Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive

Ein Grundlagentext des Rates der EKD. Hg. Gütersloher Verlagshaus 2015, ISBN 978-3-579-05978-5

V. Fragen der Religionstheologie

Beziehen sich alle Religionen auf dieselbe transzendente Realität?

Der Gedanke, alle Religionen seien mit derselben transzendenten göttlichen Realität vertraut, jede dieser Religionen entwerfe aber ein perspektivisches, einseitiges und daher bloß subjektives Bild, wirbt scheinbar für Gleichberechtigung. Er setzt aber stillschweigend voraus, dass man auch unabhängig von allen Religionen Gott kennen kann, um dann von solcher Realität zu sagen, sie sei diejenige, die alle »Gott« nennen, die aber jede auf andere Weise verfehlt und entstellt. Der Charme dieses Vergleichsangebotes ist durch einen klammheimlichen Überbietungsanspruch gegenüber den historischen Religionen erkauft. Insofern gilt aber: »Niemand hat Gott je gesehen« (vgl. Joh 1,18) — darum hat auch niemand den Überblick eines unabhängigen Schiedsrichters, der zwischen den Religionen vermittelnd jeder ihr partielles Recht zuweisen könnte.

Die Bedeutung des interreligiösen Dialogs gründet unserer Auffassung nach gerade in dem Umstand, dass man ihn nicht aus der Perspektive des einzig richtigen Gottesverständnisses moderieren kann. Die Anerkennung, die das Recht allen Religionen gewährt und die sie auch einander zubilligen, konstituiert die pluralistische Religionskultur des Verfassungsstaates, egalisiert aber nicht ihr jeweiliges Selbstverständnis. Die rechtliche Anerkennung kann eine Gleichschaltung der Heilswege nicht erzwingen und ihnen auch nicht den Minimalismus des kleinsten gemeinsamen Nenners abverlangen.

Aber könnte nicht jede Religion einräumen, dass auch sie selbst nur über eine partielle Gotteserkenntnis verfügt und also so viel (und zugleich so wenig) von Gott zu erfassen vermag wie alle anderen? Und sollte dann nicht jeder Mensch aus dem Angebot der Religionen immer gerade das auswählen, was ihm selbst als die beste Annäherung an Gott erscheint?

Das Recht der ersten Frage liegt darin, dass in einer pluralistischen Gesellschaft die kritische Selbstprüfung des eigenen Standpunktes eine in der Tat unverzichtbare Tugend ist. Die Partikularität des eigenen Standpunktes muss entdeckt werden und in die Bildung der eigenen Identität einbezogen werden. Aber das ist etwas anderes als ein Verzicht auf den eigenen Standort oder dessen Ersetzung durch einen »Blick von nirgendwo«. Man darf sich dieses Problem an einem in den Verständigungsbemühungen der Religionen oft zitierten Bild klarmachen: dem Bild vom Elefanten, der von Blinden aus verschiedenen Standorten jeweils an einem Körperteil ertastet wird, sodass diese in einen Streit über ihre Vorstellungen ausbrechen: Der eine kennt nur den Rüssel, der andere nur ein Ohr, ein Dritter allein den Schwanz. Artikuliert wird mit diesem Bild der Wunsch, die einzelnen Religionen mögen sich auf die Nichtwidersprüchlichkeit ihrer unterschiedlichen Wahrnehmungen aufgrund der Einheit der Realität und zugunsten des Friedens verständigen. Doch das Bild funktioniert nur, weil es gleichzeitig auf zwei Ebenen operiert: den Standpunkten der Einzelnen, die relativ sind, und dem Standpunkt des Erzählers (und derer, die er überzeugen will). Aus dieser letzten Perspektive weiß man immer schon, was ein Elefant ist, wie Teil und Ganzes zusammengehören und auch, dass das Ganze immer größer als die Summe seiner Teile ist. Weil ein solch überlegener Standpunkt im Dialog der Religionen nicht zur Verfügung steht, bleibt das vielzitierte Bild eine bloße Suggestion, ohne weiterzuhelfen.

