfähigen Menschen mit Behinderungen nach wie vor meist auf Sondersysteme wie Werkstätten für behinderte Menschen verwiesen. Zurzeit sind hier ca. 300.000 Menschen beschäftigt. Auch wenn die Werkstätten für behinderte Menschen für einen Teil der Menschen mit Behinderungen auch zukünftig ein wichtiges Angebot der Teilhabe am Arbeitsleben darstellen, sind dringend intensive Bemühungen erforderlich, ihre Beschäftigungschancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verbessern [50].

Berufliche Bildung

Eine berufliche Qualifizierung stellt eine wichtige Voraussetzung für die Teilhabe am Arbeitsleben dar. Menschen mit Behinderungen müssen eine (betriebsintegrierte) Ausbildung bzw. ein Studium absolvieren können, das ihren Vorstellungen, Wünschen und Fähigkeiten entspricht, und hierfür die gegebenenfalls notwendige individuelle Unterstützung (wie z. B. persönliche Assistenz) erhalten. Die Barrierefreiheit der Institutionen der beruflichen Bildung und der Hochschulen ist dabei eine wichtige Voraussetzung, damit alle Menschen die gleichen Teilnahmevoraussetzungen erhalten.

Anforderungen an die Politik

Damit Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben teilhaben können, brauchen sie die hierfür erforderliche Unterstützung im Sinne von Nachteilsausgleichen. Wenn dies erfolgt, kann es gelingen, ihre Teilhabechancen wirksam zu verbessern. Hierzu bedarf es gezielter arbeitsmarktpolitischer Programme, die dauerhaft und verlässlich finanziert werden müssen. Von besonderer Bedeutung ist die Gewährung von Lohnkostenzuschüssen sowie persönlicher Arbeitsassistenz.

Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind konsequent als personenzentrierte, individuell bedarfsgerechte Leistungen auszugestalten. Die Leistungsgewährung muss als Sachleistung oder als persönliches Budget nach § 17 SGB IX möglich sein. Die gesetzlichen Regelungen sind entsprechend weiterzuentwickeln. Das Recht auf den Zugang zu Arbeit gilt für alle Menschen, unabhängig von ihrem Unterstützungsbedarf. Um diesen Rechtsanspruch auch für Menschen mit umfangreichem Unterstützungsbedarf wirksam werden zu lassen, ist das zurzeit in § 136 SGB IX verankerte Zugangskriterium »Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung« zu streichen.

Das Wunsch- und Wahlrecht zwischen verschiedenen Leistungsarten, -orten, -erbringern und -formen muss konsequent verwirklicht werden. In diesem Zusammenhang sind bundeseinheitliche inklusive Qualitätsstandards zu entwickeln.

Arbeit selbst aussuchen

Alle Menschen sollen ihre Arbeit selbst aussuchen und das Geld für ihr Leben selbst verdienen können. Diese Möglichkeit muss in einer inklusiven Gesellschaft auch für Menschen mit Behinderungen eröffnet bzw. weiterentwickelt werden. Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt müssen zu einer spürbaren Verbesserung ihrer Einkommenssituation und einer weitestgehenden Unabhängigkeit von staatlichen Transferleistungen bei der Existenzsicherung führen.

»Werkstätten für behinderte Menschen«

Werkstätten für behinderte Menschen sind in den letzten Jahren als Sondereinrichtungen in die Kritik geraten. Vor dem Hintergrund der mangelnden Aufnahmebereitschaft des allgemeinen Arbeitsmarktes und im Rahmen des Wunsch- und Wahlrechtes von Menschen mit Behinderungen werden sie jedoch auch zukünftig eine wichtige Rolle bei der Teilhabe am Arbeitsleben übernehmen. Allerdings stehen auch sie vor der Herausforderung, ihr Leistungsangebot an den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention auszurichten. So sollten in Werkstätten für behinderte Menschen zukünftig Ausbildungen ermöglicht werden, die es erlauben, einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erhalten.

Wichtig ist zudem die Förderung des Übergangs von den Werkstätten für behinderte Menschen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Dazu kann die Unterstützung von »Scouts« sinnvoll sein, die zwischen den Werkstätten für behinderte Menschen und den Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts vermitteln und eventuelle Vorurteile seitens der Arbeitgeber hinsichtlich einer vermeintlich eingeschränkten Leistungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen abbauen helfen. Auch Praktika in Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes tragen zu einer Verbesserung der Beschäftigungschancen bei. Ein weiteres Instrument stellen betriebsintegrierte Arbeitsplätze dar. Hierbei handelt es sich um begleitete Arbeit von Werkstattbeschäftigten in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes. Befristete Arbeitsplätze dieser Art bieten Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit, bei einem künftigen Arbeitgeber die notwendigen berufspraktischen Fähigkeiten und sozialen Kompetenzen zu erwerben, um zu einem späteren Zeitpunkt aus der Werkstatt auszuscheiden und ein Arbeitsverhältnis auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einzugehen. Diese bieten auch die Chance, ggf. zu einem späteren Zeitpunkt in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mit regulärem Lohn wechseln zu können.

Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes müssen wiederum motiviert und angehalten werden, mehr Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen vorzuhalten. Das Wunsch- und Wahlrecht zwischen verschiedenen Leistungsarten, -orten, -erbringern und -formen muss konsequent verwirklicht werden. In diesem Zusammenhang ist auf die Einhaltung inklusiver Qualitätsstandards zu achten.

Arbeit mit Unterstützung ist möglich

Damit Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben teilhaben können, müssen sie die hierfür erforderliche Unterstützung im Sinne von Nachteilsausgleichen erhalten. Wenn dies erfolgt, kann es gelingen, die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosenquote bei dieser Personengruppe wirksam zu bekämpfen.

Alternativen zu den Werkstätten für behinderte Menschen

Neben den Werkstätten für behinderte Menschen muss es für nicht erwerbsfähige Menschen mit Behinderungen auch andere Arbeitsmöglichkeiten geben, die regulären Beschäftigungsverhältnissen möglichst ähnlich sind. Eine Möglichkeit stellen Integrationsbetriebe dar. Hierbei handelt es sich um staatlich geförderte Unternehmen, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenarbeiten.

Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes

Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention stellt eine gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe dar. Vor diesem Hintergrund sind auch Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes zukünftig stärker in die Verantwortung für die Entwicklung eines inklusiven Arbeitsmarktes einzubeziehen und aufgefordert, mehr Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen vorzuhalten. Dies gilt auch für Kirche und Diakonie, die in besonderer Weise verpflichtet sind, die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention auch in den eigenen Reihen umzusetzen.

Tanzassistentin in Kindertagesstätte, Schule und Seniorenheim

Laura Brückmann ist eine junge charmante Frau im Alter von 22 Jahren. Sie hat Trisomie 21. Doch ihr Arbeitsplatz ist nicht die Werkstatt für behinderte Menschen, sondern die Kindertagesstätte. Während ihrer Berufsorientierung hat sie zahlreiche Praktika absolviert, immer auf der Suche nach einem Beruf, der ihren besonderen tänzerischen, pädagogischen und therapeutischen Begabungen entspricht. Ihre zweijährige berufliche Qualifizierung zur »Tanzassistentin« an der Tanzschule Göppingen, an einer integrativen Grundschule und in einer Kindertagesstätte wurde ganz persönlich auf sie zugeschnitten und über ihr persönliches Budget finanziert. Mit hoher Arbeitszufriedenheit ist sie nun seit vier Jahren mit 50 Prozent an der Kindertagesstätte beschäftigt: »Liebe meine Kinder. Sind alle meine Herzblätter«, sagt sie immer wieder. Und die Erzieherin bestätigt: »Die Kinder lieben es, mit Laura zu tanzen, lernen viele unterschiedliche Tanzarten kennen und entwickeln so ihre persönlichen Ausdrucksweisen.« Seit kurzem hat sie auch einen Honorarvertrag als Lehrbeauftragte an der Gemeinschaftsschule in Bad Boll, engagiert sich im Seniorenheim und steht regelmäßig auf der Bühne [51].

Ausgleichsabgabe

In Deutschland sind öffentliche und private Arbeitgeber mit durchschnittlich mindestens 20 Arbeitsplätzen verpflichtet, mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen mit Behinderungen zu besetzen. Erfüllen sie diese Beschäftigungspflicht nicht, müssen sie eine gestaffelte Ausgleichsabgabe zahlen. Mit der Ausgleichsabgabe werden Projekte zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben von Menschen mit Behinderungen finanziert. Die privaten Arbeitgeber wiesen im Jahr 2010 eine Beschäftigungsquote von nur 4 Prozent auf, die öffentlichen Arbeitgeber 6,3 Prozent. Fast ein Drittel (31 Prozent) der Arbeitgeber hat keine bzw. weniger als ein Prozent Beschäftigte mit einer Schwerbehinderung [52]. Vor diesem Hintergrund wird von manchen Akteuren eine Erhöhung der Ausgleichsabgabe gefordert.

