Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive

Ein Grundlagentext des Rates der EKD. Hg. Gütersloher Verlagshaus 2015, ISBN 978-3-579-05978-5

III. Vielfalt der Religionen — Prüfung und Bewährung der Religionsfreiheit

Religionsfreiheit als allgemeines Grund- und Menschenrecht

Der Schutz der Religionsfreiheit gehört zu den gemeinsamen europäischen Grundüberzeugungen. Das Grundgesetz (Art. 4 Abs. 1 und 2) bekennt sich zu ihr ebenso wie die Europäische Menschenrechtskonvention (Art. 9 Abs. 1 und 2) und die Charta der Europäischen Grundrechte (Art. 10 Abs. 1). Die Religionsfreiheit ist in ihrem Schutzgehalt und in ihren Grenzen dabei stets allgemein gefasst und gilt für alle Religionen in gleicher Weise. Sie unterscheidet nicht nach gesellschaftlichem Nutzen, Tradition oder Mehrheitsfähigkeit, sondern steht in der vornehmen Tradition der Freiheitsrechte, die gerade Minderheiten und abweichende Ansichten schützen wollen. Auch fremde, neue Glaubensformen können sich so mit vollem Recht wie eine angestammte Mehrheitsreligion auf die Religionsfreiheit berufen, ebenso auf das Recht, nicht oder anders zu glauben, als »negative Religionsfreiheit«. Es liegt daher im Kern der Religionsfreiheit begründet, dass sie Vielfalt nicht nur bewahrt, sondern vielfach befördert. Religionsfreiheit ist immer und notwendig gerade auch Freiheit des anders Glaubenden.

Gestützt auf die evangelische Einsicht, dass Glaubensgewissheit und Freiheit des Glaubens zusammengehören, bejaht die evangelische Kirche diese Rechtsidee einer allgemeinen Religionsfreiheit. An ihr gilt es in erneuerter Weise und mit geschärftem Blick für die unterschiedlichen Problemlagen festzuhalten, gerade wenn die Gesellschaft religiös und kulturell heterogener wird. In Deutschland und Europa wird die individuelle Glaubens- und Bekenntnisfreiheit durch die staatliche Rechtsordnung wirksam geschützt. Zugleich aber gilt es stets, denen beizustehen, die sich zu einer Religion bekennen oder von ihr lossagen wollen, um ihr Leben in Selbstbestimmung zu führen. Die evangelische Kirche unterstützt staatliches Recht, wo es diesen Grundsatz durchsetzt, auch dort, wo es damit religiösen oder familiären Traditionen entgegentreten muss, insbesondere in Hinblick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter. Und sie fordert diesen gleichen Schutz für Christinnen und Christen in den Regionen der Welt, wo sie wegen ihres Glaubens verfolgt werden. Die Tatsache, dass das liberale Verständnis der allgemeinen, gleichen Religionsfreiheit nicht weltweit geachtet wird, Christenmenschen um Heimat, Sicherheit und um ihr Leben fürchten müssen, fordert den entschiedenen und in jeder Hinsicht deutlichen Einsatz für eine allgemeine Geltung religiöser Freiheit.

Die Vielfalt von Bekenntnis und Religionsausübung

Glaube zielt auf Gemeinschaft. Darum ist nicht nur die Glaubensfreiheit des Einzelnen, sondern auch das gemeinsame Bekenntnis und die öffentliche Religionsausübung sowie das religiöse Selbstverwaltungsrecht rechtlich geschützt (Art. 4 sowie Art. 140 Grundgesetz in Verbindung mit Art. 137 Weimarer Reichsverfassung). Auch diese Gewährleistung zielt auf den Schutz der Verschiedenheit, und auch hier gilt: Innere Kraft kann die evangelische Kirche nicht durch die Begrenzung fremder Freiheit oder durch die Verteidigung von eigenen Vorrechten gewinnen. Deshalb ist es unverzichtbar, dass die religiösen Rechte des Judentums geachtet werden, auch dort, wo sie — wie etwa bei der im Alten Testament bezeugten Beschneidung von Jungen oder dem Schächten — Ausdrucksformen suchen, die sich das Christentum nicht aneignet, sondern die es ausdrücklich verabschiedet hat. Aber auch andere Religionen, insbesondere der Islam, müssen ihre Glaubensüberzeugungen aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus entfalten können. Christlicher Glaube und christliches Leben bilden dafür keinen Maßstab eines »Normalfalls«.