Was die zweite Frage angeht, so zeichnet es die pluralistische Religionskultur aus, dass die Individuen ihre eigene Überzeugung bilden und dabei zu Patchwork-Religiosität neigen. Doch solche individuelle Religion lebt von den konkreten Gestalten öffentlicher Religionsgemeinschaften, die nicht alles Mögliche zugleich, sondern etwas Bestimmtes wirklich glauben und vertreten. Ohne prägnante Gestalten, wie sie das evangelische Christentum (aber eben auch die anderen Konfessionen und Religionen) darstellt, verläuft sich auch die religiöse Bastelbiographie ins Unbestimmte.

Der von der Rechtsordnung gebotenen und von der Kirche wahrgenommenen Verpflichtung, den religiösen Pluralismus anzunehmen und zu stärken, ist daher mit Suggestionen abstrakter Einheit nicht gedient.

Eine klassische Frage: Glauben Juden, Christen und Muslime an denselben Gott?

Judentum, Christentum und Islam ist es gemeinsam, dass sie sich zu einem einzigen Gott bekennen. Auch dass sie dieses Bekenntnis als Antwort auf eine Offenbarung verstehen, die sich kritisch gegen alle menschliche Gottesvorstellungen und -bilder abgrenzt, gehört zu diesem Monotheismus. Es gibt demnach nur einen Gott, der der Schöpfer aller Menschen ist und ihnen dieselbe Würde verleiht. Sein Wille verpflichtet sie auf das Tun des Guten und seine erfahrbare Gegenwart erlöst und befreit sie zu einem Leben im Frieden. In diesem Glauben an den einen und einzigen Gott zeigt sich eine Zusammengehörigkeit dieser drei Religionsfamilien mit ihren unterschiedlichen Strömungen, die wiederum in besonderer Nachbarschaft zu dem bereits in der griechischen Antike ausgebildeten philosophischen Monotheismus steht.

Auch führen alle drei Religionen ihr Selbstverständnis auf jeweils unterschiedliche Weise und mit anderen Konsequenzen auf Abraham zurück. Dabei ist für das Judentum Abraham der Stammvater des jüdischen Volkes, das im Bund der Beschneidung von Gott ausgesondert und durch Mose auf den Bund der Tora verpflichtet wurde. Das Gesetz Gottes halten zu dürfen, das ist die Gnade der Erwählung, die das Judentum in seinen Festen feiert und die in das Leben der jüdischen Gemeinde ausstrahlt. Im Christentum wird derselbe Abraham seit Paulus anders verstanden: als Vater des Glaubens, der sich dem Wort der Verheißung anvertraut und der darum für den Anfang steht, den Gott auch dem unbeschnittenen Menschen, also nicht nur den Juden, sondern auch den Heiden, im Glauben schenkt. Für den Islam ist Abraham der Freund Gottes, der sich als Erster zur Anbetung des wahren Gottes bekehrt und sich von allen Götzen seiner heidnischen Herkunftsreligion abgewendet hat. Der Sohn, der ihm verheißen wurde, ist nicht Saras Sohn Isaak (wie für das Juden- und Christentum), sondern Ismael, der erstgeborene Sohn der Magd. Mit ihm zusammen begründet Abraham das »heilige Haus Gottes«, die Kaaba, an der sich die fromme Unterwerfung unter Gott alltäglich ausrichtet.

Obwohl sich alle drei Religionen auf denselben Abraham und einen gemeinsamen Kernbestand an Geschichten beziehen, steht Abraham jeweils für eine andere religiöse Grundüberzeugung, verkörpert er sozusagen einen je anderen Sinn des Glaubens an Gott. Schon im Blick auf Abraham gilt daher: Die drei monotheistischen Religionen unterscheiden sich in dem, was sie verbindet.