Arbeit und Teilhabe am Gemeinschaftsleben im Ruhestand

Der Übergang von der Arbeit in die Rente ist für viele Menschen mit Freude verbunden; gleichwohl stellt diese neue Lebensphase häufig auch eine Herausforderung dar. Dieses gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Menschen mit und ohne Behinderung sollten die Möglichkeit und das Recht haben, ihren Ruhestand entsprechend den jeweiligen Vorstellungen und Wünsche selbstbestimmt zu gestalten. Zwar enden die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für nicht erwerbsfähige Menschen mit Eintritt in das gesetzliche Rentenalter. Danach besteht jedoch ein Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (SGB XII). Diese sind altersunabhängig und entsprechend des individuellen Bedarfs zu gewähren. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Zahl älter werdender Menschen mit Behinderungen ist es wichtig, entsprechende Angebote zu entwickeln und zu etablieren [53].

Handlungsperspektiven im Kontext Arbeit

  • Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf Zugang zu bezahlter Arbeit. Die politischen Voraussetzungen müssen dafür geschaffen werden, dass der Zugang zu bezahlter Arbeit durch die Schaffung von Nachteilsausgleichen sowie ggf. notwendige Anreize ermöglicht wird.
  • Es müssen die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, dass Menschen mit Behinderungen sich ihre Arbeit selbst aussuchen können. In der öffentlichen Verwaltung, aber auch in Kirche und Diakonie können innovative Projekte initiiert werden, um Menschen mit Behinderungen einen Arbeitsplatz zu ermöglichen.
  • Betriebe des ersten Arbeitsmarktes müssen darin geschult werden, in ihrem Umfeld nach passgenauen Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderungen zu suchen. Hierfür stehen diverse Unterstützungsmöglichkeiten der Integrationsämter zur Verfügung.

    • Die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen im Arbeitsleben durch entsprechende Assistenz darf nicht eine zu leistende monetäre Aufgabe der Menschen mit Behinderungen selbst sein.

4.5 Gesundheit

Recht auf gute gesundheitliche Versorgung

Nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention stehen nicht nur Medizin und Pflege, sondern auch die Angebote der Rehabilitation vor neuen Herausforderungen. Alle Menschen haben das Recht, gesundheitlich gut und ihren Bedürfnissen entsprechend versorgt zu werden. Tatsächlich geht es aber um mehr als um eine gute, professionelle Versorgung durch das Gesundheitssystem. Es geht um Teilhabemöglichkeiten, die alle Bürgerinnen und Bürger dabei unterstützen, für ihre eigene Gesundheit Sorge zu tragen. Dazu braucht es in erster Linie mehr wohnortnahe, niedrigschwellige Angebote der Gesundheitsversorgung, Prävention, Rehabilitation und Pflege, ergänzt durch Spezialangebote für besondere Bedarfslagen von Menschen mit Behinderungen. Zwischen den verschiedenen Leistungsträgern und -erbringern sind deshalb die Bedingungen und Anreize für verbindliche sozialraumorientierte Kooperationsnetzwerke für die effektive und bedarfsdeckende Versorgung von Menschen mit Behinderungen kontinuierlich weiterzuentwickeln. »Dazu müssen die Leistungsträger, Leistungserbringer und Professionen des Gesundheitswesens miteinander und mit den Selbsthilfe- und Angehörigengruppen der behinderten Menschen zusammenarbeiten«, betont bereits die Denkschrift des Rates der EKD zu den aktuellen Herausforderungen der Gesundheitspolitik von 2011 [54].Die hohe Ausdifferenzierung des Sozial- und Gesundheitssystems in Deutschland führt allerdings dazu, dass die Verzahnung zwischen den einzelnen Angeboten häufig nicht reibungslos funktioniert und dass Menschen mit ähnlichen Bedarfen, je nach Zuordnung, inhaltlich wie qualitativ unterschiedliche Angebote erhalten.