Zugleich gilt aber auch, dass die gemeinsame Religionsausübung nicht die Freiheit des Einzelnen verletzen darf. Religionsgemeinschaften können nicht über die Menschen verfügen, im Namen der Religion darf Schutzbefohlenen kein Schaden zugefügt werden. Deswegen sind z.B. genitale Verstümmelungen von Mädchen ebenso wie der Ausschluss von Kindern oder Frauen von Bildung oder gesellschaftlicher Teilhabe religiös nicht zu rechtfertigen. Wo Religion missbraucht wird, um Menschen zu unterwerfen, ihre Freiheit zu bagatellisieren oder zur Feindschaft zu erziehen, darf und muss die öffentliche Ordnung dem entgegentreten, hier bei uns wie sonstwo auf der Welt.

Deshalb ist es gut, wenn andere Religionen ihre Rechte im Dialog vertreten und weiterentwickeln und sich der Auseinandersetzung und Kritik in der offenen Gesellschaft stellen — wie es die evangelische Kirche in einem langgestreckten historischen Prozess gelernt hat. Eine hermetische Verschließung »vor der Welt« schützt religiöse Freiheit nicht, sie beschädigt sie.

Öffentliches Wirken im neutralen Staat

Christinnen und Christen wollen ihren Glauben nicht allein bekennen, sondern in diesem Glauben auch öffentlich wirken. Den Religionsgemeinschaften ist in Deutschland ein breites öffentliches Wirken ermöglicht. Vor allem im Bereich der Bildung und im diakonischen Wirken sind Christen und ihre Kirchen ein tragender Eckpfeiler des Sozialstaats, in staatlichen ebenso wie in eigenen Einrichtungen. So nehmen kirchlich getragene Kindertagesstätten und Schulen einen wichtigen Platz ein, um die gesetzlich vorgesehenen Bildungsangebote zu ermöglichen und so den Staat von eigener Tätigkeit zu entlasten (Art. 7 Abs. 4 und 5 des Grundgesetzes); in der öffentlichen Schule hat der Glaube nicht nur im bekenntnisgebundenen Religionsunterricht (Art. 7 Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes), sondern auch als prägendes Element des Schullebens seinen Platz. Gleiches gilt für Diakonie und Caritas, in der die kirchlich getragenen Einrichtungen starke Partner für die öffentlichen Versorgungsaufgaben sind. Voraussetzung und tragendes Fundament dieses breiten Tätigkeitsspektrums ist es, dass der deutsche Verfassungsstaat den Grundsatz der Religionsfreiheit in religionsfeundlicher Offenheit und Verbundenheit ausgestaltet hat. So konnten diese Räume der kirchlichen Mitwirkung im öffentlichen Raum zum allseitigen Vorteil bewahrt, transformiert oder neu eingerichtet werden.

Die religiöse Pluralisierung schafft auch im Bereich des öffentlichen Wirkens neue Bedingungen und Herausforderungen. Für die Frage, ob und wie weit auch andere Religionsgemeinschaften im öffentlichen Raum Aufgaben übernehmen können, ist zunächst daran zu erinnern, dass durch das Grundgesetz die Rechtsordnung in Deutschland — anders als in anderen Verfassungsstaaten — nach dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität verfasst ist (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung: »Es besteht keine Staatskirche«). Das Grundgesetz will »Heimstatt aller Bürger« sein. Die religionsfreundliche Zusage des Grundgesetzes für ein breites öffentliches Wirken steht daher unter der Voraussetzung, dass die entsprechenden Gewährleistungen dem Grunde nach allen Religionen in gleicher Weise zukommen können.

Die Evangelische Kirche in Deutschland bejaht den religiös neutralen Staat, der das gleiche Recht der Bürger zum Ausgangspunkt seiner Rechtsordnung gemacht hat. In der grundständigen Differenz von Staat und Kirche ist es richtig, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung der staatlichen Rechtsordnung das Maß vorgibt, das sie gegenüber den Religionsgemeinschaften einzuhalten hat. Differenzierungen in der Rechtsstellung sind begründungspflichtig. Der Grundsatz der Gleichbehandlung der Religionen führt dabei nicht zu einer nivellierenden Gleichheit: Die evangelische Kirche weiß sich dem europäischen Erbe und der Rechtsidee des freiheitlichen Verfassungsstaats in besonderer Weise verbunden, deshalb ist die Zusammenarbeit zwischen Staat und christlichen Kirchen vielfach vertraut und vertrauensvoll. Aus dieser Erfahrung heraus unterstützt es die Kirche, dass der freiheitliche Staat das Angebot der religionsfreundlichen Zusammenarbeit auch an die anderen Religionen richtet. Deshalb ist die evangelische Kirche besonders dankbar, dass jüdisches Leben in Deutschland in immer reicherer Form Platz findet und hierbei auch verlässliche Partner im staatlichen Bereich hat, etwa durch den Abschluss von Staatsverträgen. Auch der Islam als dritte Großreligion muss sich in Deutschland frei entfalten können, sei es durch den Bau von Moscheen wie durch die Teilhabe am öffentlichen Leben, insbesondere im Bildungsbereich. Alle Beteiligten sollten den Grundsatz der Gleichbehandlung nicht an formalisierten Voraussetzungen scheitern lassen, die ursprünglich in Bezug auf die innere Verfasstheit der großen christlichen Kirchen festgelegt wurden, etwa beim Religionsunterricht oder der Organisation als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Entscheidend ist — jenseits der gewohnten Formensprache — die Einhaltung von Grundstandards der gegenseitigen Verlässlichkeit.