Entsprechendes gilt auch für das Verständnis Gottes, das ihr monotheistisches Bekenntnis je eigentümlich prägt. Am Christentum wird der Zusammenhang und die Differenz unmittelbar deutlich. Wenn das christliche Bekenntnis den Glauben an »Gott den Vater« (Erster Artikel des Credos) durch die Fortsetzung »und an Jesus Christus« (Zweiter Artikel) wesentlich charakterisiert, wird es im Horizont der monotheistischen Religionsfamilie sofort auffällig und setzt sich der Kritik aus, dem Monotheismus nicht zu entsprechen. Den Vorwurf, in einen Zwei- oder Drei-Götter-Glauben zurückzufallen, weist die christliche Theologie zurück, indem sie den Glauben an den trinitarischen Gott als christliche Form des Monotheismus präzisiert. Das kann hier nicht entfaltet werden, doch zeigt sich auch so, dass noch nicht einmal das gemeinsame Prädikat der »Einheit und Einzigkeit Gottes« unter den monotheistischen Religionen unstrittig ist. Darum bleibt die Auffassung, alle drei glaubten an denselben Gott, eine Abstraktion, die von allem absieht, worauf es in Judentum, Islam und Christentum konkret ankommt. Leere Abstraktionen helfen nicht weiter.

Es mag aus der Perspektive des christlichen Glaubens zunächst eine verlockende Auffassung sein, zu meinen, Judentum und Islam bezögen sich ebenfalls auf den wahren und einzigen Gott, nur hätten sie diesen (noch) nicht als Vater Jesu Christi identifiziert. Ein solches »im Grunde schon, aber letztlich noch nicht ganz« löst aber keines der Probleme, die sich im Dialog der Religionen stellen. Letzterer verlangt ja eine ernsthafte Anerkennung der Andersheit des anderen, die durch eine gutgemeinte Integration eher verhindert als vollzogen wird. Auch bedenkt ein solches hermeneutisches Angebot der nachsichtigen Unvollständigkeit der anderen nicht, dass aus der Perspektive von Judentum und Islam spiegelbildlich eine entsprechende Defizitdiagnose auf den christlichen Glauben zurückfällt. Im Grunde kann keine der drei Religionen mit dem Gedanken, die anderen beiden hielten sich bereits zum einzigen Gott, nur bleibe er diesen noch in wesentlichen Dimensionen verborgen, einen Plausibilitätsgewinn erzielen. Gewiss könnte sich jeder selbst die angemessene Gottesauffassung, den anderen aber bloß partielle Annäherungen bescheinigen — aber mit solchem Verfahren wird man keinen Dialog befördern.

Die Begegnung mit dem Islam

Im Islam begegnet uns das eindrückliche Faktum einer nachchristlichen Religion. In vielfältigen Motiven und Geschichten schließt der Koran an das Alte und das Neue Testament an und würdigt auch Jesus von Nazareth als herausragenden Propheten. Aber der Islam versteht sich selbst als Religion der gänzlichen Ergebenheit an den einen Gott, die auf Juden- und Christentum als unvollendete bzw. defizitäre Vorläufergestalten zurückschaut. Die Anerkennung und Gastfreundschaft, die Christen im Islam erfahren, verdankten sich der muslimischen Hochschätzung der prophetischen Linie, die ihren Abschluss in Mohammed findet. Dagegen verstehen die meisten Muslime den christlichen Glauben an den Gekreuzigten als Abfall vom reinen Monotheismus. Das trinitarische Verständnis der Erlösung des Menschen durch Gott und die in dieser Vorstellung vorausgesetzte Rede von der Menschwerdung Gottes werden von Muslimen selten anders wahrgenommen denn als Wiederholung des polytheistischen Grundfehlers, dem einen Gott weitere Gestalten »beizugesellen«.

