Es ist normal, verschieden zu sein

Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD, Januar 2015

Einleitung

»Es ist normal, verschieden zu sein«. [1] Mit dieser Schrift möchte die evangelische Kirche im Blick auf den grundlegenden Wandel im gesellschaftlichen Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen Orientierung geben. Denn die Herausforderungen für kirchliches und gesellschaftliches Handeln auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft sind groß. Die evangelische Kirche leistet damit auch einen Beitrag zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, kurz: UN-BRK). Dabei werden folgende Ziele verfolgt:

  • Es soll der mit dem Begriff »Inklusion« beschriebene Paradigmenwechsel für Gemeindearbeit, Diakonie, Gesellschaft und Bildung im kirchlichen wie im außerkirchlichen Kontext beschrieben und nachvollziehbar gemacht werden.
  • Die biblischen Grundlagen von Inklusion und die diakonischen Traditionen werden erläutert und auf die modernen menschenrechtlichen Grundlagen bezogen, um eine Vision für kirchliches bzw. evangelisch motiviertes Handeln zu erarbeiten.
  • Für die nötige Bewusstseinsbildung (Art. 8 UN-BRK) in Gemeinde, Diakonie und kirchlichen Bildungsangeboten soll eine Orientierung gegeben werden. Dazu werden grundlegende Überlegungen angestellt und einige Hinweise auf gelungene Praxis sowie konkrete Vorschläge zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention gegeben.
  • Vorfindliche Grenzen von Inklusion werden benannt, bestehende Hindernisse identifiziert und Wege aufgezeigt, wie diese Grenzen verschoben werden können und in welcher Form Inklusion schrittweise umzusetzen ist. Dabei zieht sich die Unterscheidung zwischen dem, was mit verantwortlichem und mutigem Handeln verändert werden kann, und der über das Machbare hinausgehenden Vision, die dem gesellschaftlichen und politischen Handeln Richtung gibt, durch alle Handlungsfelder.

Um eine solche Zielrichtung zu entwickeln, bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Diskussion. Es geht darum, einen Impuls zu setzen, der durchaus auch Widerspruch hervorrufen kann und vielleicht auch muss. Die evangelische Kirche möchte an die Aufgabe erinnern, mit der gesellschaftlichen Partizipation für alle ernst zu machen. Im Aufbrechen von Normalitätsvorstellungen liegen bisher unentdeckte Potenziale und es gilt, sich mit den damit verbundenen Herausforderungen, Hindernissen und Hürden kritisch auseinanderzusetzen. Es ist der Kirche ein wichtiges Anliegen, dem Recht auf Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen Ausdruck zu verleihen und an der Umsetzung der menschenrechtlichen Leitnormen der UN-Behindertenrechtskonvention mitzuwirken.

Die vorliegende Orientierungshilfe wendet sich an alle, die in Kirche und Diakonie tätig sind und für kirchliches Handeln Verantwortung tragen, sei es als beruflich oder als ehrenamtlich Engagierte. Inklusion ist eine gesellschaftliche Querschnittsaufgabe und betrifft daher die ganze Gesellschaft und nicht nur Einrichtungen und Dienste für Menschen mit Behinderungen. Bedeutung hat das Thema insbesondere für Bildung, Ausbildung und alle, die als Arbeitgeber in Verantwortung stehen, aber auch für Wohnquartiere und Freizeiteinrichtungen. Ebenso stellt es für Kirchengemeinden mit ihrem Auftrag, »die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk« (Barmer Theologische Erklärung VI), eine chancenreiche Herausforderung dar.

Über die kirchlichen Strukturen hinaus will die Orientierungshilfe Menschen, die in Politik und Gesellschaft Verantwortung tragen, insbesondere Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen, Nachbarn, Freunde und Kollegen bei ihrem Einsatz für die Verwirklichung von Inklusion unterstützen, der häufig noch auf vielfältige Widerstände trifft. Diejenigen, die noch zögern, sollen ermutigt werden, sich für die anstehenden Veränderungen zu engagieren.

In der Orientierungshilfe werden neben eigenen Akzenten auch bereits vorliegende Texte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aufgenommen, in denen sie sich schon einmal zu einem Teilaspekt von Inklusion geäußert hat. Die Denkschrift zur Armut in Deutschland »Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität« [2] von 2006 fordert nachdrücklich eine gesellschaftliche Entwicklung hin zu besseren Teilhabemöglichkeiten der Menschen in unserer Gesellschaft, die ökonomisch immer stärker an den Rand gedrückt werden, und zeigt Wege aus der Armut auf. In dieser Schrift wie auch in der Orientierungshilfe des Rates der EKD »Im Alter neu werden können. Evangelische Perspektiven für Individuum, Gesellschaft und Kirche« [3] von 2009 wird ein weiter Inklusionsbegriff erkennbar. Dabei werden die schöpferischen Potenziale des Alters genauso deutlich wie die Verletzlichkeit dieser Lebensphase. Neben den theologischen Perspektiven für Verkündigung und Seelsorge im Alter werden Konturen einer »Gesellschaft für alle Lebensalter« ebenso umrissen wie die Herausforderungen für kirchliche Bildungsangebote, Engagementpolitik und Pflege. In der Denkschrift des Rates der EKD »>Und unsern kranken Nachbarn auch!< Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik« [4] von 2011 wird bereits auf den durch die UN-Behindertenrechtskonvention gegebenen Paradigmenwechsel für die Gesundheitssysteme hingewiesen; besonders thematisiert werden dabei die veränderte Perspektive auf Rehabilitationsleistungen, die Forderung nach der Finanzierung von Assistenzbedarfen und Fragen der Krankenversicherung. Auch die Orientierungshilfe »Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken« [5] vom Juni 2013 verdeutlicht, welche Unterstützung armutsgefährdete Familien und Familien mit hohem Pflegeaufwand brauchen. Denn es sind vor allem Familien, die den Aufwand für Pflege und Sorge tragen.

In der Orientierungshilfe »Kirche und Bildung. Herausforderungen, Grundsätze und Perspektiven evangelischer Bildungsverantwortung und kirchlichen Bildungshandelns« [6] hat sich der Rat der EKD 2009 für mehr Förderungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche als Beitrag zur Befähigungs- und Teilhabegerechtigkeit eingesetzt. Das korrespondiert mit der Kundgebung der Synode der EKD von 2010, die unter der Überschrift »Niemand darf verloren gehen! – Evangelisches Plädoyer für mehr Bildungsgerechtigkeit« beklagt, dass »in den Bildungseinrichtungen eine eher exklusive statt inklusive Bildung und Erziehung« vorherrscht, »welche die staatliche Verpflichtung im Sinne der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht hinreichend berücksichtigt«, und »umfassende Neuansätze für eine inklusive Bildung von der Kindertageseinrichtung bis zur Schule für Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf« fordert.

Die Vielfalt der genannten Texte verdeutlicht den Umfang und die Wechselbeziehungen, die sich mit dem Wunsch und dem Anspruch verbinden, Inklusion zu leben. Nur in der Zusammenführung der unterschiedlichen Aufgaben und Handlungsfelder kann es gelingen, Kirche und Gesellschaft inklusiv zu gestalten. Dazu will die vorliegende Orientierungshilfe beitragen.

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