Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive

Ein Grundlagentext des Rates der EKD. Hg. Gütersloher Verlagshaus 2015, ISBN 978-3-579-05978-5

I. Einleitung: Das Zusammenleben mit Angehörigen anderer Religionen und Weltanschauungen als theologische Aufgabe und praktische Herausforderung

Vielfalt als Normalität: Herausforderungen und Chancen

Die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen ist zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Zuwanderung, »Entkirchlichung« und vielfältige Formen individueller Selbstentfaltung führen zu einer religiösen Pluralität, die inzwischen weithin als Normalfall unser Leben bestimmt und prägt.

Für Christinnen und Christen sind die damit verbundenen Veränderungen Herausforderung und Chance zugleich. Herausforderung, weil wir in unserem eigenen Leben und in unserer Kirche in vielfältiger Weise Position beziehen müssen: Partner, Freunde, Kollegen, Patienten oder Kunden sind anders oder gar nicht religiös gebunden — wie kann das Zusammenleben gelingen, ohne dass unser Glaube seine Wahrhaftigkeit und seinen zentralen Platz in der Mitte unseres Lebens verliert? Herausforderung auch, weil wir für uns und für jedermann die Verbindung von Freiheit und Glaube verteidigen müssen, wo sie von anderen mit religiöser Begründung angegriffen wird. Zugleich sind die neuen Verhältnisse eine Chance, weil wir uns im Zusammenleben mit Angehörigen anderer Religionen unserem eigenen Glauben und unseren Traditionen neu stellen können. Und auch deshalb eine Chance, weil wir uns in das religiöse und gesellschaftliche Gespräch einbringen und in der Begegnung mit anderen bereichert werden können.

Der Umgang mit religiöser Vielfalt ist deshalb eine zentrale Aufgabe für die evangelische Theologie und die evangelische Kirche in unserer Zeit: Ist ein echter, positiver Pluralismus der Religionen möglich, der keine Relativierung des eigenen Glaubens an den dreieinigen Gott voraussetzt? Oder ist religiöse Vielfalt für Christenmenschen doch immer nur mit einem letzten Vorbehalt hinzunehmen, als weltliche Friedensregel, aber nicht als »gute Ordnung«?

Theologie - Recht - Handlungsfelder

Der nachfolgende Text will eine evangelische Perspektive zur Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen eröffnen. Er knüpft an den von der Kammer vorgelegten Text »Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen« (EKD-Texte 77, 2003) an und schreibt ihn fort. Die Selbstverständlichkeit der religiösen Vielfalt hat seit dieser Veröffentlichung nochmals deutlich zugenommen — und es stellen sich im Recht wie in den praktischen Lebensfeldern neue, größere und dringlichere Aufgaben als in zurückliegenden Dekaden. Die Präsenz der evangelischen Kirche in der pluralistischen Bürgergesellschaft hängt davon ab, dass Theologie, staatliches wie kirchliches Recht und die praktische Kirchenordnung zum Umgang mit der Vielfalt der Religionen konsistente, nicht nur pragmatisch orientierte Antworten finden.

Hierzu soll der Text beitragen und Orientierung bieten. Er setzt dabei in vierfacher Weise an, indem er theologische Grundlagen klärt, die Bedeutung der Religionsfreiheit für die Situation einer pluralistisch-internationalisierten Rechtsgemeinschaft rekonstruiert, ausgewählte Handlungsfelder praktischer Bewährung vorstellt und abschließend zu einzelnen religionstheologischen Fragen Stellung nimmt:

Religiöse Vielfalt kann in neuer, vertiefter Weise als eine dem evangelischen Glauben gemäße Grundlage für die Begegnung der Religionen angenommen werden (II.). Denn die Pluralität der Religionen bekräftigt die evangelische Einsicht in die vielfältige Zuwendung Gottes zu den Menschen: Die Existenz anderer Formen religiöser Gewissheit bildet das Gegenstück zur Freiheit des Glaubens, aus dem Christinnen und Christen leben. Diese Überzeugung soll im Folgenden im Einzelnen entfaltet werden — und dabei gilt es zugleich, Vorstellungen entgegenzutreten, die Unterschiede zwischen den Religionen marginalisie- ren und in eine ungreifbare Gemeinsamkeit aufheben wollen. Die Offenheit für die Partnerschaft mit anderen Religionen ist kein Bekenntnis zur Beliebigkeit — im Gegenteil. Ein positives Verständnis religiöser Vielfalt zielt letztlich auf eine Stärkung evangelischer Identität, die sich im Dialog und nicht in der Abkapselung entwickelt.

Der Text bezieht in erneuerter Weise Stellung zum rechtlichen Status der Religionsfreiheit (III.). Die Regelungen des staatlichen und internationalen Rechts sind in diesem Feld inzwischen in vielfältiger Weise miteinander verbunden und haben zu neuen Fragestellungen geführt. Als Christinnen und Christen bejahen wir, dass anderen Religionen die gleichen Rechte der Glaubensfreiheit zukommen. Wir wollen unseren Beitrag zu einer offenen Bürgergesellschaft leisten, nicht zuletzt als Dienstgeber. Wir treten auch in der Europäischen Union und darüber hinaus für das religionsfreundliche Modell des deutschen Verfassungsrechts ein, in dem das öffentliche Wirken der Religionen in vielfältiger Weise gesichert ist; dieses Modell bewährt sich als Freiheitsordnung des Pluralismus, weil es Religion in den öffentlichen Raum holt und so zu wechselseitiger Verantwortung einlädt und anhält. Zugleich muss der Schutz der Religionsfreiheit neu gesichert werden. Der Verfolgung von Christinnen und Christen in vielen Regionen der Welt treten wir mit Entschiedenheit entgegen. Und wo die religiöse Freiheit des Einzelnen auch in unserem Land bedroht ist oder Religion zum Vorwand wird, Menschen an einem selbstbestimmten Leben zu hindern, treten wir an die Seite der Bedrängten. Der Einsatz für Religionsfreiheit ist so in vielfältiger Weise voraussetzungsvoller und spannungsreicher als in der geschlossen-homogenen Situation der alten Volkskirche.

Der Text legt Positionen zu ausgewählten Handlungsfeldern vor, die Christinnen und Christen in besonderer Weise berühren und in denen sich der Schutz religiöser Vielfalt als Grundlage einer Friedensordnung bewähren muss (IV.). Als Grundregel für die Begegnung mit anderen Religionen befürworten wir statt vorgegebener Verbote und absoluter Grenzen Verfahren der Abstimmung und der Rückversicherung, um über konkrete Anliegen verantwortungsvoll entscheiden zu können. In diesem Sinn nimmt der Text Stellung zum Umgang mit Religionsverschiedenheiten in Ehe und Familie, zu Bedingungen für gemeinsame Gebetsformen, zum Missionsauftrag und der Arbeit der Diakonie unter den Bedingungen des Pluralismus.

Die hier formulierten Überlegungen weisen auf die Fragen einer » Theologie der Religionen« (V.). Abschließend werden daher nochmals Grundlinien entwickelt, wie die positive Annahme religiöser Pluralität mit Unterscheidbarkeit und Verschiedenheit auf Dauer vereinbar gestellt werden können. Der Gottesglaube von Juden, Christen und Muslimen, die Frage nach einer allen Religionen gemeinsamen transzendenten Realität, aber auch das in vielfältiger Weise besondere Verhältnis zwischen Juden und Christen und die Nachbarschaft zum Islam dienen dafür als Referenzpunkte.

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