Nähe und Distanz zum Islam ergeben sich also wiederum gemeinsam, aber unter anderen Voraussetzungen als im Verhältnis zum Judentum. So deutlich die Verwandtschaft beider Religionen in ihrer grundsätzlichen Orientierung an der Differenz von Schöpfer und Geschöpf, in ihrer Warnung vor der Vertauschung beider und in ihrem Protest gegen die Vergötzung der endlichen Kreatur ist, sosehr sie ein universaler Anspruch verbindet, der über die sittliche Relevanz der Frömmigkeit und ihre kulturelle Prägekraft mitentscheidet, so grundlegend getrennt sind sie zugleich, weil sie in der Gestalt des Koran und in Gestalt des Christus Jesus auf zwei heterogene Zentren bezogen bleiben.

Das zeigt sich in der Gotteslehre, die im Koran in den neunundneunzig Namen Gottes den Gläubigen dessen Barmherzigkeit, Gnade, Allmacht und Gerechtigkeit zusagt, die Verantwortung des Menschen vor Gott einschärft und davon spricht, dass im zukünftigen Gericht dem Frommen Heil gewährt und die Verwerflichen gerecht beurteilt und bestraft werden. Entsprechendes wurde auf die eine oder andere Weise auch im Christentum gesagt. Doch sind Verwandtschaft und Gemeinsamkeit dadurch bestimmt, dass Christinnen und Christen an die vollzogene Erlösung, an die bereits realisierte Versöhnung der Welt durch Gott selbst glauben. Genau das verleiht der Person Christi ihre zentrale Bedeutung für den christlichen Glauben.

Im Zusammenleben scheinen zwischen Christen und Muslimen jedoch andere Fragen im Vordergrund zu stehen: das Verhältnis von Religion und Recht, von Islam und Islamismus, aber auch die Konflikte zwischen Toleranz und Gewalt, traditioneller und moderner Lebensführung, Emanzipation und Unterdrückung, Frömmigkeit und Theokratie. Häufig wird angesichts dieser Probleme der Islam als Bedrohung der kulturellen Identität Europas erlebt.

Die evangelische Kirche nimmt ihre Verantwortung für das Gemeinwesen wahr, indem sie zunächst den Versuchen wehrt, die Muslime in unserem Land umstandslos nach Maßgabe der Erscheinungsformen des Islams in außereuropäischen Ländern zu beurteilen. Darum erinnert sie daran, was Europa dem Islam historisch verdankt, darum begrüßt sie die Entwicklung eines westlich geprägten Islams als Ausdruck der Inkulturation und Beheimatung bei uns. Sie widerspricht dem Eindruck, ihr eigenes Bekenntnis zu Jesus Christus lasse sich als religionsgeschichtlicher Rückfall hinter den Monotheismus darstellen, erinnert aber auch an die innere Bedrohung des Ein-Gott-Glaubens, der mit der Frage konfrontiert ist, ob und wie Abweichendes, Heterodoxes, anderes (und theologisch gesprochen: Feindschaft wider Gott) geschützt — oder gewaltsam der Macht des Einen unterworfen wird. Versöhnung bleibt für uns das oberste Wort unserer Religion, und wir verstehen diese als Geschenk, das Gott gerade dem Menschen gewährt, der sich vergeblich als sein Feind aufspielt. Die evangelische Kirche sucht das Gespräch mit dem Islam über die Grundlagen der Religion und der Ethik und geht davon aus, dass die Bedeutung der Theologie für die Öffentlichkeit einer pluralistischen Gesellschaft insbesondere dort erkennbar wird, wo der interreligiöse Dialog die Spielräume wechselseitiger Wahrnehmung und Aufmerksamkeit füreinander erweitert.

Insbesondere: das Verhältnis von Christen und Juden

Die evangelische Kirche kann ihr Verhältnis zum Judentum nicht ihren Beziehungen zu den anderen Religionen einfach zur Seite stellen oder es als besonderen Fall eines Allgemeinen diesem unterordnen. Zwar treffen alle bisher vorgestellten Grundsätze auch für dieses Verhältnis zu. Aber das primäre Phänomen ist an dieser Stelle nicht die faktische Pluralität der Religionen. Vielmehr stellt sich alles, was hier zu sagen ist, darum anders dar, weil es den christlichen Glauben ohne bleibende Verbundenheit mit der Geschichte des jüdischen Volkes gar nicht gäbe.

