Gute Schule aus evangelischer Sicht

Impulse für das Leben, Lehren und Lernen in der Schule, EKD-Text 127, Hrg. EKD, April 2016, ISBN: 978-3-87843-043-8

5. Die Schule achtet auf Zeit

Die Schule ist eine zeiteffiziente Institution. Sie schafft schnelle und zielgerichtete Zugänge zu kulturellen Errungenschaften. Diese haben sich über mühsames Problemlösen, über Differenzerfahrungen, durch Begegnung und Aushandlung sowie über häufiges Scheitern und gemeinsames Lernen von Generationen entwickelt. Die Schule hilft, sich in relativ kurzer Zeit Wissen und ein Verständnis von Welt anzueignen, ohne unzählige Irrwege zu gehen, zu scheitern oder persönlich in Gefahr zu geraten. Im Lernen von Kultur eignen sich Schülerin nen und Schüler Wissensbestände und Kompetenzen an, die sie selbst nicht in einem Leben entwickeln könnten. Durch den systematischen Zugang zu Kultur und die Konzentration auf den Lernprozess wird gegenüber informellem Lernen Zeit gespart, denn es muss nicht gewartet wer den, bis ein Thema im Lebensvollzug erscheint. In diesem Sinne ist die Schule eine Institution, die durch die Art, wie sie Lernen organisiert, effizient arbeitet und gewissermaßen Lebenszeit für eigene Problemlösungsversuche bereitstellt.

"Für Bildung ist das Wechselspiel zwischen persönlicher Bildungsgeschichte und Lebensgeschichte charakteristisch. [...] Eine Bildung, die dem Einzelnen Zeit lässt, sich zu entwickeln, ist eine sinnvolle Investition in die Zukunft des Menschen und der Gesellschaft." [3]

Diese strukturelle Effizienz darf jedoch nicht über zwei mit ihr unmittelbar in Verbindung stehende Folgen hinweg täuschen. Zum einen wird diese strukturelle Zeitersparnis durch individuell erfahrene Zeitverschwendung erkauft. Der effiziente Gang des Unterrichts führt nicht selten zu Langeweile, Sinnlosigkeitsgefühlen und Desinteresse. Für die Lehrkräfte ist es eine zentrale didaktische Herausforderung, durch die Organisation des Unterrichts und des Schulablaufs Langeweile zu vermeiden und die beschriebene Effizienz durch Spielraum für die Interessen und Fragen der jeweils individuell Lernenden und durch passgenaue Angebote auszubalancieren.

Zum anderen resultiert die Wirksamkeit der Schule gerade nicht aus einem Unterricht, der ständig Zeitdruck schafft und Schülerinnen und Schülern große Stoffmengen auflädt. Lernen benötigt Zeit, Gründlichkeit, Anstrengung, aber auch Muße und Verweilen. Die Schule lässt Heran wachsende erfahren, wie Erkenntnisse mühsam und systematisch gewonnen werden, und bietet Gelegenheiten, diese Prozesse exemplarisch nachzuempfinden. Schulisches Lernen vermittelt eine solide Grundbildung, damit sich das weitere Lernen nach der Schulzeit sinnvoll anschließen kann. Dafür brauchen Kinder und Jugendliche unterschiedlich viel Zeit. Die Schule gibt Zeit, um Grundkonzepte der Wissensgenerierung und Herangehensweisen an Probleme wirklich zu verstehen. Sie verwendet Zeit darauf, Jugendlichen die Ausbildung eigener Interessen und Schwerpunktsetzungen zu ermöglichen. Sie gewährt Zeit, sich mit vielfältigen lebensbedeutsamen Themen und Problemen auseinander zusetzen und sie zu durchdringen. Sie bietet Zeit für soziales Lernen und die Erschließung gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse. Angesichts der Entwicklung zur Wissensgesellschaft und eines enormen Wachstums an Wissen reserviert die Schule mehr Zeit denn je, um die Auswahl und Strukturierung von Informationen und deren kritische Beurteilung zu erlernen.

Schule steht in einer Zeitverantwortung. Sie darf - auch als Ganztags schule - mit ihrer zeitlichen Beanspruchung nicht maßlos werden, denn Heranwachsende benötigen ebenso Zeit für ein nicht durch die Schule geprägtes Leben. Die Zeit für die Schule und in der Schule findet ihre Begrenzung - im Leben eines Heranwachsenden müssen auch andere Dinge als die Schule vorkommen können. Die Schule kommuniziert ihre Zeitbegrenzung klar, z. B. im Hinblick auf die zu erwartende Arbeitszeit für Hausaufgaben und Prüfungsvorbereitung. Sie respektiert, dass das Arbeitsbudget eines Jugendlichen unter dem erwachsener berufstätiger Personen liegt. Schulorganisatorisch wird darauf geachtet, dass Schule möglichst wohnortnah gelegen ist und die Wegstrecken altersangemessen gestaltet sind. Die Schule lässt Raum für eigene Interessen und die Erholung.

Ganztagsangebote nehmen eine familienergänzende Funktion wahr und müssen auf die zeitlichen Belastungen beispielsweise von berufstätigen Müttern und Vätern eingestellt sein. […] Je weiter sich Schule zeitlich ausdehnt, desto größer wird auch ihre Verantwortung für eine umfassende Persönlichkeitsbildung." [8]

Eine gute Schule zeigt sich also in der zeitsensiblen Austarierung der systemisch ange legten effizienten Zeitnutzung einerseits und der individuellen Bedürfnisse nach erfüllter Zeit ohne Langeweile und mit Muße andererseits.

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