Passgenaue individuelle Zugänge

Alle Menschen benötigen einen geeigneten Zugang zum Gesundheitssystem, das entsprechend gestaltet werden muss. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention haben sich die Vertragsstaaten verpflichtet, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in der Krankenversicherung zu verbieten. Damit sind insbesondere die Zugangs- und Versicherungsbedingungen, einschließlich der Zusatzversicherung, angesprochen. Der behinderungsbedingte Mehraufwand der Leistungserbringer muss durch auskömmliche Finanzierung ausgeglichen, die überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Belastungen der Menschen mit Behinderungen begrenzt werden. In Arztpraxen und Krankenhäusern müssen Bedingungen geschaffen werden, damit Menschen mit Behinderungen adäquat behandelt werden können und die Behandlung auch den Bedürfnissen von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf und schwer psychisch Kranken gerecht wird. Die notwendige Assistenz hierfür ist dringend bereitzustellen, denn sie übernimmt nicht nur die spezifisch auf die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen ausgerichtete Unterstützung bei der Pflege, die unter den Krankenhausbedingungen besondere Bedeutung hat. Die den Menschen vertrauten Assistentinnen und Assistenten sind zudem Garanten für die weitgehende Selbstbestimmung der jeweiligen Patienten. Dieses hat insofern eine besondere Relevanz, als das vorhandene Pflegepersonal in den Krankenhäusern fachlich, aber auch personell meist nicht dazu in der Lage ist, diese wesentliche Aufgabe zu übernehmen. Dazu ist es dringend notwendig, die Finanzierung dieser Assistenzen während des Krankenhausaufenthaltes zu sichern. Die Themen Behinderung, Barrierefreiheit, Selbstbestimmung usw. müssen in den Aus-, Weiter- und Fortbildungen aller Gesundheitsberufe nachhaltig präsent sein. Dazu gehört allerdings auch eine hinreichende Kenntnis der Krankheitsbilder, -symptome und -verläufe etwa bei Menschen mit einer geistigen oder mehrfachen Behinderung. In Arztpraxen und medizinischen Versorgungszentren ist zudem die Barrierefreiheit herzustellen ebenso wie barrierefreies Mobiliar zur Behandlung vorzuhalten.

Frühzeitige Förderungen nutzen

Alle Menschen benötigen bei der gesundheitlichen Versorgung eine individuell angemessene Unterstützung. Die Frühförderung behinderter oder von Behinderung bedrohter

Kinder sollte endlich als interdisziplinäre trägerübergreifende Komplexleistung umgesetzt werden, denn hier zeigt sich in besonderem Maße, dass eine frühe Begleitung und Förderung einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, dass ein Mensch mit Behinderungen seine eigenen Möglichkeiten nutzen, sich weiterentwickeln und dabei zunehmend auf Assistenz durch andere verzichten kann. Die mobile Rehabilitation als neue Form der Teilhabesicherung muss auch aus diesem Grunde wirksam und nötigenfalls gegen Widerstände beim Reha-Träger durchgesetzt werden. Analog zu den bewährten Sozialpädiatrischen Zentren sind unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten interdisziplinär besetzte, ambulante medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderungen zu schaffen.

Würdevoll pflegen

Für den Übergang in eine Pflegeeinrichtung gilt, dass insbesondere Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen in besonderer Weise Unterstützung und Assistenz benötigen, um in den Pflegeeinrichtungen zu ihrem Recht zu kommen und auf Augenhöhe mit anderen Bewohnern zu sein. Deshalb benötigen Pflegeeinrichtungen geschultes Fachpersonal, das die besonderen Bedürfnisse dieser Menschen erkennt und fördert. Eine Eingliederung in das Leben in der Gesellschaft hört mit dem Einzug in eine Pflegeeinrichtung nicht auf, sondern bleibt auch hier eine tägliche Herausforderung, die immer neu zu bewerkstelligen ist. Dabei gilt allerdings auch, dass alle Pflegeeinrichtungen grundsätzlich allen Menschen offen stehen sollten. Separierende Pflegeeinrichtungen etwa für Menschen mit bestimmten Behinderungen sollten vermieden werden und tragen zu keinem Zeitpunkt zur Inklusion bei.

Dabei stehen allerdings die bestehenden Schnittstellenprobleme zwischen der Sozialen Pflegeversicherung und der Eingliederungshilfe einem Konzept im Weg, das Hilfe zur Pflege mit einer selbständigen Lebensführung verbindet, da die Pflegeversicherung in ihrem Leitbild das Ziel der Befähigung der Leistungsempfänger zur Teilhabe an der Gesellschaft nicht kennt und das übergreifende Recht von Menschen mit Behinderungen bislang nicht beachtet. Gravierende Abstimmungsprobleme treten deshalb z. B. bei der Inanspruchnahme des persönlichen Budgets auf. Tatsächlich besteht hier politischer Handlungsbedarf, wenn es zwischen den Kommunen, die für Eingliederungshilfe zuständig sind, und der Sozialen Pflegeversicherung nicht zu lediglich finanziell motivierten Arrangements auf dem Rücken der Betroffenen kommen soll. Stattdessen ist strategisch darüber nachzudenken, wie mehr Selbstbestimmungs- und Teilhaberechte in der Pflege aller älteren Menschen zum Tragen kommen können.

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