Das zeigt sich schon an der Heiligen Schrift. Die Kirche begreift die Hebräische Bibel nicht als Buch einer anderen Religion, sondern zählt deren Texte als Altes Testament zu den Voraussetzungen, ohne die auch das Neue Testament unverständlich werden würde. Sie hält also an einer gemeinsamen Grundlage fest, ergänzt diese aber um die vier Evangelien, die paulinischen und andere Briefe sowie weitere Texte und Textgattungen, von denen sich viele ihrerseits als Auslegung der jüdischen Tora, der Texte der Propheten oder der sogenannten Schriften (vor allem der Psalmen und des Hiobbuches) verstehen. Aus diesem Grunde kann die Kirche Gottes Wort nicht nur in den Texten des Neuen Testamentes hören wollen, weiß sie sich doch von diesem selbst aufgefordert, am Zusammenhang von Altem und Neuem Testament, von jüdischem und christlichem Kanon festzuhalten: »Ihr sucht in der Schrift, ... sie ist’s, die von mir zeugt«, sagt Jesus im Blick auf die Texte der Synagoge (Joh 5,39).

Doch verbindet sich ihr Schriftgebrauch heute (nach fast zweitausend Jahren christlicher Schriftauslegung) mit der Einsicht, dass es hermeneutisch unzureichend wäre, die ins Neue Testament eingegangenen Zitate des Alten Testamentes als Belegstellen eines eindeutigen Schriftbeweises in Anspruch nehmen zu wollen. Schon das Johannesevangelium verheimlicht seinen Lesern nicht, dass selbst Jesu Behauptung: »Mose hat von mir geschrieben« (5,46b) den gelehrtesten Lesern des jüdischen Volkes nicht einleuchten wollte (5,46a und 47). Unstrittig wird man das Zeugnis der Schrift also nicht nennen können. Doch selbst wo das Neue Testament den Dissens zwischen Juden und Christen, zwischen Synagoge und Gemeinde festhält, bedient es sich hermeneutischer Mittel, die aus dem Judentum stammen, verdeutlicht es sich also die gegenwärtige Situation aus den Texten der jüdischen Tradition. So versteht Paulus den Widerspruch und die verweigerte Zustimmung in Analogie zur Weigerung des Pharaos, in Mose den Gesandten Gottes zu erkennen (vgl. Röm 11,25 mit Röm 9,18).

Hier zeigt sich eine Paradoxie, die sich in mehrere Aspekte entfaltet:
Obwohl das Christentum von seiner Schriftauslegung überzeugt war, behielt es im Blick, dass das Judentum dieselben Texte anders las und verstand. Aber es versuchte, diesen Widerspruch mit Mitteln zu bewältigen, die gerade auf einem Konsens mit dem Judentum beruhten. Und wo die Synagoge erst durch das Textverständnis der christlichen Gemeinden zur Identifikation eines eigenen verbindlichen Kanons fand, hat das Judentum sich an dem, was es selbst für Abweichung und Missverständnis erklärte, auf tiefgreifende Weise selber weiterentwickelt. So bleiben Christen und Juden noch im Widerspruch beieinander.

Die Kirche hat über Jahrhunderte die Last ausbleibender Zustimmung auf die Unwilligkeit der Juden geschoben; sie nimmt heute den Umstand ernst, dass es abweichende Urteile und alternative Lesarten gibt. Sie fasst dies in der Metapher eines doppelten Ausgangs der (gemeinsamen) Schriftensammlung zusammen. Sie selbst begreift die neu- und die alttestamentlichen Texte in wechselseitiger Bezogenheit und gegenseitiger Verdeutlichung. Aber am Widerspruch des Judentums lernt sie, dass die traditionellen Schemata von Verheißung und Erfüllung, von Ankündigung und Vollzug, von Urbild und Abbild eine Eindeutigkeit unterstellen, die dem Glauben überall sonst verwehrt ist. Dass das Judentum sein Verständnis dieser Texte im Horizont von rabbinischer Literatur und anderen Auslegungen weiterentwickelt, das führt der Kirche die Strittigkeit ihres Verständnisses des Wortes Gottes vor Augen und bekräftigt den Weg einer wissenschaftlichen Auslegung, die die Texte vor ihrer Vereinnahmung durch gegenwärtige Interessen schützt.

