Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive

Ein Grundlagentext des Rates der EKD. Hg. Gütersloher Verlagshaus 2015, ISBN 978-3-579-05978-5

Geleitwort

»Lieber Vielfalt als Einfalt« — mit diesem Slogan demonstrieren seit Monaten sehr viele Menschen in Deutschland gegen Fremdenfeindlichkeit. Vielfalt ist Reichtum und Risiko, weil die wachsende Zahl unterschiedlicher Werte, Lebensformen und Glaubenshaltungen auch Ängste freisetzen, die eine Realität sind, gleich ob man sie teilt oder nicht. Gegen solche Ängste helfen aber nur Aufklärung und Dialog, Eintreten für Minderheiten und Stärkung der demokratischen Kultur. Als Konsequenz einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung, in der meine Freiheit auch die des anderen ist, ist jede menschenrechtsaffine Glaubenshaltung willkommen und zu begrüßen.

Der vorliegende Grundlagentext erläutert diese Haltung des christlichen Glaubens in evangelischer Perspektive und schreibt die theologischen Leitlinien aus dem Jahr 2003 (»Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen«. EKD-Texte 77) in Richtung einer Theorie des Pluralismus fort. Er baut auf der Einsicht auf, dass eine neutrale Vergleichsposition über allen Religionen nicht möglich ist. Ein positives Verständnis religiöser Vielfalt wird gerade dadurch ermöglicht, dass wir leidenschaftlich für unsere eigene Glaubensüberzeugung einstehen und die damit verbundene innere Freiheit spüren, anstatt unsere Identität aus der Abgrenzung zu gewinnen. Die Gewissheit im Glauben an Christus schließt auch das Bewusstsein dafür ein, dass Gottes Möglichkeiten, sich den Menschen bekannt zu machen, keine Grenzen haben. Damit ist der Weg gewiesen von einer bloßen Duldung anderer Glaubensüberzeugungen zu einer von Wertschätzung geprägten Toleranz.

Aus dieser Überzeugung heraus bejaht die evangelische Kirche die vom Grundgesetz verbürgte Freiheitsordnung. Das Grundgesetz weist dem Staat in Religionsfragen eine neutrale Rolle zu. Gleichzeitig holt es die Religionsgemeinschaften in den öffentlichen Raum und lädt sie ein zu gemeinsamer Verantwortung. Als Kirche ermutigen wir alle, die das Friedenspotenzial ihrer Religion in die demokratische Zivilgesellschaft einbringen wollen. Dabei gewinnt unser Protest gegen Verletzungen der Religionsfreiheit in vielen Regionen unserer Welt dadurch Nachdruck, dass wir als Christen mit anderen Religionen anders umgehen.

Unterschiede zwischen den Religionen werden nicht kleingeredet. Christlicher Glaube respektiert die Fremdheit des anderen; zugleich ist er sich seiner eigenen Besonderheit bewusst. Er kann auf das Bekenntnis zu Christus nicht verzichten, aber es wäre falsch, daraus eine prinzipielle Abwertung anderer Religionen abzuleiten. Es bedarf einer Haltung, die von wechselseitigem Hinhören und Wertschätzung geprägt ist. Das schärft das Gespür für eine Nähe, die Zusammengehörigkeit und das Bewusstsein der Unterschiedlichkeit miteinander zu verbinden weiß.

Das Zusammenleben mit Angehörigen anderer Religionen prägt unseren Alltag. Neben einer Haltung der Offenheit brauchen wir Verfahrensregeln für das interreligiöse Handeln, z.B. wenn ein Christ eine Muslima heiratet oder wenn eine Christin zu einer religiösen Familienfeier eines nichtchristlichen Kollegen eingeladen ist.

»Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt« ist keinem bestimmten religionstheologischen Modell verpflichtet. Religionstheologische Fragen stellen sich jedoch mit besonderer Schärfe dort, wo sich Religionen besonders nahe stehen. Das gilt z.B. für die drei großen monotheistischen Religionen im Blick auf ihren Glauben an Gott. In jeder der drei Religionen ist er in anderer Weise ausgeprägt. Christentum, Judentum und Islam unterscheiden sich gerade in dem, was sie verbindet. Umgekehrt gilt es, Gemeinsamkeiten auch dort zu suchen, wo wir zunächst die Unterschiede und Gegensätze sehen. Der Abschnitt über das Verhältnis zum Islam führt dies exemplarisch aus. Das Judentum hingegen ist für das Christentum nicht einfach eine Religion neben anderen. Ohne die Verbundenheit mit dem jüdischen Volk gäbe es keinen christlichen Glauben. Insofern unterscheidet sich das Verhältnis von Christen und Juden von dem zu anderen Religionen und bedarf einer eigenen Darstellung.

Der vorliegende Text wurde von der Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche in Deutschland unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Christoph Markschies erarbeitet. Der Rat hat sich diesen Text mit großer Zustimmung zu Eigen gemacht und dankt der Kammer herzlich für ihre Arbeit.

»Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt« setzt die Reihe der Grundlagentexte zum Reformationsjubiläum (Rechtfertigung und Freiheit, 2014) und zur Kreuzestheologie (Für uns gestorben, 2015) fort. Wie diese versteht er sich als Impuls zum Gespräch und zur Verständigung über die geistlichen und theologischen Grundlagen der evangelischen Kirche auf dem Weg zum Jubiläumsjahr 2017. Die Neu- bzw. Wiederentdeckung der christlichen Freiheit steht im Zentrum unseres reformatorischen Erbes. Es gilt, den Freiheitssinn des Evangeliums in ökumenischer Verbundenheit und gesellschaftlicher Verantwortung für heute zu profilieren. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland wünscht deshalb dieser Schrift eine große Verbreitung und intensive Aufnahme.

Hannover, im Juni 2015

Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

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