Die neue religiöse Pluralität hat zu einer Zunahme an Rechtsstreitigkeiten geführt. Der Bau von Moscheen, das Kopftuch der Lehrerin, der Anspruch auf die Beachtung religiöser Gebräuche von Schülern im Sportunterricht oder bei der Befreiung von der Schulpflicht (»homeschooling«) sind dafür Beispiele. Insoweit ist daran zu erinnern, dass in vielen Fällen auch die Position der Kirchen, wie sie sich heute in Gesetzen und Staatskirchenverträgen niederschlägt, vor Gerichten durchgesetzt werden musste. Das Streiten für die eigene Religion ist im Verfassungsstaat ein nicht zu bemäkelndes Recht; und der Streit um Grenzziehungen wächst in einer pluralisierten Gesellschaft notwendig an, ohne dass hierin schon ein grundsätzliches Problem liegen muss. Die Verteidigung ihrer Rechte nimmt die evangelische Kirche für sich in Anspruch, wo sie es für notwendig hält; für andere Religionsgemeinschaften kann nichts anderes gelten. Zugleich bleibt es in der beschriebenen Weise Sache des Staates, »Freiheitsvoraussetzungen« zu formulieren und einzufordern.

Perspektiven des Religionsverfassungsrechts im europäischen und internationalen Kontext

Die europäische Integration hat die traditionelle, nationalstaatliche Ordnung des Staatskirchenrechts neu dynamisiert. Ganz unterschiedliche Grundüberzeugungen finden nun in Europa zusammen, vom Staatskirchentum über Traditionen der europäischen Aufklärung bis hin zum dezidierten Laizismus. Aber auch andere Religionen wie vor allem das Judentum und auch der Islam tragen seit dem Mittelalter in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlicher regionaler Ausprägung ihren Anteil zur gemeinsamen europäischen Identität bei. Die Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften ist schon in der Europäischen Union keineswegs einheitlich verfasst. Unterschiede zeigen sich dabei nicht in erster Linie im Schutz von Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, sondern vor allem in Bezug auf das öffentliche Wirken der Religionsgemeinschaften — und damit auch für die Ordnungen des Zusammenlebens der Religionen.

Das Recht der Europäischen Union würde verkürzt und missverstanden, wenn es auf die Durchsetzung von Marktfreiheiten reduziert würde. In dem enger zusammenwachsenden Europa, das in immer größeren Bereichen Entscheidungskompetenzen übertragen bekommen hat, ist zugleich die Einsicht in die Verschiedenartigkeit der Rechtskulturen gewachsen. Der Vertrag von Lissabon hat mit dem Bekenntnis zur Achtung des Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten (Art. 17 AEUV) diese neue Stufe der Integration für den Bereich des Religionsverfassungsrechts ausdrücklich aufgenommen. Zugleich sehen wir, dass das europäische Recht neue Begründungslasten für die Reichweite religiöser Selbstbestimmung schafft, etwa wenn es um besondere Rechte als Dienstgeber geht, die mit den Grundfreiheiten und dem besonderen Diskriminierungsschutz der europäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgeglichen werden müssen. Wir stellen uns dieser Aufgabe, weil wir in ihr eine Veränderung des Modus, nicht der Substanz kirchlicher Freiheit sehen.

Die Evangelische Kirche in Deutschland wirbt dafür, das Verständnis des Grundgesetzes von einer religionsfreundlichen Offenheit des Gemeinwesens zu erhalten und als Modell auch im europäischen und internationalen Kontext zu nutzen. Wenn volle Religionsfreiheit geachtet wird, und diese Freiheit auch für den andersgläubigen Mitbürger geschützt ist, kann das Gemeinwesen von den Religionsgemeinschaften in seiner Mitte vielfältig profitieren. Nicht nur die Beziehung der Religionsgemeinschaften zum supranational vernetzten Staat und seinen Institutionen, sondern auch das Zusammenleben mit den anderen Religionen und Weltanschauungen kann in diesem Bewusstsein von Partnerschaft weiterentwickelt werden.

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