Die Paradoxie, dass dieselben Texte kontrovers ausgelegt werden und Juden und Christen im Widerspruch zueinander ihre je eigene Identität finden, lässt sich nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass die Kirche Gottes Heilsgeschichte auf sich selbst zulaufen sieht und »Israel« der Unheilsgeschichte überlässt. Die Behauptung, die Erwählung Israels diene im Grunde allein dem Zustandekommen eines Neuen Bundes, der sich in der pfingstlichen Kirche realisiert, bzw. das Volk Israel sei wegen Nichtanerkennung dieser Erfüllung von Gott verworfen, spielt mit Vorstellungen einer Ersetzung des Volkes Israels durch die christliche Kirche. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat diese Tradition, gemeinsam mit den protestantischen Kirchen Europas (»Kirche und Israel« der Leuenberger Kirchengemeinschaft, 2001) sowie in ihren Studien »Christen und Juden« (I—III, 1975—2000) aufgearbeitet und korrigiert. Solche Denkformen erregen angesichts der Erfahrung mit dem Antisemitismus zu Recht Verdacht und widersprechen vor allem auch dem, was die Kirche von der Treue Gottes zu lehren hat. Die christliche Kirche ist also aus Gründen ihres eigenen Verständnisses Gottes und seiner Verheißung um die Erneuerung ihres Verhältnisses zum Judentum bemüht.

Eine entsprechende innere Beziehung von Judentum und Christentum zeigt sich auch im Gottesverständnis. Wenn Christinnen und Christen an Gott den Schöpfer glauben, der sich von seiner Welt nicht abwendet, sondern in ihr die Herrschaft des Rechts und des Friedens aufrichtet, dann vertrauen sie auf die Gegenwart Gottes, wie sie ihnen im Juden Jesus von Nazareth deutlich und erkennbar wurde. Das gilt für das, was Jesus lehrt und vertritt, genauso wie für die Art und Weise, wie er als der Gekreuzigte und Auferstandene von seiner Gemeinde erinnert wird. Insofern wurzelt der christliche Glaube im jüdi- sehen Gottesverständnis — auch wenn er in Jesus den Christus und folglich im Sohn den Vater, im Vater den Sohn erkennt und darin Wege geht, die vom Judentum abgelehnt werden. Mag sich das Christentum durch dieses Christusbekenntnis vom Judentum unterscheiden, so ist doch deutlich, dass es keinen anderen Gott in Jesus von Nazareth zur Welt kommen sieht als eben den Schöpfer, den es mit Israel als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs bezeugt und als Vollender der Welt glaubt. Ohne Gottes Geschichte mit Israel kein Christentum. Aber ohne die Geschichte Jesu, ohne sein einzigartiges Vertrauen auf den Vater, seine Verkündigung der Nähe Gottes, seine Passion und seine Auferstehung von den Toten auch kein christlicher Glaube an die Verlässlichkeit der Zusagen Gottes. Dass Gott treu ist, wird Christinnen und Christen also in der Geschichte Jesu glaubwürdig.

Gerade weil ihnen Gottes Wort auf diese Weise glaubwürdig geworden ist, bezeugen sie auch die bleibende Erwählung Israels. Freilich: Wer Gott in dem ohnmächtigen, vom Fluch der Gottesferne getroffenen Gekreuzigten erkennt, kann einen letzten Unterschied zwischen Juden und Christen, zwischen Menschen innerhalb und außerhalb des Bundes Gottes, nicht mehr machen. Die Versöhnung des Menschen durch Gott in Christus widerspricht mit Gal 3,28 Grenzziehungen zwischen Beschnittenen und Unbeschnittenen, zwischen Torafrömmigkeit und griechisch geprägter Sittlichkeit, aber auch allen theologisch verbrämten Ausgrenzungen zwischen den Menschen in Israel und Palästina. So führt der Glaube an den Vater Jesu Christi zur Überzeugung von der bleibenden Erwählung Israels und zugleich zu der Einsicht, dass Gott der Gott aller Menschen ist. Darin liegt eine weitere Seite der Paradoxie, die an der besonderen Nähe auch die Differenz verdeutlicht, die uns für das Recht des Staates Israel eintreten lässt, mit allen seinen Bürgerinnen und Bürgern in Frieden und Sicherheit innerhalb der eigenen Grenzen zu leben, aber ausschließt, uns theologische Deutungen dieses Rechts anzueignen, die es aus der Väterverheißung oder einer Heiligkeit des Landes direkt ableiten wollen.

Die besondere Beziehung zwischen Kirche und Israel, zwischen Christentum und Judentum prägt auch unser Verständnis von der Arbeit der Erinnerung. Die Evangelische Kirche in Deutschland kann sich ihre unaufgebbare Verwurzelung in den Texten des Alten Testamentes nicht verdeutlichen, ohne sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass jede Verweigerung des Rechts des anderen, jede Herabsetzung fremden Glaubens zerstörerisch und tödlich wirken kann. Was als Unfähigkeit zur religiösen Toleranz innerhalb der christlichen und auch der re- formatorischen Theologie begann, mündete in Exklusion des anderen, in Pogromen, Boykotten, Entrechtlichungen und schließlich in der Shoah. Diese Geschichte zu erinnern und sie mit der Sorgfalt historisch differenzierender Betrachtung zu rekonstruieren, das ist unverzichtbar und bleibt der kirchlichen Bildungsarbeit und der wissenschaftlichen Theologie in besonderer Weise aufgegeben. Von dieser Aufgabe können wir uns weder durch die Einsicht in die Unzulänglichkeit einfacher historischer Herleitung entlasten noch lässt sie sich auf dem Weg des Historismus allein hinreichend erfüllen.

Im Bewusstsein für ihre eigene Geschichte, für den manifesten und den latenten christlichen Antijudaismus kann die Evangelische Kirche in Deutschland ihr Verhältnis zum Judentum nicht als schlichten Anwendungsfall der allgemeinen Anerkennung betrachten und der eigenen Einstellung zum religiösen Pluralismus unterordnen. Sie ist vielmehr bestimmt von einer Erinnerungsarbeit, die sie in den zurückliegenden Jahrzehnten spät, aber mit Nachdruck in theologischen Erklärungen, im Engagement von Gemeinden, Gesprächskreisen und Akademien begonnen hat. Zu ihr fordert sie auch zukünftige Generationen auf. Es ist im Blick auf den Stellenwert dieser Arbeit der Erinnerung deutlich, dass das Christentum dem religiösen Sinn und der theologischen Wachsamkeit des Judentums auch heute Wesentliches verdankt und sich selbst nicht mehr verstünde, wenn es diese Wurzeln in Misskredit bringen wollte.

Der christliche Glaube lebt aus Wurzeln, die ihn mit dem Judentum verbinden. Er entfaltet die Überzeugung von der Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth und unterscheidet sich darin vom Judentum. Wie viel er mit diesem gemeinsam hat, wird erkennbar, wo immer christliche Gemeinden ein gastfreundliches, offenes und der Geschichte bewusstes Verhältnis zur jüdischen Gemeinde vor Ort aufbauen und in dieser den Ursprung auch des christlichen Glaubens erkennen. Beschneidung und Taufe, Achtzehnbittengebet und Vaterunser, Chanukka und Weihnachten — in solchen Verwandtschaften zeigt sich eine Zusammengehörigkeit, die darauf verzichten kann, dem anderen die eigene Grundüberzeugung aufzudrängen.

Denn gerade die Paradoxien wechselseitiger Wahrnehmung sind Ausdruck einer Nähe, die Zusammengehörigkeit und Abstand miteinander verbindet. Insofern ist das Verhältnis zum Judentum für die christliche Kirche eine ureigenste Angelegenheit, von der aus sie die Situation des religiösen Pluralismus insgesamt bewertet und versteht. Dass Christinnen und Christen auf die jüdischen Voraussetzungen und Wurzeln, ohne die es ihren eigenen Glauben nicht gäbe, anders antworten, als es sich Jüdinnen und Juden nahelegt, zeigt Grenzen der Verständigung an, mit denen man nicht nur rechnen muss, sondern in denen man die Endlichkeit eigener Einsicht erkennen kann. Denn wenn schon im Verhältnis zu den eigenen Wurzeln dem einen als zwingend und unhinter- gehbar erscheint, was für den anderen nicht vertretbar ist, wird auch das Zusammenleben mit Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften nicht nur vom Konsens, sondern gleich-ursprünglich vom Bewusstsein der Differenz geprägt sein. Die Feststellung, dass es konstitutive Differenzen zwischen den Religionen gibt, erlaubt kein diskriminierendes Urteil über den anderen. Darum freuen wir uns über jede Entwicklung eines gemeinsamen Sinnes für das, worin wir uns unterscheiden.

Schluss: Aufgaben einer Theologie der Religionen

Es bleibt eine zentrale Herausforderung, welche Wege die Kirche im Horizont ihres Verständnisses der Heiligen Schrift und in gegenwärtiger Verantwortung ihrer reformatorischen Bekenntnisse im Dialog der Religionen einschlägt. In der evangelischen Theologie gibt es unterschiedliche Modelle, die auf sie zu antworten versuchen. Ihre Konkurrenz ist ein Hinweis auf die Dringlichkeit der Aufgaben, die sich stellen, und oft auch ein Ausdruck der konkreten Dialogerfahrungen, die in eine Theologie der Religion oder in eine interreligiöse Hermeneutik eingehen. Dass die Alternativen bereits so vollständig entfaltet wären, dass die Kirche sich auf ein bestimmtes Modell festlegen könnte, wird niemand behaupten oder den Gemeinden und kirchlich Verantwortlichen ansinnen wollen.

Deutlich ist aber, dass die Bedeutung der Religionen in einer pluralistischen Gesellschaft entscheidend davon abhängt, ob sie eine öffentlich verantwortete Theologie entwickeln, die Verständigungsversuche und Übersetzungen zwischen den Konfessionen, Religionen und unterschiedlichen Weltanschauungen ermöglicht. Eingeladen zu diesem Dialog sind auch Bürgerinnen und Bürger, die selbst zu keiner Religionsgemeinschaft gehören, denen Glaubenserfahrungen fremd geblieben sind, die aber mit den Kirchen eine gemeinsame Verantwortung für den Frieden zwischen den Religionen und für die Zukunft des Gemeinwesens übernehmen wollen. Theologie und Kirche stehen zu der Verantwortung der Religionen. Sie kann nicht aus der Vogelperspektive einer über allen Standpunkten schwebenden Religionswissenschaft moderiert und gestaltet werden, sondern lebt von der Explikation des eigenen Glaubens, der Darlegung seiner Gründe und ethischen Überzeugungen. Deshalb wurden hier in Umrissen die Aufgaben einer Theologie der Religionen skizziert, wie sie sich der evangelischen Kirche gegenwärtig darstellen. Damit wollen wir Christinnen und Christen zu einer Offenheit ermutigen, die der Freiheit eines Christenmenschen entspricht. Von falschen Alternativen und Beschränkungen muss sich die Kirche dabei nicht leiten lassen. Verpflichtet ist sie nicht einem bestimmten religionstheologischen Modell, sondern dem sie gründenden Evangelium.

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